Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Jetzt kämpft die Ukraine für die Demo­kratie in Russland”

Auszug aus einem Inter­view mit Dmitrij Oreškin, Poli­to­loge, Mit­glied der Aka­demie der Wis­sen­schaften, Moskau, am 27.2. in der Nach­rich­ten­sen­dung “Hier und Jetzt” des als “aus­län­di­scher Agent” dekla­rierten Sen­ders “Dozhd’ ”:

Es ist Tag vier des Krieges in der Ukraine: Rus­si­sche Truppen haben mut­maß­lich die Ver­tei­di­gung der ukrai­ni­schen Armee in Charkiw durch­bro­chen. […] In Kiew wurde erneut Luft­schutz­alarm aus­ge­löst. Wir spra­chen mit dem Poli­tik­wis­sen­schaftler Dmitrij Oreschkin über die aktu­ellen Ereignisse.

Der Reporter fragt den Poli­tik­wis­sen­schaftler: „Wie kann dieser Krieg gewonnen werden“?

Wissen Sie, meine Ein­schät­zung ist ganz ein­deutig. Ich denke, das ist eine Kata­strophe, in erster Linie für die Ukraine, aber auch für Russ­land. Aus diesem Grund habe ich bis zum Schluss nicht daran geglaubt, dass Putin solch eine Dumm­heit begeht. Bereits auf der mili­tä­ri­schen Ebene: Im 21.jahrhundert darf man im Gegen­satz zum 20.Jahrhundert Städte nicht unge­straft in ein flam­mendes Inferno ver­wan­deln. Das wird als etwas Unge­heu­er­li­ches ange­sehen. Wobei dies Mitte des 20.Jahrhunderts eine gän­gige Mili­tär­praxis war. Dresden, Kiev, Hiro­shima und andere Städte wurden bom­bar­diert. Jetzt ist das nicht mehr normal. Wie kann man also diesen Krieg gewinnen? Ich denke, die rus­si­schen Truppen könnten Charkiv umzin­geln. Und wie wollen sie Charkiw ein­nehmen? Sie werden dort ver­brannt werden, wie sie es in Grozny wurden. Aus der Luft bom­bar­dieren, wie es in Grozny gemacht wurde? Womög­lich werden sie das machen, aber das gilt als ein Kriegs­ver­bre­chen. Putin hat sein Land in eine Situa­tion gebracht, aus der kein guter Ausweg mög­lich ist. Denn beab­sich­tigt war, dass die Ukrainer Schiss bekommen, Zel­en­skij sich ver­zieht. Und, dass die sowje­ti­sche Armee, sich im Sie­ges­marsch wäh­nend, mit Blumen von den Dorf­mäd­chen begrüßt werden, weil sie die Befreier des Landes von den „украфашисты“ (ukrai­ni­schen Faschisten) sind. In Wirk­lich­keit aber tut sich die Ukraine als neue geeinte poli­ti­sche Nation hervor, als eine bür­ger­liche Nation, in der Men­schen ver­schie­dener eth­ni­scher Gruppen ihr Zuhause ver­tei­digen und ver­tei­digen werden. Das heißt also: Wo hat er sich da hin­ein­be­geben, wofür hat er das getan und was soll daraus werden? Außer einer Kata­strophe… ich ver­stehe es ein­fach nicht. Ich habe den Ein­druck, dass das Land unter Füh­rung Putins langsam dahin­ve­ge­tierte, um letzt­lich im Sumpf zu ver­sa­cken. Nun hat er diesen Pro­zess radikal beschleu­nigt und den Sumpf mit Blut durch­tränkt. Klar ist, unser Land ist iso­liert, ver­giftet, hinter einem eisernen Vor­hang und unsere Aus­lands­konten werden ein­ge­froren, all dies ist nicht neu und es ist die Kata­strophe der kom­menden Wochen und Monate. Was soll man hier noch sagen? Und natür­lich das Gefühl der Schuld, denn wir konnten das nicht auf­halten, den Wahn­sinn nicht ver­hin­dern, und nun kämpft die Ukraine in Wirk­lich­keit auch noch für die rus­si­sche staat­liche Demo­kratie. Wenn Putin ver­liert – und es sieht ganz danach aus –, was wird er dann als Sieg dar­stellen? Naja, viel­leicht wird ein Stück Land irgendwo am linken Ufer des Dnepr ein­ge­nommen. Aber der Par­ti­sa­nen­krieg wird wei­ter­gehen. Gott weiß, was noch! Putin, dar­über sprach ich schon, ist lang­fristig gesehen ein Looser. Nun zeigt er sich auch auf kurze Sicht als Looser. Mög­li­cher­weise hat ein Groß­teil unserer Lands­leute dies noch nicht ein­ge­sehen, aber bald wird es zu spüren sein, am Porte­mon­naie, im Alltag.

Reporter: […] über die Porte­mon­naies und den Alltag spre­chen wir gleich, lassen Sie uns über die Ent­wick­lung der Ereig­nisse, über die Situa­tion all­ge­mein spre­chen. Uns errei­chen recht lücken­hafte Nach­richten, das rus­si­sche Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium teilt nur irgend­welche Erklä­rungen über sieg­reiche Mili­tär­ope­ra­tionen mit uns und sagt dabei kein Wort über Ver­luste der rus­si­schen Armee. Ver­luste gibt es aber und in Anbe­tracht der Situa­tion nicht wenige. Aber in jedem Fall sehen wir, dass die Idee, einen Blitz­krieg zu führen, nicht auf­geht. Hef­tige Kämpfe in nahezu allen Regionen halten an. Ist das irgend­eine fal­sche Ein­schät­zung der Situa­tion durch die Rus­si­sche Föde­ra­tion bei der Vor­be­rei­tung dessen, was offi­ziell „Sonder-Mili­tär­ope­ra­tion“ („специальная военная операция“) genannt wird, oder ist das die Bereit­schaft zum lang­wie­rigen Krieg?

Oreškin: Natür­lich ist das eine Fehl­ent­schei­dung. Ich möchte noch­mals betonen, dass ich nicht an diesen Schwach­sinn glaube. Sie scheinen in einer künst­li­chen Blase zu leben, in einer aus­ge­dachten rus­si­schen Welt, aber diese rus­si­sche Welt sieht anders aus. Sie waren davon aus­ge­gangen, das würde funk­tio­nieren, aber funk­tio­niert hat es nicht, und schuld wird Vla­dimir Vla­di­mi­rovič Putin sein. Das ist ein lang­an­hal­tender Krieg und jeden Tag, den die Ukrainer durch­halten, und das tun sie im Übrigen mit großer Tap­fer­keit und Mut, ….[dieser Satz wird nicht zuende geführt].  Der ukrai­ni­sche Prä­si­dent macht hierbei ein bes­seres Bild als unser Prä­si­dent, so scheint mir, denn er ist mit dem Volk. Der Wider­stand wird hef­tiger werden und noch gezielter. Denn mili­tä­ri­sche Auf­rüs­tung kommt aus Groß­bri­tan­nien, Lett­land und Est­land, jetzt auch aus Deutsch­land und den USA. Man wird Flug­zeuge abschießen, Panzer anzünden. Ich würde gern die beson­dere Geschlos­sen­heit der ukrai­ni­schen Regie­rung mit der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung betonen. 17.000 Maschi­nen­ge­wehre hat man an Kiever Zivil­per­sonen ver­teilt. Wie sehr muss man seinem Volk ver­trauen, es so zu beauf­tragen, damit es dem Aggressor zivilen Wider­stand leisten kann. Und dass Russ­land ein Aggressor ist, bezwei­felt nie­mand, weder hier noch anderswo.

Die­je­nigen, die auf einen großen süßen Käse aus waren, sitzen nun in einem Mau­se­loch, aus dem sie so leicht nicht wieder raus­kommen wie Vla­dimir Vla­di­mi­rovic. Weicht er zurück, ist es eine Nie­der­lage, greift er an, dann ist klar, was daraus wird… Also eine Fehl­ent­schei­dung, eine stra­te­gi­sche und tak­ti­sche Fehl­ent­schei­dung, die Unfä­hig­keit, sich situa­ti­ons­ge­recht in den gegen­wär­tigen Gege­ben­heiten zurecht­zu­finden. Vla­dimir Vla­di­mi­rovic Putin mit seinem Gene­rals­hirn, das ein­zige in unserem Land ver­blie­bene Gehirn, das alles ver­ant­wortet, ist in der Mitte des 20.Jahrhunderts hän­gen­ge­blieben, in den Siegen des Genossen Stalin und dem­entspre­chend in der Sowjet­union. Er will die Rück­kehr zum sowje­ti­schen Modell. Und ich erin­nere daran, dass das sowje­ti­sche Modell zusam­men­ge­bro­chen ist.

Eine Mit­tei­lung der letzten Minuten: Putins Pres­se­se­kretär Dmitrij Peskov teilt mit, dass eine Dele­ga­tion Russ­lands in Belarus ein­ge­troffen ist zu Gesprä­chen mit den Ukrai­nern – ich zitiere die Agentur „Interfax“: „In Über­ein­stim­mung mit den getrof­fenen Ver­ein­ba­rungen traf eine rus­si­sche Dele­ga­tion des Außen- und Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­riums und anderer Minis­te­rien, Putins Admi­nis­tra­tion mit­ein­ge­schlossen, in Weiß­russ­land zu Ver­hand­lungen mit der Ukraine ein. Wir sind bereit die Ver­hand­lungen in Gomel zu beginnen“, sagte Peskov den Jour­na­listen. Was meinen Sie, sind Ver­hand­lungen jetzt über­haupt sinn­voll? Oder unter­scheiden sich die Posi­tionen der Seiten so prin­zi­piell, dass es keine Chance auf Ver­ein­ba­rung gibt. Ich denke, dass Ver­hand­lungen immer sinn­voll sind, aber die Frage ist, wie kon­struktiv diese ver­laufen. Vor allem sehen wir keine Reak­tion der ukrai­ni­schen Seite. Sind sie bereit nach Belarus zu fahren oder sind sie es nicht? Belarus ist ja nicht wirk­lich eine Schieds­partei, son­dern eher eine betei­ligte Seite. Wor­über werden sie ver­han­deln? Werden sie Belarus ver­trauen? Denn es ist sehr wohl bekannt, dass Herr Lavrov, Herr Peskov und Frau Zak­ha­rova, wie Vla­dimir Vla­di­mi­rovic Putin selbst, immer wieder betonten, es wird keinen Über­fall auf die Ukraine geben. Was also sind diese Ver­hand­lungen wert? Ich denke, dass die Ukraine bereit ist, diese Ver­hand­lungen zu führen, aller­dings nicht mit den Prä­missen, wie die anderen Herr­schaften es erwarten.

[…] Einen sol­chen wirt­schaft­li­chen Tief­schlag gab es in unserer Geschichte noch nicht. […]. Für uns wurde ent­schieden zu erobern, zu siegen, aber dafür bezahlen dürfen Sie und ich.

Jour­na­list: Wenn wir über jene spre­chen, die alles ent­scheiden, so ver­stehe ich, ist das ein in sich geschlos­senes System, aber den­noch, was ist Ihre Ver­mu­tung: Wie ein­heit­lich und geschlossen ist die Posi­tion zu den Ereig­nissen in der Ukraine inner­halb der poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Elite? Naja, klar ist, dass die­je­nigen, die für die Berich­ti­gung der Situa­tion ver­ant­wort­lich sind, nicht vor Begeis­te­rung strotzen. Wir haben ja die Pio­nier­ver­samm­lung gesehen, genannt „Ver­samm­lung des Sicher­heits­rates“, auf der Vla­dimir Vla­di­mi­rovic Putin voller kämp­fe­ri­schen Über­muts war, die Anwe­senden neckte, wo klar wurde, dass er bereits eine Ent­schei­dung getroffen hatte. Und alle anderen Anwe­senden murrten nicht, son­dern blökten einverständig.

Aber jene, die die Suppe aus­zu­löf­feln haben, schauten weniger sie­ges­ge­wiss. Dieser Herr Mis­hustin, der jetzt den Nie­der­gang unserer Wirt­schaft auf­halten soll, hat keinen süßen Schlaf mehr wie auch die Unter­nehmer nicht. Im Übrigen ver­stehen auch die weit­sich­tigen klugen Geheim­dienstler, dass dies eine Kata­strophe ist. Denn jetzt wird es in der weiten Welt der ver­steckten Agenten Ein­fluss geben. Im Westen sind sie bes­tens bekannt und man wird sie auf­spüren und her­aus­ekeln. Und dies wird Kon­sens finden, obwohl es gegen die her­kömm­liche diplo­ma­ti­sche Praxis ver­stößt. Wir selbst haben uns in diese Mau­se­falle getrieben, aber sagen werden wir jetzt, sie haben uns in die Zange genommen. Ja, die NATO wird erstarken. Ja, die mili­tä­ri­sche Kraft der euro­päi­schen Staaten wird wachsen im Unter­schied zu früher, wo sie sich davor drückten, zwei Pro­zent des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts für mili­tä­ri­sche Zwecke aus­zu­geben und sie lieber in ange­neh­mere Pro­jekte für Staat und Bevöl­ke­rung inves­tierten. Jetzt werden sie es geschwind tun. Es wird in Europa viel mehr Waffen geben als vor dem Sie­ges­tanz des Vla­dimir Vla­di­mi­rovic Putin. Und all die Waffen werden gerichtet – dreimal dürfen Sie raten – auf wen? Sicher­heit und inter­na­tio­nale Bezie­hungen werden sich ver­schlech­tern wie auch die finan­zi­elle Situa­tion, der Lebens­stan­dard wird geringer, und zu all dem wird es keine Sie­ges­nach­richten vom Schlacht­feld geben.

https://tvrain.ru/teleshow/here_and_now/teper_ukraina_vojuet_za_rossijskuju_demokratiju-548764/

Über­setzt von Julia Koifman und Gudrun Jerschow