Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das Leben eines bedeut­samen Unbedeutenden

Es war einmal ein kleiner Lazik, der ging hinaus in die weite Welt und schlän­gelte sich so mir nichts, dir nichts unbe­schadet durch die Scherben ihrer zer­bers­tenden Fas­saden. Il’ja Ėren­burgs lange Zeit in Ver­ges­sen­heit gera­tener Roman Bur­naja žizn’ Lazika Roj­tš­va­neca (Das bewegte Leben des Lasik Roit­schwantz) ist 2016 schel­misch wie sein Prot­ago­nist ohne jeg­liche Erlaubnis der Par­tei­ge­nossen von den Toten auferstanden.

 

roitschwantz_coverKleiner Mann – was nun?
Womög­lich inspi­riert von Fal­ladas „kleinem Mann“, den Prot­ago­nisten Evgenij in Puškins Mednyj vsadnik (Der eherne Reiter) und Akakij Aka­kievič in Gogol´s Šinel’ (Der Mantel), zwei para­dig­ma­ti­schen Bei­spielen für geschei­terte Exis­tenzen, deren Dasein im Bewusst­sein der Men­schen keine blei­benden Spuren hin­ter­lässt, schreibt sich Ėren­burgs Held in eine lange lite­ra­ri­sche Tra­di­tion ein. Bereits Laziks Vater wurde vor der Geburt seines Sohnes zum Objekt eines sym­bo­li­schen Aktes, der den Tod quasi her­aus­for­dern sollte nach dem Motto: Es sterben immer die Fal­schen. „Sie [die rei­chen Juden] fanden den unglück­lichsten aller Juden, einen Moitel Lasik Roit­schwantz. […] Er besaß nur einen trüb­se­ligen Fami­li­en­namen. […] Mit einem Wort, er hätte ruhig an der Cho­lera sterben können, und kein Mensch hätte ihn beklagt.“ Sie suchten das „aller­un­gück­lichste Mäd­chen“ aus und sagten: „Ihr sollt von uns dreißig Rubel kriegen, ihr sollt Huhn und Fisch haben, aber eure Hoch­zeit wollen wir auf dem Friedhof begehen, um den Tod ein wenig auf­zu­hei­tern.“ Man könnte annehmen, dieses gleich­zeitig tra­gi­sche und irr­sinnig komi­sche Ereignis würde den spä­teren Lebensweg des Lazik Roj­tš­vanc [Lasik Roit­schwantz] vor­ge­zeichnet haben, der einer­seits vom stän­digen Schei­tern, ande­rer­seits von tra­di­tio­nell jüdi­scher Lebens­hal­tung durch­zogen war.

 

Ein anpas­sungs­fä­higes Chamäleon?

Der Prot­ago­nist Lazik Roj­tš­vanc, ein klein­wüch­siger, armer jüdi­scher Her­ren­schneider aus dem weiß­rus­si­schen Schtetl Homel, muss meh­rere Monate im Gefängnis absitzen. Der Grund: ein ver­se­hent­li­cher Seufzer als Reak­tion auf ein Plakat, das vom Tod des ehren­vollen Par­tei­ge­nossen Schmu­rygin berichtet. So seltsam es auch scheinen mag, mit dem Motiv des Seuf­zens werden meh­rere Kapitel ein­ge­leitet, in denen in iro­ni­schem und hin­ter­fra­gendem Ton über die Folgen eines sol­chen Ver­se­hens nach­ge­dacht wird: „Man kann behaupten, daß das ganze Leben Lasiks mit einem unvor­sich­tigen Seufzer begann. Es wäre besser gewesen, er hätte nicht geseufzt.” Dem Gefäng­nis­auf­ent­halt folgt der erschüt­ternde Ver­lust des ganzen Hab und Guts sowie seiner Her­zens­dame, es bleiben ihm ledig­lich das Por­trait eines por­tu­gie­si­schen Kämp­fers und seine schmut­zige Klei­dung. Doch auf­geben ist für Lazik ein Fremd­wort. Lazik ist ein Narr par excel­lence, der sich dafür bezahlen lässt, die Stadt zu ver­lassen, um – so seine Begrün­dung – den Ein­woh­nern des Hauses nicht „auf die Pelle zu rücken“ und vor ihrem Haus zu „ver­wahr­losen“. Er begibt sich auf eine „Pil­ger­reise“, die ihn über Kiew, Moskau, Königs­berg, Berlin und Paris ins Hei­lige Land führt. Ob er in Kiew im Kanin­chen­zucht­haus ohne Kanin­chen arbeitet, sich in Frank­furt am Main als Rab­biner aus­gibt und der Gemeinde zur Freude den Men­schen alle Spei­se­ge­setze erlässt und das am höchsten jüdi­schen Fei­ertag, Jom Kippur – Lazik ist ein Anpas­sungs­künstler, der vor keiner Tätig­keit zurück­schreckt, um sich über Wasser zu halten. Vom Kom­mu­nismus im nach­re­vo­lu­tio­nären Russ­land der Jahre 1918/19 über Kapi­ta­lismus im Westen und christ­li­ches Mis­sio­na­rentum in London bis hin zum Zio­nismus in Paläs­tina werden alle Ideo­lo­gien, mit denen er in den diversen Län­dern Erfah­rung macht, in Frage gestellt und letzt­end­lich ad absurdum geführt. Was bleibt, ist der Wunsch nach dem Aus­leben der eigenen Indi­vi­dua­lität, der jedoch nicht ver­wirk­licht werden kann.

 

Ewig auf Reise

Ilja Ėren­burg (1891–1967) bringt die Zumu­tungen des 20. Jahr­hun­derts in seinen umfas­senden Memoiren Ljudi, gody, žizn’ (Men­schen Jahre Leben, 1960) wie folgt auf den Punkt: „Wenn wir als sowje­ti­sche Schrift­steller noch am Leben sind, so des­halb, weil wir die größten Akro­baten der Welt sind […].“ Ėren­burg war jüdisch-sowje­ti­scher Schrift­steller, Dichter und aktiver Kriegs­be­richt­erstatter wäh­rend des spa­ni­schen Bür­ger­krieges ebenso wie wäh­rend des Zweiten Welt­krieges; er fun­gierte als kul­tu­reller Ver­mittler zwi­schen Ost und West, Paris und Moskau. Sein Roman Tau­wetter (1954) gab einer ganzen Epoche ihren Namen. Hinzu kommt sein Ein­satz im Jüdi­schen Anti­fa­schis­ti­schen Komitee und die daraus resul­tie­rende Her­aus­gabe einer Samm­lung von bedeut­samen Zeug­nissen über den Genozid an sowje­ti­schen Juden wäh­rend des Zweiten Welt­krieges unter dem Titel Čer­naja kniga (Schwarz­buch, 1947). Umso über­ra­schender ist der lebens­ge­fähr­liche Draht­seilakt, den Ėren­burg als einer der wenigen sowje­ti­schen Schrift­steller phy­sisch unbe­schadet übersteht.

 

Über­le­bens­künstler und Schelm

Im Ein­gehen von Risiken und sich trotz aller Umstände immer wieder Her­aus­winden ähneln sich Ėren­burg und sein Held Lazik. Bur­naja žizn’ Lazika Roj­tš­va­neca steht in der Tra­di­tion des Schel­men­ro­mans. Als Schelm son­der­glei­chen, erin­nert Lazik an seinen tsche­chi­schen Zeit­ge­nossen Švejk im Roman von Jaroslav Hašek.

 

Sprache – Sinn­bild einer unter­ge­gan­genen Kultur?

Der durch­gängig iro­ni­sche und zuweilen sogar sar­kas­ti­sche Stil lässt Frei­raum für diverse Les­arten, kann gleich­zeitig aber auch zu Fehl­in­ter­pre­ta­tionen ver­leiten. Der Roman, der auf den ersten Blick wie leichte Feuil­le­to­nistik wirkt, setzt einen gebil­deten und auf­merk­samen Leser voraus.

Kom­plexe Sti­listik ist eines der wesent­li­chen Spe­zi­fika, die den Roman aus­ma­chen. In Laziks Wort­ge­brauch ver­mi­schen sich jid­di­scher Jargon, wie er ihn sich durch das Tal­mud­stu­dium und sein jüdi­sches Umfeld in Homel ange­eignet hat, und die vor­re­vo­lu­tio­näre rus­si­sche Sprache, mit dem Sprach­re­gister der bol­sche­wis­ti­schen Nomen­klatur und ihren Neo­lo­gismen, und lässt so ein „Jid­rus­bol­schisch“ (Erfin­dung der Autorin), eine Art jüdisch-rus­si­sches Espe­ranto ent­stehen. Mit Hilfe tal­mu­di­scher und chas­si­di­scher Lebens­ge­schichten, die Lazik per­fekt erzählen kann, ent­flieht er in eine ima­gi­näre Welt, die ihn ein Stück weit vor der grau­samen Rea­lität bewahrt. Doch gerade der Gebrauch jüdi­scher- und jid­di­scher Weis­heiten, Para­beln, Gleich­nisse und Anek­doten weckt den Arg­wohn von Par­tei­ge­nossen und gibt Anlass für Sank­tionen gegen ihn. Die mit der jüdi­schen Lebens­welt und ihren Erzähl- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­formen weniger ver­trauten Leser könnten manchmal Gefahr laufen, sich in den ver­zweigten Exkursen zu verirren.

 

Kon­ge­nial übersetzt

Der 1927 zuerst in Paris erschie­nene Roman stieß dort sofort auf große Reso­nanz. Später geriet er in Ver­ges­sen­heit, bis er erst 1989 in der Sowjet­union offi­ziell zugäng­lich und in post­so­wje­ti­scher Zeit erneut auf­ge­legt wurde. Schon 1928 hat sich Wal­demar Jollos an eine deut­sche Über­set­zung gewagt, deren Meis­ter­leis­tung nun 2016 von der Anderen Biblio­thek end­lich wie­der­ent­deckt, neu­auf­ge­legt und mit einem auf­schluss­rei­chen Nach­wort von Peter Hamm zur (Werk-)Biografie ver­sehen wurde.

„Jeden Tag, glaube ich, werden hun­dert Roit­schwantze gekreu­zigt, und kein Mensch legt dagegen Ver­wah­rung ein. Aber das Kin­der­la­chen? Aber das fri­sche Brot auf dem Tisch der Armen? Nun, das sind lächer­liche Vor­stel­lungen. Schweig still, törichter Roit­schwantz! Du hast hier nicht zu phi­lo­so­phieren! Das Höchste, was man von dir ver­langt, ist – ohne Hosen zu galoppieren.“

 

Ėren­burg, Il’ja: Bur­naja žizn’ Lazika Roj­tš­va­neca. Moskva: Sovetskij pisatel‘, 1991.
Ehren­burg, Ilja: Das bewegte Leben des Lasik Roit­schwantz. Aus dem Rus­si­schen von Wal­demar Jollos. Berlin: Die Andere Biblio­thek, 2016.

 

Wei­ter­füh­rende Literatur:
Sicher, Efraim: Jews in Rus­sian lite­ra­ture after the October Revo­lu­tion: wri­ters and artists bet­ween hope and apo­stasy. Cam­bridge: Cam­bridge Uni­ver­sity Press, 1995.