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Hiob ohne Happy End

Posted on 4. August 2010 by Claudia Keller
Jossel Rakover ist ein moderner Hiob – jedoch ohne Happy End. In der letzten Stunde seines Lebens, als der Widerstandskampf im Warschauer Ghetto schon aussichtlos verloren ist, schreibt er eine Nachricht an die Nachwelt und rechnet mit Gott ab.

Zvi Kolitz‘ Erzählung Jossel Rakovers Wendung zu Gott wird in einer Neuausgabe von Paul Badde entstellt.
Es ist ein Schreiben in einer Situation, wie sie extremer nicht sein könnte: In einer Stunde wird Jossel Rakover tot sein. Umgeben von seinen bereits ermordeten oder verhungerten Freunden, hoffnungslos eingesperrt in einem der letzten Häuser der Warschauer Ghetto-Widerstandskämpfer, schreibt Jossel Rakover in dieser letzten Stunde seines Lebens eine Nachricht an die Nachwelt. Zeit nicht nur dafür, das eigene unermessliche Leid in Worte zu fassen; Zeit auch für eine Abrechnung mit Gott. Die brennendste aller Fragen – was muss noch geschehen, damit Gott sein Gesicht der Erde wieder enthüllen wird? – steht neben der bedingungslosen Fügung ins Schicksal: „Ich glob as sein a Jid is an eingebojrener Tugend. Man wert gebojren a Jid punkt wie men wert gebojren a Kinstler.“ – in Paul Baddes Übertragung: „Judesein ist angeboren eingefleischt, glaube ich. Zum Juden wird man wie zum Künstler geboren.“

Zu Recht wurde dieser Text, in seinem Gemisch aus Verzweiflung über die Welt, Wut auf und Liebe zu Gott und stolzem Kampfesgeist, von Anna Maria Jokl als die Formulierung der „Essenz aus dem Schmelzofen eines sechsmillionenfachen Todes“ beschrieben (Über den Jossel Rackower des Zvi Kolitz). Nach der Schilderung, wie seine Frau und alle seine Kinder umgekommen sind, wendet sich Jossel Rakover dem einzig verbliebenen und zugleich höchsten Gesprächspartner zu: seinem Gott, den er noch immer liebt, dem er jedoch nun, kurz vor seinem Tod, auch fordernd gegenübersteht. Die Verbindung zu Hiob, dem grossen Leidenden der Bibel, zieht er selbst, grenzt sich jedoch auch von ihm ab: „Ich sog ober nit wie Ijew as Gott soll onzeigen mit’n Finger ojf mein Sind “ – auch wenn Gott auf die kleinen Vergehen eines frommen Mannes zeigen würde, wäre damit sein Leiden erklärt? Jossel Rakover ist ein Hiob des 20. Jahrhunderts, dessen Fragen drängender geworden sind, nicht zuletzt weil er nur ein Vertreter eines ganzen Volkes ist. Ein Hiob, den am Ende nicht das Happy End, sondern der Tod erwartet.

Paul Baddes Neuausgabe der am 25. September 1946 erstmals publizierten Erzählung von Zvi Kolitz (1912-2002) ist vielschichtig: Hinten das jiddische Original (in hebräischer Schrift), vorne die Transkription ins lateinische Alphabet und daneben Baddes Übertragung ins Deutsche. Alle paar Seiten ist eine von Tomi Ungerers Zeichnungen eingefügt. In der Mitte des Buches schliesslich folgt ein umfangreicher Kommentar Paul Baddes, der ein Zeugnis für Freundschaft zwischen dem Autor und dem Journalisten ist, jedoch auch die verwirrte Rezeptions- und Publikationsgeschichte aufklärend kommentieren möchte: Nach der Erstpublikation wurde das Stück Literatur immer wieder als authentisches Dokument eines realen Ghettokämpfers gelesen, während die Richtigstellungen des Autors als Skandal empfunden und immer wieder ignoriert wurden. Mit diesem Mythos der Authentizität räumt Baddes Neuausgabe definitiv auf. Doch was leistet seine Neuausgabe wirklich?
Der Text war schon einmal wiederentdeckt worden – von der bereits erwähnten Schriftstellerin und Psychotherapeutin Anna Maria Jokl (1911 - 2001), die ihn in deutscher Übersetzung zuerst als authentisches Dokument veröffentlicht hatte, den Autor aber, nachdem sie von ihm erfahren hatte, gegen die Angriffe in Schutz nahm. In Baddes Kommentar wird Jokl nur am Rande erwähnt: Es wird lediglich ein „Zerwürfnis“ zwischen ihr und Kolitz angedeutet.

Ein Blick in die Publikation „Anna Maria Jokl und der ‚Jossel Rackower‘ von Zvi Kolitz“ des Theologen Rudolf Pesch (Trier 2005) bestätigt: Die Fronten sind verhärtet. Badde habe die Arbeit Jokls marginalisiert, nicht mit ihr kooperiert, Kolitz‘ Biographie verfälscht und – das ist der gewichtigste Vorwurf – für seine Übersetzung zu 80% diejenige von Jokl verwendet, während seine eigenen Teile ungenügend oder zu christlich geprägt seien, so die Argumente von Pesch. Wie weit jeder dieser Vorwürfe zutreffend ist, müsste von einem Standpunkt aus untersucht werden, der sich (endlich!) allein in den Dienst des Textes stellt. Dies zu leisten, hat Badde verpasst. Abgesehen davon, dass die Übersetzung – siehe im oben zitierten Beispiel das christlich konnotierte „eingefleischt“, das im Original „gebojren“ lautet – näher am Text sein müsste, fallen dem aufmerksamen Leser von Baddes Neuausgabe noch weitaus störendere Ungereimtheiten auf: Das Titelblatt des jiddischen Textes, den Badde als „Original“ bezeichnet, enthält Schreibfehler, die den Titel zu einem „Jossel Rakovers Wendunn zu Nott“ entstellt. Überdies ist es an drei, vier Stellen von Hand – von welcher wird nicht klar – korrigiert, jedoch werden diese Korrekturen nur teilweise in die Transkription übernommen. Der Grund für die Verstümmelung liegt laut Badde darin, dass er nur eine Fotokopie des einzigen von ihm aufgetriebenen und sich in Argentinien befindenden Exemplars der Zeitschrift, in welcher der Text ursprünglich erschienen war, zur Verfügung hatte. Dieses Exemplar wurde in einem Bombenattentat zerstört und konnte von Badde nicht eingesehen werden. Dass in Jerusalem bei Jokl eine unbeschädigte Ausgabe vorlag, die er – auch welchen Gründen auch immer – nicht berücksichtigt hatte, lässt er unerwähnt. Eine ungenaue Arbeitsweise, die misstrauisch macht, und die sicherlich kein Dienst am Text ist.

Verpasst hat Badde eine Wendung – in eben dem Sinne wie Jossel sich zu Gott wendet und mit ihm in einen kritischen Dialog tritt – zum Text, und zwar nicht nur in philologischer Hinsicht. Dass die von ihm genannten biographischen Stationen in Kolitz‘ Leben keineswegs gesichert sind, darauf weist nicht er selbst hin, sondern wiederum Rudolf Pesch. Ob Kolitz nun 1937 Litauen verliess und nach einem Umweg über Italien 1940 in Israel ankam,  wo er in der zionistischen Untergrundorganisation Irgun aktiv war, oder, wie Pesch meint, schon früher nach Palästina gelangt war, bleibt vorderhand ungeklärt und hat vielleicht nur sekundäre Bedeutung. Wenn Badde jedoch vor diesem biographischen Hintergrund den Text als die „ersten Wehen einer einmaligen, unglaublichen Geburt“, also des Staates Israel liest, so führt das zur Frage: Ist der verzweifelte Kämpfer im Ghetto tatsächlich als eine Präfiguration des zionistischen Freiheitskämpfers des neugegründeten Staates Israels zu lesen? Baddes Kommentar legt dies mindestens teilweise nahe und so geht seine Wiederentdeckung des Autors Kolitz zum Schaden des literarischen Werkes: Ein neues Kapitel der Rezeptionsgeschichte situiert den Text in einem historischen Kontext, der den Blick auf dessen spezifisch literarische Wahrheit und Qualität durch eine neue Politisierung wiederum verstellt.

 

Kolitz, Zvi: Jossel Rakovers Wendung zu Gott. Jiddisch-Deutsch. Aus dem Jiddischen übertragen, herausgegeben und kommentiert von Paul Badde. Mit Zeichnungen von Tomi Ungerer. Zürich 2004 (2008 als Taschenbuch erschienen).

Hiob ohne Happy End - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Hiob ohne Happy End

Zvi Kolitz‘ Erzäh­lung Jossel Rako­vers Wen­dung zu Gott wird in einer Neu­aus­gabe von Paul Badde entstellt.

Es ist ein Schreiben in einer Situa­tion, wie sie extremer nicht sein könnte: In einer Stunde wird Jossel Rakover tot sein. Umgeben von seinen bereits ermor­deten oder ver­hun­gerten Freunden, hoff­nungslos ein­ge­sperrt in einem der letzten Häuser der War­schauer Ghetto-Wider­stands­kämpfer, schreibt Jossel Rakover in dieser letzten Stunde seines Lebens eine Nach­richt an die Nach­welt. Zeit nicht nur dafür, das eigene uner­mess­liche Leid in Worte zu fassen; Zeit auch für eine Abrech­nung mit Gott. Die bren­nendste aller Fragen – was muss noch geschehen, damit Gott sein Gesicht der Erde wieder ent­hüllen wird? – steht neben der bedin­gungs­losen Fügung ins Schicksal: „Ich glob as sein a Jid is an ein­ge­bo­j­rener Tugend. Man wert gebo­jren a Jid punkt wie men wert gebo­jren a Kinstler.“ – in Paul Baddes Über­tra­gung: „Jude­sein ist ange­boren ein­ge­fleischt, glaube ich. Zum Juden wird man wie zum Künstler geboren.“

Zu Recht wurde dieser Text, in seinem Gemisch aus Ver­zweif­lung über die Welt, Wut auf und Liebe zu Gott und stolzem Kamp­fes­geist, von Anna Maria Jokl als die For­mu­lie­rung der „Essenz aus dem Schmelz­ofen eines sechs­mil­lio­nen­fa­chen Todes“ beschrieben (Über den Jossel Rac­kower des Zvi Kolitz). Nach der Schil­de­rung, wie seine Frau und alle seine Kinder umge­kommen sind, wendet sich Jossel Rakover dem einzig ver­blie­benen und zugleich höchsten Gesprächs­partner zu: seinem Gott, den er noch immer liebt, dem er jedoch nun, kurz vor seinem Tod, auch for­dernd gegen­über­steht. Die Ver­bin­dung zu Hiob, dem grossen Lei­denden der Bibel, zieht er selbst, grenzt sich jedoch auch von ihm ab: „Ich sog ober nit wie Ijew [Hiob] as Gott soll onzeigen mit’n Finger ojf mein Sind […]“ – auch wenn Gott auf die kleinen Ver­gehen eines frommen Mannes zeigen würde, wäre damit sein Leiden erklärt? Jossel Rakover ist ein Hiob des 20. Jahr­hun­derts, dessen Fragen drän­gender geworden sind, nicht zuletzt weil er nur ein Ver­treter eines ganzen Volkes ist. Ein Hiob, den am Ende nicht das Happy End, son­dern der Tod erwartet.

Paul Baddes Neu­aus­gabe der am 25. Sep­tember 1946 erst­mals publi­zierten Erzäh­lung von Zvi Kolitz (1912–2002) ist viel­schichtig: Hinten das jid­di­sche Ori­ginal (in hebräi­scher Schrift), vorne die Tran­skrip­tion ins latei­ni­sche Alphabet und daneben Baddes Über­tra­gung ins Deut­sche. Alle paar Seiten ist eine von Tomi Ungerers Zeich­nungen ein­ge­fügt. In der Mitte des Buches schliess­lich folgt ein umfang­rei­cher Kom­mentar Paul Baddes, der ein Zeugnis für Freund­schaft zwi­schen dem Autor und dem Jour­na­listen ist, jedoch auch die ver­wirrte Rezep­tions- und Publi­ka­ti­ons­ge­schichte auf­klä­rend kom­men­tieren möchte: Nach der Erst­pu­bli­ka­tion wurde das Stück Lite­ratur immer wieder als authen­ti­sches Doku­ment eines realen Ghet­to­kämp­fers gelesen, wäh­rend die Rich­tig­stel­lungen des Autors als Skandal emp­funden und immer wieder igno­riert wurden. Mit diesem Mythos der Authen­ti­zität räumt Baddes Neu­aus­gabe defi­nitiv auf. Doch was leistet seine Neu­aus­gabe wirklich?
Der Text war schon einmal wie­der­ent­deckt worden – von der bereits erwähnten Schrift­stel­lerin und Psy­cho­the­ra­peutin Anna Maria Jokl (1911 – 2001), die ihn in deut­scher Über­set­zung zuerst als authen­ti­sches Doku­ment ver­öf­fent­licht hatte, den Autor aber, nachdem sie von ihm erfahren hatte, gegen die Angriffe in Schutz nahm. In Baddes Kom­mentar wird Jokl nur am Rande erwähnt: Es wird ledig­lich ein „Zer­würfnis“ zwi­schen ihr und Kolitz angedeutet.

Ein Blick in die Publi­ka­tion „Anna Maria Jokl und der ‚Jossel Rac­kower‘ von Zvi Kolitz“ des Theo­logen Rudolf Pesch (Trier 2005) bestä­tigt: Die Fronten sind ver­härtet. Badde habe die Arbeit Jokls mar­gi­na­li­siert, nicht mit ihr koope­riert, Kolitz‘ Bio­gra­phie ver­fälscht und – das ist der gewich­tigste Vor­wurf – für seine Über­set­zung zu 80% die­je­nige von Jokl ver­wendet, wäh­rend seine eigenen Teile unge­nü­gend oder zu christ­lich geprägt seien, so die Argu­mente von Pesch. Wie weit jeder dieser Vor­würfe zutref­fend ist, müsste von einem Stand­punkt aus unter­sucht werden, der sich (end­lich!) allein in den Dienst des Textes stellt. Dies zu leisten, hat Badde ver­passt. Abge­sehen davon, dass die Über­set­zung – siehe im oben zitierten Bei­spiel das christ­lich kon­no­tierte „ein­ge­fleischt“, das im Ori­ginal „gebo­jren“ lautet – näher am Text sein müsste, fallen dem auf­merk­samen Leser von Baddes Neu­aus­gabe noch weitaus stö­ren­dere Unge­reimt­heiten auf: Das Titel­blatt des jid­di­schen Textes, den Badde als „Ori­ginal“ bezeichnet, ent­hält Schreib­fehler, die den Titel zu einem „Jossel Rako­vers Wen­dunn zu Nott“ ent­stellt. Über­dies ist es an drei, vier Stellen von Hand – von wel­cher wird nicht klar – kor­ri­giert, jedoch werden diese Kor­rek­turen nur teil­weise in die Tran­skrip­tion über­nommen. Der Grund für die Ver­stüm­me­lung liegt laut Badde darin, dass er nur eine Foto­kopie des ein­zigen von ihm auf­ge­trie­benen und sich in Argen­ti­nien befin­denden Exem­plars der Zeit­schrift, in wel­cher der Text ursprüng­lich erschienen war, zur Ver­fü­gung hatte. Dieses Exem­plar wurde in einem Bom­ben­at­tentat zer­stört und konnte von Badde nicht ein­ge­sehen werden. Dass in Jeru­salem bei Jokl eine unbe­schä­digte Aus­gabe vorlag, die er – auch wel­chen Gründen auch immer – nicht berück­sich­tigt hatte, lässt er uner­wähnt. Eine unge­naue Arbeits­weise, die miss­trau­isch macht, und die sicher­lich kein Dienst am Text ist.

Ver­passt hat Badde eine Wen­dung – in eben dem Sinne wie Jossel sich zu Gott wendet und mit ihm in einen kri­ti­schen Dialog tritt – zum Text, und zwar nicht nur in phi­lo­lo­gi­scher Hin­sicht. Dass die von ihm genannten bio­gra­phi­schen Sta­tionen in Kolitz‘ Leben kei­nes­wegs gesi­chert sind, darauf weist nicht er selbst hin, son­dern wie­derum Rudolf Pesch. Ob Kolitz nun 1937 Litauen ver­liess und nach einem Umweg über Ita­lien 1940 in Israel ankam,  wo er in der zio­nis­ti­schen Unter­grund­or­ga­ni­sa­tion Irgun aktiv war, oder, wie Pesch meint, schon früher nach Paläs­tina gelangt war, bleibt vor­der­hand unge­klärt und hat viel­leicht nur sekun­däre Bedeu­tung. Wenn Badde jedoch vor diesem bio­gra­phi­schen Hin­ter­grund den Text als die „ersten Wehen einer ein­ma­ligen, unglaub­li­chen Geburt“, also des Staates Israel liest, so führt das zur Frage: Ist der ver­zwei­felte Kämpfer im Ghetto tat­säch­lich als eine Prä­fi­gu­ra­tion des zio­nis­ti­schen Frei­heits­kämp­fers des neu­ge­grün­deten Staates Israels zu lesen? Baddes Kom­mentar legt dies min­des­tens teil­weise nahe und so geht seine Wie­der­ent­de­ckung des Autors Kolitz zum Schaden des lite­ra­ri­schen Werkes: Ein neues Kapitel der Rezep­ti­ons­ge­schichte situ­iert den Text in einem his­to­ri­schen Kon­text, der den Blick auf dessen spe­zi­fisch lite­ra­ri­sche Wahr­heit und Qua­lität durch eine neue Poli­ti­sie­rung wie­derum verstellt.

 

Kolitz, Zvi: Jossel Rako­vers Wen­dung zu Gott. Jid­disch-Deutsch. Aus dem Jid­di­schen über­tragen, her­aus­ge­geben und kom­men­tiert von Paul Badde. Mit Zeich­nungen von Tomi Ungerer. Zürich 2004 (2008 als Taschen­buch erschienen).