Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Eine Por­tion Ange­spannt­heit gegen Reality

Hoffe nicht und ver­zweifle nicht. Im Prinzip hängt nichts von dir selber ab. Hoff­nung und Ver­zweif­lung sind ein und das­selbe, nur von ver­schie­denen Seiten betrachtet. Des­halb ist die anhal­tende Ange­spannt­heit der beste Zustand, in dem man sich befinden kann. Mit seiner Napet šou (dt.: Ange­spannte Show) macht sich der ser­bi­sche Hip-Hop-Schrift­steller Marko Šelić aka Marčelo bereit für das, was kommt.


Als „Marčelo“ ist Marko Šelić in Ser­bien kein Unbe­kannter. Vier Musikalben und drei Bücher haben dem Musiker und Schrift­steller aus Paraćin Kult­status im ganzen nach-jugo­sla­wi­schen Raum ver­schafft. Ein­ge­fleischte Hip-Hop-Fans, denen er nicht als ‚rich­tiger’ Rapper gilt, lehnen ihn zwar oft ab, alle anderen wie­derum sehen ihn und seinen kri­ti­schen Sprech­ge­sang als authen­ti­sche Stimme des Wider­stands. Wider jeg­li­ches Schub­la­den­denken meldet Marko Šelić sich diesmal mit einem ganz neu­ar­tigen Format, einem knji­go­album (dt.: „Buch­album“) zurück und schreibt darin seine eigenen Regeln. Das Resultat, Napet šou, stellt ein über­zeu­gendes Por­trät der an Rea­li­ty­shows erkrankten ser­bi­schen Gesell­schaft dar, mit wel­chem Marčelo end­gültig das Ter­rain ernst­zu­neh­mender moderner Poesie betritt.

 

Knji­go­album als neue Ausdrucksform

Das Format des knji­go­album ist ein­zig­artig, es ver­eint Musik, Text und Bild. Die Verse aus dem Album werden im Buch in Essays kom­men­tiert und mit Bil­dern illus­triert. Marčelo holt sich für die beglei­tenden Texte auch pro­mi­nente Gäste mit ins Boot. So kom­men­tiert der Psy­cho­loge Vladan Beara im Kapitel Pegla, warum Opfer von Gewalt irgend­wann selbst gewalt­tätig werden. Oder der Musik­kri­tiker Petar Jan­ja­tović erklärt in Muk, wie aus Rock­mu­si­kern Tur­bo­folker wurden. Auch der bekannte ser­bi­sche Schrift­steller David Alba­hari meldet sich gleich in zwei Kapi­teln zu Wort.

Marčelo ver­steht seine Erfin­dung des „Buch­al­bums” als nost­al­gi­schen Ret­tungs­ver­such. Als man noch Platten oder CDs gekauft statt her­un­ter­ge­ge­laden hat, wurde, so Marčelo, auch dem Mate­rial Auf­merk­sam­keit geschenkt. Das Ritual des Aus­pa­ckens, Ein­le­gens und Booklet-Stu­die­rens erfährt hier eine Hom­mage, die auch einen ver­brei­teten Mar­ke­ting-Trick iro­nisch kom­men­tiert. Manche Musiker in Ser­bien ver­kaufen zusätz­lich zu ihrer Musik Wasch­pulver! Und nicht zuletzt sollen Marčelos (oft sehr junge) Fans für Lite­ratur begeis­tert werden. Dass es ihm nicht um den Ver­kauf geht, ist jeden­falls klar. Das gesamte Album ist auf Marčelos offi­zi­ellem You­Tube-Channel kos­ten­frei verfügbar.

 

Ohr­würmer für Leseratten

Napet šou ist ein State­ment. Marčelo, der Musiker und Schrift­steller, wei­gert sich mit seiner Lite­ratur-Musik, sich kate­go­ri­sieren zu lassen und for­dert beide Felder für sich ein. In einer Zeit, in der Bob Dylan den Lite­ra­tur­no­bel­preis erhält, muss man ver­mut­lich nicht mehr die Frage stellen, ob Song­texte zu ernst­hafter Lite­ratur gezählt werden können. Das Rappen an sich ist eine text­ori­en­tierte Kunst mit Pro­sa­ein­schlag, die viel mehr Text als der übliche Rock- und Pop­song ent­hält. Und Marčelos Song­texte gehen allemal als Poesie durch. Seine rhyth­mi­sierten, sprach­lich ver­dich­teten Texte, voller über­ra­schender Wort­spiele, Meta­phern und wei­terer rhe­to­ri­scher Stil­mittel weisen wesent­liche Merk­male des Poe­ti­schen auf.

 

Vor­hang auf für die echte Realityshow

Mit dem ein­falls­reich-augen­zwin­kernden Titel Napet šou weckt Marčelo Asso­zia­tionen: Napet šou, Muppet Show. Sind die Men­schen in Ser­bien nicht tat­säch­lich wie Kermit und Miss Piggy Mario­netten, die beliebig gesteuert und beein­flusst werden können? Alles ist Show, eine ein­zige Rea­li­ty­show, in der Rea­lity das Maß aller Dinge ist. Dem stellt Napet šou eine echte, ehr­liche Show gegen­über, eine, die eben die Rea­lität zeigt, wäh­rend die Rea­li­ty­shows im Fern­sehen das Gegen­teil zum Ziel haben – alle Auf­merk­sam­keit von der Wirk­lich­keit abzuziehen.

Marčelo sieht im Weg­laufen vor der eigenen Rea­lität eine Art Kol­lek­tiv­erkran­kung, an der die ser­bi­sche Gesell­schaft leidet. Zwar gibt es auch in anderen Län­dern Rea­li­ty­shows, jedoch werden sie dort als Zeit­ver­treib und seichte Unter­hal­tung ange­sehen. In Ser­bien jedoch, wo das durch­schnitt­liche Ein­kommen ohnehin schon gering ist, gibt man das knappe Geld dafür aus, den Favo­riten beim Essen, Waschen, Schlafen zuzusehen?!

Auch ser­bi­sche Poli­tiker nutzen die Begeis­te­rung für das Format, ver­wenden in ihren Reden Begriffe aus den Rea­li­ty­shows oder zitieren mitt­ler­weile auch ihre Teil­nehmer. Gerade ihnen ist daran gelegen, die per­verse ser­bi­sche Vari­ante des Rea­li­täts­ef­fekts – ein Minus und nicht ein Plus an Rea­lität – zu stärken. Marčelo sieht in Rea­lity „das äußerste Exe­ku­tiv­organ eines Para­siten unserer Men­ta­lität, und dieser nennt sich Estrada“. Estrada [Begriff für die Tur­bo­folk-Unter­hal­tungs­szene, Anm. d. Red.] beherrscht die Köpfe. In Ser­bien sind nicht mehr Schrift­steller, Regis­seure, Schau­spieler, ernst­zu­neh­mende Musiker und andere Künstler Idole, son­dern die Stars der Rea­li­ty­shows, Kri­mi­nelle und Möch­te­gern-Sän­ge­rinnen mit Sili­kon­brüsten. Gerade an die Jugend, sein Haupt­pu­blikum, richtet sich Marčelo in Napet šou und ver­sucht sie wach­zu­rüt­teln. Er will auf­zeigen, dass sie sich los­reißen kann vom Hass und dem von Into­le­ranz geprägten Klima ihres Landes.

Trotz allem Enga­ge­ment pre­digt er dabei nicht. Er will keine Schlüsse ziehen, son­dern Dis­kus­sionen eröffnen, wenn er sich mit seinen Gast­bei­trä­gern in Bild-Text-Laut-Dia­logen über die in den Lie­dern ange­spro­chenen Themen aus­tauscht. Überall dort, wo Marčelo in Napet šou dann auch mit weniger enga­gierten Fragen, wie Liebe (Tunel, Kom­pli­ko­vani) oder dem Gene­ra­tio­nen­kon­flikt (Baba!), befasst ist, gibt das knji­go­album den Leser_innen eine kleine Ver­schnauf­pause, ohne dabei weniger ehr­lich zu sein.

 

Und wenn der Vor­hang fällt…
Mit Napet šou hat Marčelo sein bisher bestes Werk her­aus­ge­bracht. Wäh­rend er in seinen ver­gan­genen Texten eher laut und auf­ge­bracht pro­tes­tiert hat (man denke nur an seinen Track Kuća na pro­maji auf seinem ersten Album De Facto, das ihn berühmt gemacht hat), kommt er diesmal sub­tiler und somit viel effek­tiver daher. Eine lite­ra­tur­kri­ti­sche Phrase ist hier tat­säch­lich die beste Beschrei­bung: Napet šou ist ein reifes Werk eines gereiften Künst­lers, der an einem Punkt seiner Kar­riere ange­langt ist, an dem er nichts mehr beweisen muss, son­dern seiner Krea­ti­vität freien Lauf lassen kann. Viel­leicht wird Marčelos ange­spannte Show nicht die gesell­schaft­liche Situa­tion ver­än­dern, aber eines ist sicher: Sie ist die authen­tischste Rea­li­ty­show, die man in Ser­bien der­zeit erleben wird.

 

Šelić, Marko: Napet šou. Beograd: Laguna, 2014.

 

Wei­tere Lite­ratur von Marko Šelić:
Zajedno sami. Beograd: VEGA media, 2008.
O lju­dima, psima i mišima. Beograd: VEGA media, 2009.
Mal­te­rego. Beograd: Beoš­tampa, 2012.

 

Diskogra­phie von Marko Šelić aka Marčelo:
De Facto. Beograd: Bas­si­vity, 2003.
Puzzle Shock!. Beograd: Mul­ti­media Records, 2005.
Treća strana medalje. Beograd: Mul­ti­media Records, 2008.
Deca i sunce. Beograd: Mul­ti­media Records, 2010.

 

Wei­ter­füh­rende Links:
Das kom­plette Album Napet šou in Marčelos offi­zi­ellem You­Tube Channel.
Inter­view mit Marčelo bei seiner Buch­prä­sen­ta­tion in Wien am 14.04.2016 (Video in ser­bi­scher Sprache).