Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ivo Andrić – Euro­zen­trist und Hei­lige Kuh

Ein Inter­view mit Esad Dura­ković, Pro­fessor für Ori­en­ta­listik an der Phi­lo­so­phi­schen Fakultät der Uni­ver­sität Sarajevo

novinki: Wel­chen Platz hat Ivo Andrić heute in Bosnien-Herzegowina?

Esad Dura­ković: Bos­nien ist heute hoff­nungslos und tra­gisch geteilt, in jeder Hin­sicht, so auch in Bezug auf Andrić. Man kann also nicht behaupten, dass es einen ein­heit­li­chen Stand­punkt zu Andrićs Stel­lung in unserer Kultur und Lite­ra­tur­ge­schichte gibt. Die ser­bi­schen Leser rezi­pieren Andrićs Werke aus­ge­spro­chen zustim­mend und unkri­tisch. Ein Teil der Bos­niaken rezi­piert dieses Œuvre ganz anders, kri­ti­scher, vom Stand­punkt der post­ko­lo­nialen Kritik. Zu sol­chen Rezi­pi­enten von Andrićs Werk zähle auch ich. Ich bin der Ansicht, dass Andrić ein guter Schrift­steller ist, aber ich halte es eben­falls für not­wendig, die ideo­lo­gi­sierten Aspekte seiner Kunst sowie die ideo­lo­gisch-poli­ti­sche Rezep­tion bei den Serben zu beleuchten.

n.: Andrić hat sich vor allem mit Bos­nien beschäf­tigt. Was für ein Bos­nien schil­dert er? Wo findet man da die ideo­lo­gi­sierten Aspekte, von denen Sie sprechen?

E.D.: Das Pro­blem mit Andrićs Werk besteht eben darin, dass er Bos­niens kul­tu­relle Viel­falt nicht affir­mativ betrachtet, er sieht keine Mög­lich­keit der gegen­sei­tigen kul­tu­rellen Befruch­tung, son­dern er bezieht die Posi­tion einer hoff­nungs­losen Unver­söhn­lich­keit. Da liegt das Problem.

n.: Unver­söhn­lich­keit zwi­schen was?

E.D.: Zwi­schen zwei Kul­tur­kreisen, dem christ­li­chen oder judäo-christ­li­chen und dem ori­en­ta­lisch-isla­mi­schen. In dieser Hin­sicht sehe ich Andrićs Werk im Kon­text der Ideo­logie des Euro­zen­trismus. Meiner Mei­nung nach eignet sich dieses Werk gera­dezu dafür, dass man es durch die Brille von Saids Ori­en­ta­lismus liest. Andrić ist ein Literat, ein Künstler, und Kunst lässt sich nie restlos auf Fak­to­gra­phie redu­zieren, doch kann man sie auch nicht als etwas betrachten, was gar keine Bezie­hung zur Wirk­lich­keit hat. Meiner tiefen Über­zeu­gung nach schil­dert Andrić in seinem Werk die gesamte ori­en­ta­lisch-isla­mi­sche bzw. bos­nia­kisch-mus­li­mi­sche Welt sehr negativ – eine ganze Kultur. Das Pro­blem liegt in der Ver­all­ge­mei­ne­rung. Es han­delt sich nicht um eine oder zwei Figuren, son­dern um die nega­tive Dar­stel­lung einer ganzen Kultur. Das ist das Wesent­liche. Diese Kultur betrachtet er – in der Sprache der post­ko­lo­nialen Kritik gespro­chen – als das Andere, als etwas, was gegen­sätz­lich ist, was sich nicht in die euro­päi­sche Kultur inte­grieren lässt, etwas, was im Grunde also feind­lich ist. Darin liegt die ideo­lo­gi­sche Kon­ta­mi­nie­rung dieses Werks.

n.: Würden Sie den­je­nigen recht geben, die behaupten, dass Andrić die Absicht hatte, den Hass gegen­über den Mus­limen zu schüren? Manche Stimmen behaupten, dass sich Andrić – würde er heute leben – vor dem Gerichts­tri­bunal in Den Haag ver­ant­worten müsste.

E.D.: Selbst­ver­ständ­lich würde ich nie so weit gehen, denn die Kunst ist sou­verän. Für ein soge­nanntes Ver­bal­de­likt kann man meines Erach­tens nicht zur Rechen­schaft gezogen werden, ins­be­son­dere nicht für Romane oder über­haupt für Kunst­werke. Was wir aber tun müssen, das ist: die Kunst­werke kri­tisch lesen. Und wir sollten nicht über­emp­find­lich reagieren, wenn man – wie das hier der Fall ist – Andrićs Werk anders liest. Im ehe­ma­ligen Jugo­sla­wien war Andrić ein staats­of­fi­zi­eller Schrift­steller, eine hei­lige Kuh. Nie­mand durfte etwas Nega­tives über ihn sagen. Ich erfahre auch heut­zu­tage, wenn ich etwas Kri­ti­sches über seine Lite­ratur sage, außer­or­dent­lich große Unan­nehm­lich­keiten. Was für Absichten Andrić ver­folgte, ob er den Hass zwi­schen den Völ­kern schüren wollte, das weiß ich nicht und möchte dar­über nicht urteilen. Seine Absichten behielt er für sich; wir hin­gegen haben es mit seinem Werk zu tun und mit der Tat­sache, dass dieses Werk seit dem Krieg in Bos­nien-Her­ze­go­wina sehr stark in die Politik invol­viert ist. Vor nicht allzu langer Zeit hörte ich im Fern­sehen einen sehr hoch gestellten Poli­tiker aus der Repu­blika Srpska sagen, man müsse Ivo Andrić lesen, um zu begreifen, warum es zum Krieg in Bos­nien-Her­ze­go­wina kam und was für Men­schen die Bos­niaken sind. Radovan Kara­džić brachte den Brief aus dem Jahre 1920 (Pismo iz 1920. godine) sogar zu Ver­hand­lungen mit den West­lern mit, und es ist bekannt, dass den Ver­tre­tern der Ver­einten Nationen Exem­plare der Romane Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) und Wesire und Kon­suln (Trav­nička hro­nika) über­reicht wurden, um sie über die Ver­hält­nisse in Bos­nien zu infor­mieren bzw. um das, was man dort tat, zu recht­fer­tigen. Über die Absichten von Ivo Andrić kann ich also nicht urteilen, aber ich kann etwas zur Ein­be­zie­hung seines Werks in die poli­ti­schen Ereig­nisse in Bos­nien-Her­ze­go­wina sagen. Sein Werk ist objektiv gesehen in die nega­tiven Pro­zesse des Euro­zen­trismus ein­be­zogen worden, unter dem ich – sehr grob gespro­chen – eine Hege­monie euro­päi­scher Ideen, Vor­ur­teile und Vor­stel­lungen über den Islam und den Orient ver­stehe. Aber von Den Haag kann dabei keine Rede sein.

n.: Wie kann es denn dann sein, dass ein sol­cher Andrić in Titos Jugo­sla­wien, das sich die Brü­der­lich­keit und Ein­heit zwi­schen den Nationen auf die Fahnen geschrieben hatte, als hei­lige Kuh behan­delt wurde? Ist die ideo­lo­gi­sche Grund­lage seines Werks also nie­mandem aufgefallen?

E.D.: Im kom­mu­nis­ti­schen Jugo­sla­wien war Andrić, wie gesagt, ein offi­zi­eller Schrift­steller. Sein Werk zählte zum Kanon. Er war unan­tastbar. Inter­es­sant ist, dass in diesem Jugo­sla­wien nie öffent­lich erklärt wurde, wieso er die gesamte Zeit der deut­schen Besat­zung in der Priz­renska-Straße in Bel­grad ver­brachte, wo man darauf auf­passte, dass er von nie­mandem beläs­tigt wurde. Dort hat er Die Brücke über die Drina und Wesire und Kon­suln geschrieben. Und wir wissen, welche Erfah­rungen Jugo­sla­wien mit dem deut­schen Natio­nal­so­zia­lismus gemacht hatte. Dar­über hinaus ist bekannt, dass Ivo Andrić es zeit seines Lebens nicht erlaubte, seine Dis­ser­ta­tion – in der wir die ideo­lo­gi­sche Platt­form all seiner spä­teren Kunst­werke finden – zu ver­öf­fent­li­chen. Es ist offen­sicht­lich, dass das Regime ihn schützte, und einer der Gründe dafür ist gerade sein euro­zen­tri­sches Ver­hältnis zur isla­mi­schen Welt.

n.: Wie erklären Sie sich die Tat­sache, dass Andrić den Nobel­preis bekam?

E.D.: Ich sprach vom Euro­zen­trismus, Edward Said nennt es Ori­en­ta­lismus, wobei die beiden Begriffe nicht voll­kommen iden­tisch sind, aber diese „-ismen“ werden gerade durch die höchste Aus­zeich­nung des Nobel­preises zu einer Ein­heit. Vor allem wegen der Brücke über die Drina und der Wesire und Kon­suln wurde Andrić mit diesem höchsten Lite­ra­tur­preis aus­ge­zeichnet. Das bedeutet, dass das schwe­di­sche Komitee und somit die Träger der euro­päi­schen Rezep­tion sein Ver­hältnis gegen­über der ori­en­ta­lisch-isla­mi­schen Welt för­derten. Zwei­fels­ohne wird ein Nobel­preis nicht aufs Gera­te­wohl ver­geben und wenn man ihn einem Œuvre zuspricht, das aus­ge­spro­chen ideo­lo­gisch kon­ta­mi­niert ist, dann steckt darin eine Botschaft.

n.: Gab es zu jugo­sla­wi­schen Zeiten unter Bos­niaken Dis­kus­sionen über Andrić? Wie lasen mus­li­mi­sche Schüler und Stu­denten sein Werk?

E.D.: Soweit mir bekannt ist, gab es in der Öffent­lich­keit keine Dis­kus­sionen, aber ich weiß, dass bos­nia­ki­sche oder damals mus­li­mi­sche Leser negativ auf seine Lite­ratur reagierten. Man hat das Werk Ivo Andrićs kri­tisch gelesen, aller­dings kon­spi­rativ. Das war aus­ge­prägt, spielte sich aber im Unter­grund ab. Das Werk von Schrift­stel­lern wie Ivo Andrić, er ist kein Ein­zel­fall, wirkte auf zwei Ebenen. Auf einer Ebene – Kunst ist ja sehr sug­gestiv – rief es bei den Serben in Bos­nien-Her­ze­go­wina das Gefühl der Über­le­gen­heit hervor. Auf der anderen Seite fühlten sich die Bos­niaken gesell­schaft­lich her­ab­ge­setzt, an den Rand gedrängt. Mir ging es auch so, und anderen, wie ich aus Gesprä­chen weiß, eben­falls. Durch Andrićs Werk wird den Bos­niaken das Gefühl einer kol­lek­tiven his­to­ri­schen Schuld ver­mit­telt. Und darin liegt das Problem.

n.: Soll man Andrić heute an den Schulen lesen?

E.D.: Ich bin dagegen, dass man irgend­einen Schrift­steller ver­treibt, also sollte man auch Andrić nicht ver­treiben, aber ich bin dafür, dass man Leh­rern wie Schü­lern bei­bringt, wie man ein lite­ra­ri­sches Werk kri­tisch liest. Ich bin gene­rell dagegen, dass man lite­ra­ri­sche Werke, egal um was es geht, wie Hei­lig­tümer behan­delt. Als Lite­ra­tur­pro­fessor habe ich das Recht auf meine eigene Inter­pre­ta­tion. Auf diesem Recht bestehe ich, auch darauf, dass man mich nicht anpran­gert, weil ich kri­tisch über Ivo Andrić rede. Es gibt Bos­niaken, die Andrić gern aus den Städten – es geht um die nach ihm benannten Straßen – und aus den Cur­ri­cula ver­treiben würden. Nein, dafür bin ich kei­nes­falls, ich betone, dass Andrić ein guter Schrift­steller ist, und zwar nicht nur ein bos­ni­scher und bos­nia­ki­scher, son­dern auch ein ser­bi­scher. Er ist ein bos­ni­scher, ein bos­nia­ki­scher, aber auch ein kroa­ti­scher Schrift­steller. Als Wis­sen­schaftler kann ich mich nicht von Gefühlen leiten lassen und sagen, er gehört uns nicht und für ihn ist kein Platz in den Cur­ri­cula. Nein, man muss ihn stu­dieren, jedoch kritisch.

n.: Wie erklären Sie Andrićs Ver­wand­lung vom Beamten des König­reichs in eine – wie Sie sagen – „hei­lige Kuh“ von Titos Jugoslawien?

E.D.: Dar­über haben viele geschrieben. Diese Fakten müssen nicht not­wen­di­ger­weise einen großen Ein­fluss auf sein lite­ra­ri­sches Werk aus­üben, das wir imma­nent betrachten sollten. Andrić arbei­tete als Diplomat in Hitler-Deutsch­land, ver­brachte die Besat­zung in Bel­grad, um dann – als großer Kon­for­mist und Mann, der sehr viel Wert auf gesell­schaft­liche Aner­ken­nung legte – eine ganz andere Platte auf­zu­legen. Er wurde sogar Mit­glied der Kom­mu­nis­ti­schen Partei. Offenbar geht es also um einen Men­schen, der sich bei allen Regimes ein­zu­schmei­cheln ver­stand, von Hitler bis Tito, der seiner per­sön­li­chen Bequem­lich­keit wegen in allen Was­sern schwimmen konnte. Eine wesent­liche Sache ist gleich­wohl die, dass die Deu­tung seines Werks vom Stand­punkt post­ko­lo­nialer Kritik heute beson­ders aktuell wird, wo die west­lich-christ­liche Kultur und die isla­mi­sche Kultur in einen immer schär­feren Kon­flikt geraten, wo auf der einen Seite in den euro­päi­schen Län­dern die Isla­mo­phobie, auf der anderen Seite die Al-Qaida und die Talibans erstarken. Andrićs Werk muss auch in diesem Kon­text gelesen werden. Umso mehr muss man Men­schen aus­bilden, die dieses Werk richtig ver­stehen werden, statt es aus den Schulen zu ver­treiben. Andrić ist heute beson­ders aktuell.

n.: Auch ein Anders Breivik beruft sich in seinem „Mani­fest“ ja auf Ivo Andrić.

E.D.: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Kultur bei der Kon­fron­ta­tion der Kul­tur­kreise, des west­li­chen, d.h. des judäo-christ­li­chen, und des ori­en­ta­lisch-isla­mi­schen, miss­braucht wird. Meiner Mei­nung nach haben Kultur und Kunst da nichts zu suchen, denn ihrem Wesen nach gehen sie keine Kon­flikte ein. Wahr­haf­tige, authen­ti­sche Kunst­werke för­dern viel­mehr Pro­zesse der Inte­gra­tion zwi­schen Völ­kern und Kul­turen. Was hat die ori­en­ta­lisch-isla­mi­sche Kultur für Europa getan? Sie ver­half Europa zur Renais­sance, denn sie über­mit­telte die antike grie­chi­sche Kultur usw.

n.: Aber Ivo Andrić konnte dem mul­ti­kul­tu­rellen Bos­nien nichts abgewinnen?

E.D.: Genau, davon kann keine Rede sein. Ivo Andrić ist ein Schrift­steller, der in seinem gesamten Œuvre, ange­fangen bei der Dis­ser­ta­tion bis zu seinen lite­ra­ri­schen Werken, eigent­lich pos­tu­liert hat, dass die ori­en­ta­lisch-isla­mi­sche Kultur – ein­schließ­lich der mus­li­mi­schen in Bos­nien-Her­ze­go­wina – in ihrem Kern deka­dent und anar­chisch sei. Er stellte sie als anpas­sungs­un­fähig dar, als unfähig, den Anschluss an den euro­päi­schen Geist und die euro­päi­sche Kultur zu finden, als schäd­lich und vom Absterben bedroht.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.

Über­set­zung von Kse­nija Cvetković-Sander