Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ein lyri­scher Kreuzweg

Die Gedichte der Nina Chabias

 

Ver­hei­ßend exo­tisch, rät­sel­haft und etwas ver­rucht: so prä­sen­tiert sich der kürz­lich im Leip­ziger Lite­ra­tur­verlag Erata unter dem Titel Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges erschie­nene Gedicht­band der rus­si­schen Avant­gard­e­dich­terin Nina Chabias. Die Autorin selbst, im Klap­pen­text zudem als „Dich­terin der Mos­kauer Kut­scher“ ange­kün­digt, schien, im Unter­schied zum Verlag, Wert auf Schlicht­heit zu legen: denn jene Titel, die die Chabias ihren nun in deutsch-rus­si­scher Fas­sung publi­zierten Gedicht­bänden gegeben hatte, lauten bloß Sti­chetty (Ver­sette, 1922) und Stichi (Gedichte, 1926). Neben diesen beiden Text­gruppen, die aus neun, respektiv 32 knapp pro­por­tio­nierten Gedichten der Jahre 1919 bis 1921 und 1920 bis 1925 bestehen, prä­sen­tiert Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges noch zwei wei­tere Samm­lungen: Nes­obrannoe (Ver­streutes) und DUBIA, die ver­streut oder gar nicht publi­zierte Werke der Dich­terin ent­halten. Die Gedichte begleiten sech­zehn dezent ero­tisch ange­hauchte Illus­tra­tionen der jungen Peters­burger Künst­lerin Djamal Duma­baeva, die das Image der Chabias als deka­denter Ero­to­manin noch unterstreichen.

Dass hier nicht die lite­ra­ri­schen Ergüsse eines die Avant­gar­de­szene der 20er Jahre heim­su­chenden Vamps, son­dern ernst­zu­neh­mende Dich­tung prä­sen­tiert wird, betont der wis­sen­schaft­liche Apparat, in den die Gedichte ein­ge­bettet sind. Die voy­eu­ris­ti­sche Vor­freude des auf den „rät­sel­haf­testen und zugleich anstö­ßigsten“ Namen der rus­si­schen Lite­ratur gespannten Lesers dämpft vor allem das Nach­wort der Über­set­zerin Hen­rike Schmidt, einer bekannten, der­zeit an der Freien Uni­ver­sität Berlin tätigen Sla­vistin. Im Unter­schied zu Schmidt, die im Nach­wort eine erste und den­noch tief schür­fende lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Ana­lyse der Gedichte vor­nimmt, gelingt es dem Vor­wort Sergej Bir­jukovs bedau­er­li­cher­weise jedoch nicht, über die Dar­stel­lung der publi­kums­wirksam skan­dal­träch­tigen Autor­bio­gra­phie hinauszugehen.

Bei Bir­jukov erfährt der Leser von der vor­nehmen Her­kunft und Erzie­hung der jungen Nina Petrovna Koma­rova (geboren 1892) und von ihrem Auf­ent­halt in Sibi­rien, wo die junge Frau wäh­rend des Bür­ger­kriegs einen gewissen Obo­lenskij, einen weißen Kom­man­deur und viel­leicht sogar Grafen, ehe­lichte. Hier begann sie, sich in ihre eigene Mys­ti­fi­ka­tion zu ver­wan­deln: die Chabias, eine ero­tisch pro­vo­zie­rende und über­lange Papi­rossi rau­chende Dich­terin. Nachdem Nina Chabias sich mit extra­va­ganten öffent­li­chen Auf­tritten, ihrer Bekannt­schaft zu den bekann­testen Ver­tre­tern der Avant­garde (dar­unter Namen wie Sergej Esenin, Boris Sadovskoj, Aleksej Kruč­onych und David Burljuk), sowie einem für seine Obs­zö­nität ver­schrienen Gedicht­band (Sti­chetty, 1922) einen Namen gemacht hat, endet ihre lite­ra­ri­sche Kar­riere Ende der 20er Jahre. 1926 muss Nina Chabias – wahr­schein­lich aus Geld­mangel – auf den Druck ihres zweiten, schon fertig gesetzten Buches (Stichi) ver­zichten. Aus der wilden Dich­terin wird nun eine Über­set­zerin und, 1937, ein Opfer der sta­li­nis­ti­schen Säu­be­rungen. Nach dem berüch­tigten Para­gra­phen 58 wird die Chabias zu zehn Jahren Lager­haft ver­ur­teilt – wieder scheint sie ‚Glück’ zu haben, denn sie wird im Jahre 1942 vor­zeitig ent­lassen. Nach Moskau jedoch kehrt sie nie zurück: 1943 taucht Nina Chabias in der turk­me­ni­schen Stadt Mary auf, dann aber ver­liert sich ihre Spur. Wo und wann sie gestorben ist, bleibt unbekannt.

So weit, so gut. Doch hätte man sich gewünscht, dass ein aner­kannter Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler wie Bir­jukov von der lei­digen Ange­wohn­heit der Ver­lags­wer­bung und der Lite­ra­tur­kritik, das Publi­kums­in­ter­esse immer zuerst auf die Person des Autors zu lenken, abrückt. Sollte Bir­jukov dies mit seinen Anspie­lungen auf einen „skan­dal­um­wit­terten“ Esenin-Kreis, poe­ti­sche Strö­mungen wie die Neo­klas­siker, die Zaum­niki, die Ima­gi­nisten und Futu­risten, sowie Ver­weise auf Dichter wie Burljuk, Kruč­onych, Šerše­nevič und andere, die über die Dimen­sion des lite­ra­ri­schen Klat­sches kaum hin­aus­gehen, bezweckt haben, so ist es ihm miss­lungen: Einem mit der rus­si­schen Lite­ra­tur­ge­schichte nicht ver­trauten Leser bleibt nur der Griff zum Nachschlagewerk.

Einen wich­tigen Hin­weis dar­über, wie die Gedichte der Chabias n i c h t zu lesen sind, gibt Bir­jukov seinem Leser den­noch: Nina Chabias schrieb
k e i n e Por­no­gra­phie. Die Chabias schreibt von Kör­pern und der Liebe der Körper – doch schreibt sie weniger von der Lust, als von der Qual der Liebe. Und sie schreibt von der Lust der Qual: Der weib­liche Körper, den die Chabias „in all seinen Formen und Falten“ nach­zeichnet, durch­läuft in den Gedichten des Bandes Sti­chetty einen ero­ti­schen Kreuzweg, an dessen Sta­tionen Schmerz, Tod und Lust, Kör­per­li­ches und Geis­tiges, sexu­elle und reli­giöse Ekstase inein­ander ver­schmelzen. So schreibt Chabias in einem ihrer frühen Gedichte (1912/1921): „Genug des tie­ri­schen Laufs im Rad/Den Hals ver­dreht die Schlinge aus Draht/Dem Sperma erwärmten Leib/Stellt der Täufer eine Kerze bei“ („Dovol’no kolesa belok/Arkane šeju tjanut’/Nad otop­le­nnom spermoj telu/Krestitel’ post­avil sveču“). Eros und Tha­natos stehen in den wie bezugslos anein­ander gereihten Versen neben­ein­ander und werden erst in der flie­ßenden Grenze zwi­schen Sexu­ellem und Reli­giösem, in der engen Ver­wandt­schaft zwi­schen dem Motiv der Taufe und dem der Pro­fa­nie­rung des weib­li­chen Kör­pers durch den Geschlechtsakt – der doch gleich­zeitig als wär­mend und somit Leben spen­dend erscheint – mit­ein­ander vereint.

Diese enge Ver­qui­ckung von Glauben, Gewalt und Erotik besitzt pro­vo­ka­tives Poten­zial, ten­diert aber nie zur Vul­ga­rität. Auch die obs­zöne Lexik, mit der ihre Gedichte angeb­lich „gespickt“ sein sollen, ver­wendet die Chabias recht selten. An der rich­tigen Stelle ein­ge­setzt, offen­baren sich Ein­schübe wie „dem Sperma erwärmten Leib“ oder „die aus­ge­wa­schene kleb­rige Vulva“ jedoch als prä­gnanter als die durch­gän­gige Ver­wen­dung von ein­schlä­gigem Voka­bular. Ein­deu­tige Bilder ent­stehen vor dem inneren Auge des Lesers auch durch gelun­gene Ver­schie­bungen (‚sdvigi’), die ganz im Sinne der trans­ra­tio­nalen Sprache der „zaum­niki“ neue Wörter her­vor­bringen und Gram­matik und Syntax dekon­stru­ieren. So etwa der dem Vier­zeiler Auto­graph (Avto­graf, 1921) ent­nom­mene Titel der deut­schen Aus­gabe: Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges (Gut­aperču gus­inyh mudej: wobei aller­dings zu bemerken ist, dass das deut­sche „Gehänge“ dem rus­si­schen „mudi“ an obs­zöner Aus­drucks­kraft um einiges unter­legen ist), eine Meta­pher, die an Ein­präg­sam­keit ihres­glei­chen sucht. Ein Aus­druck aus der Botanik („Gut­ta­percha“ bezeichnet den ein­ge­trock­neten Saft des malai­ischen Gut­ta­percha-Baumes, eine dem Kau­tschuk ähn­liche Masse) wird hier kom­bi­niert mit dem ersten Teil des rus­si­schen Aus­drucks für „Gän­se­haut“ – „gus­i­naja koža“ – wobei die Haut aber durch das ordi­näre „mudi“ ersetzt wird.

Schon hier deutet es sich an: Die Körper, die, wie Hen­rike Schmidt bemerkt, „in den Gedichten zur Sprache kommen, sind nicht schön“. Lächer­lich­keit und Häss­lich­keit, Leid und Tod, sie begleiten diese oft geschun­denen Körper bis in die Tiefen der Lust: Hinter dem aufs Äußerste gereizten, kör­per­li­chen Emp­fin­dungs­ver­mögen lauern Ekel und Angst. Die Dich­terin, die eines ihrer Gedichte voll Freude jauchzen lässt: „Die Sonne mein Euter lecklauste/Poliert Kuppel Bauch/Zog die Wol­lust wie Gummi/Lausche das Schüs­tern der Schritte“ (Solnce moe vymja livyzalo/Loščit kupol život/Vytjanul smako rezinoj/slušaju šohot šagov“, ohne Titel, 1920), ent­wi­ckelt in anderen Gedichten eine scharfe Beob­ach­tungs­gabe für Alter, Zer­stö­rung und Zer­fall inmitten alt­be­kannter Lust­ge­fühle. „O wie freudlos, wie karg der Abend/O wie das erregte Gesicht verbergen/In dem zer­tram­pelten Beet/Meiner schie­lenden Tage.“ („O kak bez­ra­dosten, kak skuden večer/O kak lico tre­vožnoe sbereč’/Vrastrepannoj grjade/Moih ras­kosyh dnej“), schreibt sie an anderer Stelle. Erin­nerte Lebens­freude steht gegen grau­same Ein­sam­keit und erlö­senden Tod: „Arm­selig wöl­fisch das Altern,/Wenn in grauen Schach­teln die Zähne/Erkalten in gol­dener Fas­sung, -/Denk ich ans gelbe China und die Omsker/Burjaten breit­lippig und stür­misch.“ (Ètoj vol’čej niščenskoj starost’ju,/Kogda v koro­bočkah seryh zuby/Stynut zolotoj oprave, -/Pomnju želtyj Kitaj i Omskih/Širokogubyh, pyl’nyh burjat.“

Nina Chabias’ „Gesamt­werk“, das durch Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges wohl voll­ständig zugäng­lich gemacht worden sein dürfte, ist ent­spre­chend der kurzen Schaf­fens­pe­riode der Dich­terin wenig umfang­reich. Im Zen­trum ihres Schaf­fens steht ein aus­ge­prägtes Inter­esse für alles Kör­per­liche: selbst in den Gedichten, die nicht direkt dem Eros gewidmet sind, sticht die Fas­zi­na­tion der Chabias für den weib­li­chen Körper im Brenn­punkt sinn­li­chen Erle­bens und Erlei­dens ins Auge. Kör­per­bilder und kör­per­li­ches Erleben struk­tu­rieren sowohl reli­giöse, wie all­täg­liche Themen, Gedichte mit bibli­schen Remi­nis­zenzen, wie solche, die von her­ren­losen Hunden oder träch­tigen Katzen han­deln. Zwar sind, mit Aus­nahme der durch die Kubo-Futu­risten hoch­ge­schätzten Ver­schie­bungen, die sprach­li­chen Mittel und die Sym­bolik, die die Gedichte gestalten, eher tra­di­tio­nell (Nina Chabias arbeitet vor allem mit die Inkon­gruenz ihrer Gram­matik kon­tras­tie­renden Alli­te­ra­tionen und Asso­nanzen), die Scho­nungs­lo­sig­keit jedoch, mit der die Dich­terin eine vor geschun­denen Kör­pern gera­dezu wuchernde Welt ent­blößt, ent­spricht, ebenso wie ihre pro­vo­kante Lebens­hal­tung, den revo­lu­tio­nären Ansprü­chen jener Gene­ra­tion von Schrift­stel­lern, die zu Beginn der 20er Jahre das Gesicht der rus­si­schen Avant­garde prägten.

 

Nina Chabias: Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges. Gedichte. Aus dem Rus­si­schen über­setzt und kom­men­tiert von Hen­rike Schmidt. Edi­tion Erata. Leipzig 2008.