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Ich bin auf Andrić wütend, wenn er über muslimische Figuren schreibt

Posted on 30. Januar 2013 by novinki

Interview mit Bilal Memišević, Arabist, Vorsitzender des Gemeindeparlaments und Vorsitzender des Rates der Islamischen Gemeinde, Višegrad

novinki: Sie arbeiten seit Jahren an der Erneuerung des muslimischen Lebens in Višegrad, das Ivo Andrić in seinem Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) verewigte. Wie viele Muslime gibt es überhaupt in der Stadt, wie viele gab es vor dem Krieg?

Bilal Memišević: Laut der letzten Volkszählung vor dem Krieg stellten die Bosniaken – also die Muslime – 64,3% der Bewohner der Gemeinde Višegrad, 33% waren Serben, 4-5% machten die Übrigen aus. Auf dem Gebiet der Gemeinde lebten damals ca. 22.000 Menschen. Heute leben auf diesem Gebiet hingegen – laut einem von mir erstellten Register und den Angaben des Stadtparlaments, denn seit dem Krieg wurde keine Volkszählung mehr durchgeführt – nicht mehr als 12.000 Einwohner, davon 2.000 bis 2.500 bosniakische Rückkehrer. Also 15% bis 16% der Gemeindeeinwohner sind Bosniaken. Wenn es um die Erneuerung des religiösen Lebens geht, so ist hier eine stete Verbesserung zu verzeichnen. Die Lage im Jahr 2000 kann in keiner Weise mit der Situation der letzten zwei bis drei Jahre verglichen werden. Beim Wiederaufbau von sakralen Bauten kam es in letzter Zeit zu keinen größeren Ausschreitungen. Die Menschen begannen miteinander zu kommunizieren, Serben mit Bosniaken, Bosniaken mit Serben. Wenn Sie jetzt einen Spaziergang durch Višegrad machen und einen Blick auf den Markt werfen – heute ist Mittwoch und somit Markttag –, werden Sie feststellen, dass sie zusammen, an denselben Ständen, ihre Waren ausstellen. Hier und da passiert etwas, vor dem Hintergrund aller Geschehnisse der vergangenen zwanzig Jahre kann man aber zufrieden sein.

n.: Die Zahl der Rückkehrer ist aber relativ gering. Warum kehren nicht mehr Menschen zurück?

B.M.: Der Prozess der Rückkehr ist nicht abgeschlossen, er ist weiterhin im Gang. Immer noch sind die zuständigen Institutionen des Staates, des Kantons und der Gemeinde nicht imstande, den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen, die zurückkehren wollen, zu entsprechen. Viele Bürger von Višegrad leben inzwischen in Übersee, eine große Zahl gründete eine neue Existenz in der Föderation, insbesondere in Sarajevo, aber das Interesse für die Rückkehr ist immer noch groß. Wir bemühen uns, für diese Menschen die nötige Infrastruktur aufzubauen. Wir wissen, dass bis Anfang 2012 2000 Menschen zurückgekehrt sind und 847 Familienhäuser wiederaufgebaut wurden. Wenn man berücksichtigt, dass die Rückkehr offiziell 2002 begann, ist das eine recht zufrieden stellende Bilanz. Ich denke, dass das prozentuale Verhältnis von vor dem Krieg nie erreicht werden wird. Wenn es aber gelingt, dass von den ehemaligen Bewohnern der Republika Srpska 20% zurückkehren und genauso viel von den ehemaligen Bewohnern der Föderation, dann wird das eine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Organisation des ganzen Staates darstellen. Diejenigen, die erwarten, dass es wieder wie vor dem Krieg wird, leben in einer anderen Welt, sie akzeptieren die neuen Gegebenheiten nicht. Wir sollten unter den gegebenen Umständen versuchen, die elementaren Menschenrechte für alle in beiden Entitäten zu verwirklichen.

n.: Besuchen die bosniakischen und die serbischen Kinder in Višegrad die gleichen Schulen und Klassen?

B.M.: Ja. Das, was es mancherorts in Bosnien-Herzegowina gibt, nämlich zwei Schulen unter einem Dach, existiert hier nicht. Nur der Religionsunterricht findet getrennt statt, alle anderen Fächer werden im Einklang mit den Plänen und Curricula des Ministeriums für Bildung und Kultur der Republika Srpska unterrichtet.

n.: Tauchen im Sprach- und Geschichtsunterricht Probleme auf?

B.M.: Es gibt bestimmte Differenzen, absolut.

n.: Unterrichten auch bosniakische Lehrer diese Fächer?

B.M.: Leider nicht. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass es unter den Rückkehrern keine Lehrer gibt. Was mich im Moment mehr beschäftigt, ist zu verhindern, dass es in den Schulen zu Provokationen oder Ausschreitungen kommt. Nachrichten über solche Vorfälle verlangsamen den Rückkehrprozess; für diejenigen Menschen, die hin und her gerissen sind, kann so etwas das Zünglein an der Waage sein, wenn es darum geht, die Rückkehrpläne zu verwerfen. Die Curricula werden einfach zu ändern sein, wenn wir die besagten 20% – auch in der Schule – erreicht haben, und zwar mit dem Argument der Menschenrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention im Besonderen. Man muss zuerst die Voraussetzungen schaffen, um Bedingungen stellen zu können.

n.: Die interethnischen Beziehungen in Višegrad haben Sie als positiv dargestellt. Wie gestaltet sich – insofern es sie gibt – die Zusammenarbeit zwischen den religiösen Institutionen der Muslime und der orthodoxen Kirche?

B.M.: Sie ist nicht ausgezeichnet, aber das ist nicht wichtig. Wesentlich ist, dass sie existiert, dass Imame und orthodoxe Priester kommunizieren, dass sich Menschen aus den Institutionen gegenseitig besuchen, dass wir uns bei Eröffnungen von neuen Einrichtungen der islamischen Gemeinde und der serbischen orthodoxen Kirche treffen. Ich glaube, dass Menschen dem Dialog der Vertreter der Glaubensgemeinschaften folgen werden. Es hat lange gedauert, aber es ist mir gelungen, dass zwei, drei Imame zusammen mit zwei, drei Priestern in aller Öffentlichkeit einen Spaziergang durch die Stadt machten und einen Kaffee im Garten des Hotels tranken. Für die gewöhnlichen Gläubigen bedeutet es viel, zu sehen, dass dieser Kontakt besteht.

n.: Viele Bosniaken sehen einen Zusammenhang zwischen der Literatur des berühmtesten Sohns Višegrads Ivo Andrić und den Verbrechen, die während des Bosnienkriegs – auch in Višegrad – an den Muslimen verübt wurden. Sie machen Andrić dafür mitverantwortlich. Hat Ivo Andrić den Bosniaken nur Schlechtes gebracht?

B.M.: Andrić ist der bosnisch-herzegowinische Nobelpreisträger, er lebte in Višegrad, kam immer wieder hierher. Das Werk des Großwesirs Mehmed Pascha Sokolović, die Brücke über die Drina, war Andrićs Inspiration und machte ihn und Višegrad in der Welt berühmt. Die Form seiner Literatur ist perfekt, sie zu kritisieren wäre absurd. Aber ich bin auf Andrić wütend, wenn er über muslimische Figuren schreibt. Ich bin in seinen Texten noch nie auf eine perfekte muslimische Figur gestoßen. Immer ist es ein Hanswurst, jemand, über den man lacht, den man verspottet. Mir ist nicht klar, ob das der Gesichtspunkt Andrićs ist oder ob er unter dem Einfluss des damaligen Belgrad und der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste stand. Ich möchte nicht behaupten, dass er gerade deshalb den Nobelpreis erhielt, aber ich stelle mir die Frage, ob eine seiner Aufgaben darin bestand, das Volk, dem ich angehöre, der Welt auf eine solche Art zu zeigen? Das ist das, was mich ärgert. Das hat uns nichts Schlechtes gebracht, vielleicht hat es uns die Augen geöffnet. Das veranlasst uns, zum zweiten, dritten, fünften Mal Andrić zu lesen. Da ich mich mit Mehmed Pascha Sokolović beschäftigt habe, wurde ich oft gefragt, was es mit dem Einmauern von lebendigen Menschen in der Brücke auf sich hat, wie das im Roman Die Brücke über die Drina geschildert wird. So etwas ist doch gar nicht möglich! Diese Brücke wurde nicht vor 5000, sondern vor 500 Jahren gebaut – in der Blütezeit des Osmanischen Reiches. Was heute die USA verkörpern, stellte damals das Osmanische Reich dar. Für alles gab es Belege: vom ersten bis zum letzten eingebauten Stein und bis zum letzten ausgegebenen Geldstück. Es handelte sich um die größte, mächtigste und schönste Brücke, deren Bau perfekt organisiert war. Und wenn Sie unter solchen Umständen irgendwelchen Legenden glauben wollen, dass lebendige Menschen eingemauert wurden – Gott bewahre und behüte. Andrić wurde ein anderer Mensch, als er nach Belgrad zog. Dort hat er wohl eine Art Dressur erfahren, stand unter Druck, ich weiß nicht, wie man das definieren kann. Tatsache ist, dass Die Brücke über die Drina während seines Aufenthalts in Belgrad entstand. Ich bin also erschreckt darüber, wie Andrić die Muslime und Bosniaken darstellt, aber ich bewundere weiterhin die literarische Form seiner Werke. Leider weilt Andrić nicht mehr unter den Lebenden, dass er uns sagen könnte, was Sache ist. So wird diese Frage für immer offen bleiben.

n.: In Višegrad baut Emir Kusturica zurzeit ein ganzes neues Stadtviertel, das Andrić gewidmet ist. Wird sich diese Andrić-Stadt auf die interethnischen Beziehungen negativ oder positiv auswirken? Braucht Višegrad die Andrić-Stadt?

B.M.: Im wirtschaftlichen Sinne unterstütze ich alle Projekte, die neue Arbeitsplätze für die lokalen Arbeitskräfte schaffen. Die Andrić-Stadt wird eine neue Attraktion in Višegrad verkörpern. Was mir an diesem Projekt nicht gefällt, ist Folgendes: Bei einer Sitzung, auf der Emir Kusturica die Bedeutung der „Steinstadt“ – damals war von der „Steinstadt“ die Rede, erst später wurde daraus eine „Andrić-Stadt“ – erläuterte, benutzte er einen Begriff, der mir in den Ohren weh tat. Herr Kusturica sagte, man müsse eine Stadt fingieren. Wegen dieser „fingierten“ Stadt habe ich mich sehr aufgeregt. So wie Herr Andrić als Meister der literarischen Form eine literarische Szene fingieren konnte, die den Menschen eine nicht reale Botschaft übermittelte und in alle Ewigkeit gelesen wird, genauso kann der große Meister seines Faches Emir Kusturica auf der Grundlage einer fingierten Stadt ein Drehbuch konzipieren, das neue negative Botschaften in die Welt schicken wird. Heute wird wenig gelesen und mehr auf den Bildschirm geschaut. Emir Kusturica, der Meister seines Fachs, wird nach dem Roman einen Film drehen. Und was wird passieren? Man wird die Pfählungen und das Einmauern von lebendigen Menschen in der Brücke – ausgeführt von Türken – in eine lebendige Form gießen, und das wird zu neuen Konflikten führen. Daraus wird nichts Gutes folgen. Wenn dieser Film in der ‚fingierten’ Stadt gedreht wird, dann, so befürchte ich, mit dem Ziel, all das Negative aus Belgrad zu rechtfertigen, das im vergangenen Jahrhundert hier an der Drina mehrere Genozide verursachte. Dann soll es heißen, dass die Bosniaken in diesem Gebiet nicht zufällig Opfer der Genozide wurden, sondern wegen ihrer Vorfahren, der „Türken“ in Anführungsstrichen – wobei ich beleidigt bin, wenn man mich als „Türken“ bezeichnet, denn ich bin Muslim, Bosniake, Bosnier und Herzegowiner, und dass ich und die Türken sich zum selben Glauben bekennen, ist eine andere Sache. In baulicher Hinsicht unterstütze ich das Projekt also und wurde deshalb auch kritisiert. Man fragte mich, warum ich nicht auf einer Moschee bestanden habe, denn in der Andrić-Stadt wird es eine Kirche geben, und man kommentierte, warum nicht auch eine Moschee, aber ich sehe eine Moschee dort nicht, denn die Moschee ist ein heiliger Ort. Ich bin fest davon überzeugt, dass Kusturica dieses Projekt wegen seines Films umsetzen möchte. Das Bauwesen interessiert ihn nicht, das ist nicht seine Welt. Er ist ein Künstler, ein Meister seiner Kunst, wegen der Bauten selbst hätte er sich nicht in so ein Unternehmen gestürzt. Vielmehr hat ihn Belgrad veranlasst – so wie Andrić ebenfalls von Belgrad beeinflusst wurde –, Die Brücke über die Drina zu verfilmen. Und um den Film drehen zu können, braucht er Bauten, die an die Zeit des Romans erinnern. Die Bauten an sich halte ich nicht für gefährlich. Das, was folgen wird, ist gefährlich.

Das Interview führten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander.

Übersetzung von Ksenija Cvetković-Sander

Ich bin auf Andrić wütend, wenn er über muslimische Figuren schreibt - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ich bin auf Andrić wütend, wenn er über mus­li­mi­sche Figuren schreibt

Inter­view mit Bilal Memišević, Ara­bist, Vor­sit­zender des Gemein­de­par­la­ments und Vor­sit­zender des Rates der Isla­mi­schen Gemeinde, Višegrad

novinki: Sie arbeiten seit Jahren an der Erneue­rung des mus­li­mi­schen Lebens in Više­grad, das Ivo Andrić in seinem Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) ver­ewigte. Wie viele Mus­lime gibt es über­haupt in der Stadt, wie viele gab es vor dem Krieg?

Bilal Memišević: Laut der letzten Volks­zäh­lung vor dem Krieg stellten die Bos­niaken – also die Mus­lime – 64,3% der Bewohner der Gemeinde Više­grad, 33% waren Serben, 4–5% machten die Übrigen aus. Auf dem Gebiet der Gemeinde lebten damals ca. 22.000 Men­schen. Heute leben auf diesem Gebiet hin­gegen – laut einem von mir erstellten Register und den Angaben des Stadt­par­la­ments, denn seit dem Krieg wurde keine Volks­zäh­lung mehr durch­ge­führt – nicht mehr als 12.000 Ein­wohner, davon 2.000 bis 2.500 bos­nia­ki­sche Rück­kehrer. Also 15% bis 16% der Gemein­de­ein­wohner sind Bos­niaken. Wenn es um die Erneue­rung des reli­giösen Lebens geht, so ist hier eine stete Ver­bes­se­rung zu ver­zeichnen. Die Lage im Jahr 2000 kann in keiner Weise mit der Situa­tion der letzten zwei bis drei Jahre ver­gli­chen werden. Beim Wie­der­aufbau von sakralen Bauten kam es in letzter Zeit zu keinen grö­ßeren Aus­schrei­tungen. Die Men­schen begannen mit­ein­ander zu kom­mu­ni­zieren, Serben mit Bos­niaken, Bos­niaken mit Serben. Wenn Sie jetzt einen Spa­zier­gang durch Više­grad machen und einen Blick auf den Markt werfen – heute ist Mitt­woch und somit Markttag –, werden Sie fest­stellen, dass sie zusammen, an den­selben Ständen, ihre Waren aus­stellen. Hier und da pas­siert etwas, vor dem Hin­ter­grund aller Gescheh­nisse der ver­gan­genen zwanzig Jahre kann man aber zufrieden sein.

n.: Die Zahl der Rück­kehrer ist aber relativ gering. Warum kehren nicht mehr Men­schen zurück?

B.M.: Der Pro­zess der Rück­kehr ist nicht abge­schlossen, er ist wei­terhin im Gang. Immer noch sind die zustän­digen Insti­tu­tionen des Staates, des Kan­tons und der Gemeinde nicht imstande, den Bedürf­nissen und Wün­schen der Men­schen, die zurück­kehren wollen, zu ent­spre­chen. Viele Bürger von Više­grad leben inzwi­schen in Übersee, eine große Zahl grün­dete eine neue Exis­tenz in der Föde­ra­tion, ins­be­son­dere in Sara­jevo, aber das Inter­esse für die Rück­kehr ist immer noch groß. Wir bemühen uns, für diese Men­schen die nötige Infra­struktur auf­zu­bauen. Wir wissen, dass bis Anfang 2012 2000 Men­schen zurück­ge­kehrt sind und 847 Fami­li­en­häuser wie­der­auf­ge­baut wurden. Wenn man berück­sich­tigt, dass die Rück­kehr offi­ziell 2002 begann, ist das eine recht zufrieden stel­lende Bilanz. Ich denke, dass das pro­zen­tuale Ver­hältnis von vor dem Krieg nie erreicht werden wird. Wenn es aber gelingt, dass von den ehe­ma­ligen Bewoh­nern der Repu­blika Srpska 20% zurück­kehren und genauso viel von den ehe­ma­ligen Bewoh­nern der Föde­ra­tion, dann wird das eine gute Vor­aus­set­zung für eine erfolg­reiche Orga­ni­sa­tion des ganzen Staates dar­stellen. Die­je­nigen, die erwarten, dass es wieder wie vor dem Krieg wird, leben in einer anderen Welt, sie akzep­tieren die neuen Gege­ben­heiten nicht. Wir sollten unter den gege­benen Umständen ver­su­chen, die ele­men­taren Men­schen­rechte für alle in beiden Enti­täten zu verwirklichen.

n.: Besu­chen die bos­nia­ki­schen und die ser­bi­schen Kinder in Više­grad die glei­chen Schulen und Klassen?

B.M.: Ja. Das, was es man­cher­orts in Bos­nien-Her­ze­go­wina gibt, näm­lich zwei Schulen unter einem Dach, exis­tiert hier nicht. Nur der Reli­gi­ons­un­ter­richt findet getrennt statt, alle anderen Fächer werden im Ein­klang mit den Plänen und Cur­ri­cula des Minis­te­riums für Bil­dung und Kultur der Repu­blika Srpska unterrichtet.

n.: Tau­chen im Sprach- und Geschichts­un­ter­richt Pro­bleme auf?

B.M.: Es gibt bestimmte Dif­fe­renzen, absolut.

n.: Unter­richten auch bos­nia­ki­sche Lehrer diese Fächer?

B.M.: Leider nicht. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass es unter den Rück­keh­rern keine Lehrer gibt. Was mich im Moment mehr beschäf­tigt, ist zu ver­hin­dern, dass es in den Schulen zu Pro­vo­ka­tionen oder Aus­schrei­tungen kommt. Nach­richten über solche Vor­fälle ver­lang­samen den Rück­kehr­pro­zess; für die­je­nigen Men­schen, die hin und her gerissen sind, kann so etwas das Züng­lein an der Waage sein, wenn es darum geht, die Rück­kehr­pläne zu ver­werfen. Die Cur­ri­cula werden ein­fach zu ändern sein, wenn wir die besagten 20% – auch in der Schule – erreicht haben, und zwar mit dem Argu­ment der Men­schen­rechte und der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­tion im Beson­deren. Man muss zuerst die Vor­aus­set­zungen schaffen, um Bedin­gungen stellen zu können.

n.: Die inter­eth­ni­schen Bezie­hungen in Više­grad haben Sie als positiv dar­ge­stellt. Wie gestaltet sich – inso­fern es sie gibt – die Zusam­men­ar­beit zwi­schen den reli­giösen Insti­tu­tionen der Mus­lime und der ortho­doxen Kirche?

B.M.: Sie ist nicht aus­ge­zeichnet, aber das ist nicht wichtig. Wesent­lich ist, dass sie exis­tiert, dass Imame und ortho­doxe Priester kom­mu­ni­zieren, dass sich Men­schen aus den Insti­tu­tionen gegen­seitig besu­chen, dass wir uns bei Eröff­nungen von neuen Ein­rich­tungen der isla­mi­schen Gemeinde und der ser­bi­schen ortho­doxen Kirche treffen. Ich glaube, dass Men­schen dem Dialog der Ver­treter der Glau­bens­ge­mein­schaften folgen werden. Es hat lange gedauert, aber es ist mir gelungen, dass zwei, drei Imame zusammen mit zwei, drei Pries­tern in aller Öffent­lich­keit einen Spa­zier­gang durch die Stadt machten und einen Kaffee im Garten des Hotels tranken. Für die gewöhn­li­chen Gläu­bigen bedeutet es viel, zu sehen, dass dieser Kon­takt besteht.

n.: Viele Bos­niaken sehen einen Zusam­men­hang zwi­schen der Lite­ratur des berühm­testen Sohns Više­grads Ivo Andrić und den Ver­bre­chen, die wäh­rend des Bos­ni­en­kriegs – auch in Više­grad – an den Mus­limen verübt wurden. Sie machen Andrić dafür mit­ver­ant­wort­lich. Hat Ivo Andrić den Bos­niaken nur Schlechtes gebracht?

B.M.: Andrić ist der bos­nisch-her­ze­go­wi­ni­sche Nobel­preis­träger, er lebte in Više­grad, kam immer wieder hierher. Das Werk des Groß­we­sirs Mehmed Pascha Soko­lović, die Brücke über die Drina, war Andrićs Inspi­ra­tion und machte ihn und Više­grad in der Welt berühmt. Die Form seiner Lite­ratur ist per­fekt, sie zu kri­ti­sieren wäre absurd. Aber ich bin auf Andrić wütend, wenn er über mus­li­mi­sche Figuren schreibt. Ich bin in seinen Texten noch nie auf eine per­fekte mus­li­mi­sche Figur gestoßen. Immer ist es ein Hans­wurst, jemand, über den man lacht, den man ver­spottet. Mir ist nicht klar, ob das der Gesichts­punkt Andrićs ist oder ob er unter dem Ein­fluss des dama­ligen Bel­grad und der Ser­bi­schen Aka­demie der Wis­sen­schaften und Künste stand. Ich möchte nicht behaupten, dass er gerade des­halb den Nobel­preis erhielt, aber ich stelle mir die Frage, ob eine seiner Auf­gaben darin bestand, das Volk, dem ich ange­höre, der Welt auf eine solche Art zu zeigen? Das ist das, was mich ärgert. Das hat uns nichts Schlechtes gebracht, viel­leicht hat es uns die Augen geöffnet. Das ver­an­lasst uns, zum zweiten, dritten, fünften Mal Andrić zu lesen. Da ich mich mit Mehmed Pascha Soko­lović beschäf­tigt habe, wurde ich oft gefragt, was es mit dem Ein­mauern von leben­digen Men­schen in der Brücke auf sich hat, wie das im Roman Die Brücke über die Drina geschil­dert wird. So etwas ist doch gar nicht mög­lich! Diese Brücke wurde nicht vor 5000, son­dern vor 500 Jahren gebaut – in der Blü­te­zeit des Osma­ni­schen Rei­ches. Was heute die USA ver­kör­pern, stellte damals das Osma­ni­sche Reich dar. Für alles gab es Belege: vom ersten bis zum letzten ein­ge­bauten Stein und bis zum letzten aus­ge­ge­benen Geld­stück. Es han­delte sich um die größte, mäch­tigste und schönste Brücke, deren Bau per­fekt orga­ni­siert war. Und wenn Sie unter sol­chen Umständen irgend­wel­chen Legenden glauben wollen, dass leben­dige Men­schen ein­ge­mauert wurden – Gott bewahre und behüte. Andrić wurde ein anderer Mensch, als er nach Bel­grad zog. Dort hat er wohl eine Art Dressur erfahren, stand unter Druck, ich weiß nicht, wie man das defi­nieren kann. Tat­sache ist, dass Die Brücke über die Drina wäh­rend seines Auf­ent­halts in Bel­grad ent­stand. Ich bin also erschreckt dar­über, wie Andrić die Mus­lime und Bos­niaken dar­stellt, aber ich bewun­dere wei­terhin die lite­ra­ri­sche Form seiner Werke. Leider weilt Andrić nicht mehr unter den Lebenden, dass er uns sagen könnte, was Sache ist. So wird diese Frage für immer offen bleiben.

n.: In Više­grad baut Emir Kus­tu­rica zur­zeit ein ganzes neues Stadt­viertel, das Andrić gewidmet ist. Wird sich diese Andrić-Stadt auf die inter­eth­ni­schen Bezie­hungen negativ oder positiv aus­wirken? Braucht Više­grad die Andrić-Stadt?

B.M.: Im wirt­schaft­li­chen Sinne unter­stütze ich alle Pro­jekte, die neue Arbeits­plätze für die lokalen Arbeits­kräfte schaffen. Die Andrić-Stadt wird eine neue Attrak­tion in Više­grad ver­kör­pern. Was mir an diesem Pro­jekt nicht gefällt, ist Fol­gendes: Bei einer Sit­zung, auf der Emir Kus­tu­rica die Bedeu­tung der „Stein­stadt“ – damals war von der „Stein­stadt“ die Rede, erst später wurde daraus eine „Andrić-Stadt“ – erläu­terte, benutzte er einen Begriff, der mir in den Ohren weh tat. Herr Kus­tu­rica sagte, man müsse eine Stadt fin­gieren. Wegen dieser „fin­gierten“ Stadt habe ich mich sehr auf­ge­regt. So wie Herr Andrić als Meister der lite­ra­ri­schen Form eine lite­ra­ri­sche Szene fin­gieren konnte, die den Men­schen eine nicht reale Bot­schaft über­mit­telte und in alle Ewig­keit gelesen wird, genauso kann der große Meister seines Faches Emir Kus­tu­rica auf der Grund­lage einer fin­gierten Stadt ein Dreh­buch kon­zi­pieren, das neue nega­tive Bot­schaften in die Welt schi­cken wird. Heute wird wenig gelesen und mehr auf den Bild­schirm geschaut. Emir Kus­tu­rica, der Meister seines Fachs, wird nach dem Roman einen Film drehen. Und was wird pas­sieren? Man wird die Pfäh­lungen und das Ein­mauern von leben­digen Men­schen in der Brücke – aus­ge­führt von Türken – in eine leben­dige Form gießen, und das wird zu neuen Kon­flikten führen. Daraus wird nichts Gutes folgen. Wenn dieser Film in der ‚fin­gierten’ Stadt gedreht wird, dann, so befürchte ich, mit dem Ziel, all das Nega­tive aus Bel­grad zu recht­fer­tigen, das im ver­gan­genen Jahr­hun­dert hier an der Drina meh­rere Geno­zide ver­ur­sachte. Dann soll es heißen, dass die Bos­niaken in diesem Gebiet nicht zufällig Opfer der Geno­zide wurden, son­dern wegen ihrer Vor­fahren, der „Türken“ in Anfüh­rungs­stri­chen – wobei ich belei­digt bin, wenn man mich als „Türken“ bezeichnet, denn ich bin Muslim, Bos­niake, Bos­nier und Her­ze­go­winer, und dass ich und die Türken sich zum selben Glauben bekennen, ist eine andere Sache. In bau­li­cher Hin­sicht unter­stütze ich das Pro­jekt also und wurde des­halb auch kri­ti­siert. Man fragte mich, warum ich nicht auf einer Moschee bestanden habe, denn in der Andrić-Stadt wird es eine Kirche geben, und man kom­men­tierte, warum nicht auch eine Moschee, aber ich sehe eine Moschee dort nicht, denn die Moschee ist ein hei­liger Ort. Ich bin fest davon über­zeugt, dass Kus­tu­rica dieses Pro­jekt wegen seines Films umsetzen möchte. Das Bau­wesen inter­es­siert ihn nicht, das ist nicht seine Welt. Er ist ein Künstler, ein Meister seiner Kunst, wegen der Bauten selbst hätte er sich nicht in so ein Unter­nehmen gestürzt. Viel­mehr hat ihn Bel­grad ver­an­lasst – so wie Andrić eben­falls von Bel­grad beein­flusst wurde –, Die Brücke über die Drina zu ver­filmen. Und um den Film drehen zu können, braucht er Bauten, die an die Zeit des Romans erin­nern. Die Bauten an sich halte ich nicht für gefähr­lich. Das, was folgen wird, ist gefährlich.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.

Über­set­zung von Kse­nija Cvetković-Sander