Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Über­gänge in Zeit und Raum

Im Jahr 2009 sind in Russ­land zwei Bücher von Igor’ Klech erschienen: Eine Samm­lung von geo­poe­ti­schen Kurz­er­zäh­lungen, Essays und Skizzen unter dem Titel Migracii (Migra­tionen) und die Chroniki 1999 goda (Chro­niken des Jahres 1999). Klech selbst bezeichnet die Chro­niken als sein ‘Opus Magnum’. Der Länge nach dürfte das stimmen, es ist einer seiner umfang­reichsten Texte, der Bedeu­tung nach vor allem einer der per­sön­lichsten und für sein bis­he­riges Werk unge­wöhn­lichsten: Ein Para­de­bei­spiel für Bachtins Chro­no­topos der Schwelle, ein Kri­sen­text in frag­men­tierter, aber episch aus­ho­lender Form.

Klechs größter bio­gra­fi­scher Über­tritt fand mit seiner Über­sied­lung von L’viv nach Moskau Anfang der 1990er Jahre statt. In L’viv hat Igor’ Klech, geb. 1952 in der Ukraine, den größten Teil seines Lebens ver­bracht, hat dort rus­si­sche Lite­ratur stu­diert und als Glas­maler gear­beitet. Obwohl er seit den 1970er Jahren schreibt, können seine Texte erst seit dem Zer­fall der Sowjet­union erscheinen. Seit den 1990er Jahren hat er diverse Aus­zeich­nungen und Rei­se­sti­pen­dien auch im deutsch­spra­chigen Raum erhalten.

In den Chro­niken bewegt sich  Klech zwi­schen Moskau und der West­ukraine hin und her. Das Reisen ver­schafft dem Text zwar ein glie­derndes Rück­grat, und der Erzähler reflek­tiert durchaus über den Zustand beider Staaten; doch eigent­lich steht die innere Reise im Vor­der­grund. In Erin­ne­rungen, Kon­tem­pla­tionen und Berichten springt Klech zwi­schen dem sowje­ti­schen und einem post­so­wje­ti­schen Leben, Gali­zien und Moskau sowie zwi­schen der Geschichte der Familie, in die der Ich-Erzähler hin­ein­ge­boren wurde, und der­je­nigen, die er selbst gegründet hat.

Klech_illustration1Dass Igor’ Klech Essayist ist, äußert sich kon­ti­nu­ier­lich. Die Chro­niken ließen sich gut als ein durch­kom­po­nierter Lang-Essay oder als Mon­tage von Ein­zel­skizzen bezeichnen, wenn diese Hom­mage an den Über­gangs­zu­stand nicht mit dokumental’naja povest’ (doku­men­ta­ri­sche Erzäh­lung) unter­ti­telt wäre. Werden hier Doku­men­tionen anein­an­der­ge­reiht oder wird primär eine, wenn auch dif­fe­ren­ziert alle­go­ri­sierte, Geschichte erzählt? Zum Glück ent­scheidet sich der Text nicht und hält dadurch die Grund­span­nung zwi­schen indi­vi­du­ellen Mikro­ge­schichten und Rück­schlüssen auf eine ukrai­nisch-rus­si­sche Makro­ge­schichte aufrecht.
Vor allem die repro­du­zierten Auf­zeich­nungen seiner Ver­wandten fransen den Erzähl­ver­lauf aus, rela­ti­vieren seine Dra­ma­turgie und geben ver­blüf­fende Ein­blicke in eine sowje­ti­sche Fami­li­en­ge­schichte. Ein Aus­schnitt aus dem Arbeits­heft der Groß­mutter, das sie 1955 über die „Arbeit im Garten und Haus“ im ost­ukrai­ni­schen Sla­v­jansk bis zu ihrem Tod führte, listet unter der Über­schrift Anlei­tung zur Her­stel­lung des Gar­tens Eden eine beinah idyl­li­sche Akku­mu­la­tion sowje­ti­scher Wohl­stands­at­tri­bute auf. Dieser Para­dies­kon­struk­tion steht das Tage­buch der Tante im ‘Genre der alter­na­tiven Geschichte’ ent­gegen: Es regis­triert, wie sie als junge Mutter den Zweiten Welt­krieg überlebte.
Das Pro­jekt der ‘kleinen Geschichten’, das zufäl­lige Auf­zeichnen von Stimmen, die Beto­nung des Authen­ti­schen und das schein­bare Zurück­treten des Erzäh­lers erin­nern an andere Bei­spiele doku­men­ta­ri­scher Prosa, an fik­tio­nale ‘Mate­ri­al­samm­lungen’ oder lite­ra­ri­sche ‘oral history’. Im west­ukrai­ni­schen Kon­text wären da Taras Prochas’kos Daraus lassen sich ein paar Erzäh­lungen machen (dt. 2009) und im rus­si­schen Natal’ja Ključarėvas End­sta­tion Russ­land (dt. 2010) zu nennen. Der Titel der Chro­niken lässt – auch wegen des Gen­re­mixes – sei­ner­seits an die alt­sla­wi­sche Tra­di­tion der Chro­niken denken und das Ver­fahren der ‘Inven­ta­ri­sie­rung’ an die deut­sche Kri­sen­li­te­ratur des Kahl­schlags. Was die Beson­der­heit von Klechs Text­format aus­macht, ist, unge­achtet der latenten Erwar­tung, das Fehlen eines Heils­plans, die mul­ti­per­spek­ti­vi­sche Plu­ra­lität und die prä­sente, sich immer wieder neu posi­tio­nie­rende Erzählerfigur.

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Der Ich-Erzähler nimmt sich vor, einen Bericht abzu­lie­fern – er berichtet auch, jedoch demons­trativ ohne die Ereig­nisse aus­zu­wählen und zu sor­tieren. In einem Schwel­len­jahr, das eine unge­wisse Zukunft mit sich bringt, scheinen alle Vor­fälle glei­cher­maßen aus­sa­ge­kräftig und anti­zi­pa­to­risch, gar sym­bo­lisch zu sein. Er berichtet mit unge­wöhn­li­cher Nüch­tern­heit und ver­gleichs­weise selten ein­ge­setzten rhe­to­ri­schen Kniffen: über das Sterben seiner Mutter, über sein Leben in der West­ukraine, das er auf­ge­geben hat, über sein Leben in Moskau, über seine Glas­ma­ler­kol­legen in L’viv, die sich betrinken und seine Werk­statt voll­pin­keln?, über seine Kol­legen in Moskau, die nach­ein­ander weg­sterben, über die Nach­barn seiner Eltern in der Ukraine oder über die Nach­barn seiner kleinen Mos­kauer Woh­nung. Per­sön­liche Details mit dem Leser zu teilen, scheint hier Teil einer Hal­tung zu sein, die die eigene Bio­gra­phie bereits vor dem Schreiben als eine fin­gierte und his­to­ri­sierte auf­fasst. Klechs fami­liäres Mikro­uni­versum reprä­sen­tiert das post­so­wje­ti­sche Para­digma aus Staats­neu­grün­dungen, Umsied­lungen zwi­schen rus­si­schem und ukrai­ni­schem Ter­ri­to­rium, und dem Auf­bre­chen ehe­mals fami­liär oder staat­lich fest­ge­fügter Beziehungen.
Beson­ders auf­fällig steht die eigene Exis­tenz­angst vor der unmit­tel­baren Zukunft im Vor­der­grund. Ent­blö­ßend, in einem Auf­rich­tig­keits­gestus, der zu stark für eine rein selbst­be­zo­gene Besorgnis und zu schwach für ein begrün­detes poli­ti­sches State­ment ist, äußert der Erzähler seine Bedenken über die innen- und außen­po­li­ti­schen Ent­schei­dungen des Kremls.

Die Beob­ach­tung der Schrift­stel­ler­wer­dung bezieht auch die nach­träg­liche Betrach­tung seiner Schreib­si­tua­tion im Jahr 1999 ein. Er findet zufällig sein Auf­nah­me­gerät mit einer Erzäh­lung eines ver­stor­benen Huzulen, wel­cher offen­sicht­lich in der Erzäh­lung Chutor vo vse­lennoj (Das Gehöft im Weltall ) auf­taucht. Klech lässt außerdem Revue pas­sieren, wie er für die Zeit­schrift GEO mit der Trans­si­bi­ri­schen Eisen­bahn durchs Land gefahren ist, und erlaubt sich in diesem Para­text, seinen dama­ligen Zustand auf der ‘geo­gra­phi­schen Pil­ger­reise’ zu psy­cho­lo­gi­sieren. Die innere Bewe­gung auf der Reise, auf wel­cher er hal­lu­zi­na­to­risch mit seiner Kind­heit in Berüh­rung kommt, bildet ein Glied in einer Kette von klei­neren und grö­ßeren Erschüt­te­rungen, die der Erzähler seis­mo­gra­phiert. Ver­wandte, Bekannte, Freunde kommen bei­nahe oder end­gültig ums Leben, Brände, Anschläge, die Willkür der Polizei stehen unver­mit­telt neben der Willkür des Glücks, eine Prämie für die beste Erzäh­lung des Jahres Psy Poles’ja(Die Hunde von Polesje) zu erhalten.

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Am genau­esten beob­achtet und doku­men­tiert er die Geschichte vom Tod seiner Mutter.  The­ra­peu­tisch könnte man diese Ich-Erzäh­ler­po­si­tion nennen, aber auch all- und bes­ser­wis­send. Die Distanz­suche zum Tod der Mutter schließt Urteile über das eigene ‘Erwach­sen­werden’ ein, sie stellt aber auch eine Art kon­trol­lierten Ver­drän­gungs­pro­zess dar, denn der Nach­ge­sang auf das pro­ble­ma­ti­sche Ver­hältnis des Erzähler-Ichs zur Mutter, aber auch zum Vater und dem Rest der Familie, macht Platz für nost­al­gi­sche, warme und zyni­sche Nekro­loge, Abrech­nungen und Ver­ab­schie­dungen. Die Por­träts der Fami­li­en­mit­glieder glei­chen denen der Schrift­stel­ler­kol­legen, und auch der Dua­lismus zwi­schen den beiden Län­dern, in wel­chen er sich auf­hält, der Rus­si­schen Föde­ra­tion und der unab­hän­gigen Ukraine, hebt sich auf: Auch wenn die Chro­niken Moskau zum Lebens­mit­tel­punkt des Prot­ago­nisten und zum Ent­ste­hungsort des Textes machen, the­ma­ti­sieren sie seine innere Distanz zur rus­si­schen Haupt­stadt auf ähn­liche Weise wie jene zur Ukraine, welche er Anfang der 1990er ver­lassen hat und die er Ende der 1990er wieder besucht. Ihn befremden die Umbe­nen­nungen der Stadt seiner Kind­heit (die er in der frü­heren Erzäh­lung Sve­to­prestav­lenie (Der Jüngste Tag) kon­ser­viert hat, wie die der Pušk­in­straße in die Čor­novil-Straße und der Geburts­klinik in das „Vor­kar­pa­ti­sche Zen­trum für Men­schen­re­pro­duk­tion“ (Prykarpats’kyj centr repro­dukciï lju­dyny). Die Bemer­kungen über L’viv klingen wie ein Nekrolog auf die Stadt, was ein wei­teres Auto­zitat ist, wenn man sich Klechs zum Teil pole­mi­sche L’viv- und Gali­zi­en­es­says vergegenwärtigt.
Wovon der Text sich ein­deutig distan­ziert ist jedoch weniger der Raum (den der Ukraine ver­mischt er in der a‑chronologischen Struktur gera­dezu mit dem rus­si­schen), son­dern die Zeit vor 1999. Dazu gehören auch die ehe­ma­lige Familie und die jungen Men­schen, die in der Ver­gan­gen­heit wie in einem „abge­trennten Zug­wagen“ sitzen geblieben seien.

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Der Erzähler schwankt zwi­schen Selbst­sti­li­sie­rung der eigenen Künst­ler­bio­grafie und Pro­to­kol­lie­rung eines Exis­tenz­kampfs. Diverse Künstler- und Schrift­stel­ler­per­sön­lich­keiten der lite­ra­ri­schen Szene in L’viv und ins­be­son­dere in Moskau ziehen als Neben­fi­guren am Erzähler-Prot­ago­nisten vorbei, der ihnen nicht nur Lob­reden hin­terher wirft. Die Suche nach einem Platz als Schrift­steller im Mos­kauer Intel­lek­tu­el­len­mi­lieu ver­läuft par­allel zum Pro­zess der büro­kra­ti­schen ’natu­ra­li­za­cija’, der alles andere als orga­nisch und rei­bungslos von­stat­ten­geht. Das Aus­wech­seln der ukrai­ni­schen gegen die rus­si­sche Staats­bür­ger­schaft ist eine Neben­front des Haupt­nar­ra­tivs, wel­ches sich offen­sicht­lich um das Erlangen einer end­gül­tigen Unab­hän­gig­keit von fami­liären, sozialen und staat­li­chen Bedin­gungen und dem kon­se­quenten Durch­leben eigener Ent­schei­dungen dreht.

Der Bericht über den Schöp­fungs­pro­zess, das Arbeits­ta­ge­buch und Trink­pro­to­koll ergeben zusammen genommen eine aus­ge­stellte Chronik des eigenen Lebens­kunst­pro­jekts. Der pri­vate Kosmos mag in seiner her­me­ti­schen Wer­te­skala irri­tieren, die Aktua­li­sie­rung der Hoff­nung auf ein neues Russ­land vermag ein Jahr­zehnt nach dem Über­gang ins neue Jahr­tau­send nur ein Schul­ter­zu­cken aus­zu­lösen und die poli­ti­sierten Äuße­rungen wirken mit über­trie­bener Bedeu­tungs­schwere auf­ge­laden. Die letzt­lich mutige Posi­tio­nie­rungs­rhe­torik kann im Sinne eines ver­ant­wor­tungs­vollen Aus­han­delns der indi­vi­du­ellen und im über­tra­genen Sinn natio­nalen Selbst­wer­dung ver­standen werden, und zwar sowohl der ukrai­ni­schen als auch der rus­si­schen – ohne Entweder-Oder.

 

Igor’ Klech: Chroniki 1999 goda. Moskva: NLO, 2009.