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Kroatien hat Andrić seine jugoslawische Gesinnung nicht verziehen

Posted on 30. Januar 2013 by novinki

Interview mit Krešimir Nemec, Professor für kroatische Literatur an der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb

novinki: Anlässlich des 50. Jubiläums des Nobelpreises von Ivo Andrić setzten Sie sich dafür ein, Andrićs Werke in Zagreb neu zu drucken. Wie weit sind Sie in Ihrem Vorhaben gekommen?

Krešimir Nemec: Im August 2010 habe ich der Kulturorganisation Matica hrvatska den Vorschlag übersandt, in der exklusiven Edition „Jahrhunderte kroatischer Literatur“ ausgewählte Werke von Ivo Andrić in drei Bänden zu drucken. Bislang habe ich keine Antwort erhalten. Ich fürchte, dass die Gelegenheit, diese Werke in diesem Jahr zu drucken, in dem der 50. Jahrestag der Verleihung des Nobelpreises an Ivo Andrić gefeiert wird, versäumt worden ist. Meines Erachtens hat man in Kroatien nichts unternommen, um dieses Jubiläum zu begehen.

n.: Wie erklären Sie sich, dass es keine Reaktion auf Ihren Vorschlag gab?

K.N.: Mir persönlich fällt die Erklärung schwer. In Kroatien gibt es Berührungsängste in Bezug auf Andrić, die grundlos sind. Andrić ist zweifellos ein Schriftsteller, der auch zur kroatischen Literatur gehört, nicht nur zur kroatischen, aber auch zur kroatischen. Doch seine unitaristische jugoslawische Gesinnung wird ihm hier nicht verziehen. Manchen wurde diese Gesinnung verziehen. Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien verziehen oder nicht verziehen wird. Ivan Meštrović etwa ist von diesem Delikt exkulpiert worden, Andrić nicht. Andrićs Werke werden in Zagreb nicht veröffentlicht oder sehr selten. Es gibt keine Straßen, die nach ihm heißen, es gibt eine Abwehr gegenüber Ivo Andrić in Kroatien.

n.: Inwiefern hielt sich Andrić selbst für einen kroatischen Schriftsteller?

K.N.: Andrić hielt sich für einen jugoslawischen Schriftsteller. Eine der wenigen Einstellungen, denen er treu blieb, ist seine jugoslawische Gesinnung. Von der Bewegung Mlada Bosna (Junges Bosnien), als er politisch aktiv wurde, bis zu seinem Tod verteidigte er die jugoslawische Idee. Er hielt Serben und Kroaten für zwei Stämme ein und desselben Volkes, darauf bestand er sein Leben lang. Sich selbst sah er nicht als Mitglied eines der jugoslawischen Stämme, sondern als Angehörigen eines integralen jugoslawischen Volkes, falls so etwas existiert haben sollte. Auf jeden Fall gab es ja Versuche, ein solches Volk zu schaffen. Andrić hat nie gesagt, er sei ein serbischer Schriftsteller, nie, diese Aussage gibt es nicht, trotz aller Suche mancher serbischer Literaturhistoriker. Ebenfalls lässt sich keine ausdrückliche Erklärung finden, er sei ein kroatischer Schriftsteller. Er sagte, er sei Jugoslawe und ein jugoslawischer Schriftsteller – und blieb dabei. Das Kroatentum aus ihm herauszudrängen, was man in Belgrad tut, ist eine fruchtlose Angelegenheit, genauso wie der Versuch in Kroatien unsinnig ist, sein Jugoslawentum vom Tisch zu wischen, denn das Jugoslawentum ist auch ein Teil der kroatischen Identität.

n.: Die bosniakische Seite beschäftigt sich nicht so sehr mit der Frage, welcher Literatur Andrić zuzurechnen ist, sondern mit den politischen Botschaften seines Werkes. Man wirft ihm vor, den Hass gegenüber den Muslimen geschürt zu haben. Ist da aus Ihrer Sicht etwas Wahres dran?

K.N.: So wie es in kroatischen Kreisen eine Abwehr gegen Andrić gibt, so wurde in bosniakischen, muslimischen Kreisen ein ideologisches Projekt der sogenannten Islamophobie von Andrić konstruiert, für die keine Anhaltspunkte in seinen Werken sprechen. Andrić war nicht islamophob. Abzuwägen, wie viele unter seinen positiven Helden katholisch oder orthodox und wie viele muslimisch sind, führt zu nichts. Wir können nicht behaupten, dass 25,6% der positiven Helden Katholiken seien und so und so viele Muslime. Das stimmt nicht. Insbesondere nach dem Krieg machte sich diese Tendenz bemerkbar, auch wenn schon davor solche Versuche unternommen worden waren. Muhsin Rizvić, Esad Duraković und andere bosniakische Intellektuelle stellten Andrić als Islamophoben vor. Die Basis dafür machen sie in dessen Grazer Dissertation aus, in der er von einer natürlichen Orientierung Bosniens nach Westen spricht sowie darüber, dass der Einbruch der Türken die Brücke zum Westen zerstört habe. Nun, da geht es um eine kulturwissenschaftliche Theorie, um eine Dissertation. Seine fiktionalen Texte berechtigen indes keine Interpretation Andrićs als Islamophoben. Dort kommen viele positive muslimische Figuren vor, es gibt dort negativ gezeichnete bosnische Frater, negative Figuren unter den Serben. Das ist alles miteinander vermischt. Ich will nicht behaupten, dass es gleichmäßig verteilt ist, denn ich habe die Figuren in diesem Sinne nicht berechnet. Man hat aber in den bosniakischen Gegenden vor dem Hintergrund dieser Interpretationen Ivo-Andrić-Straßen und alles, was nach ihm benannt wurde, einfach abgeschafft.

n.: Wie hat Andrić die Kroaten dargestellt?

K.N.: Er war von den bosnischen Fratern besessen. Wenn man sie sich genauer anschaut, stellt man fest, dass er sie nicht idealisierte, sondern sie vielmehr oft mit ihren schlechten Seiten darstellte. Einer war faul, der andere aß und trank übermäßig, also keineswegs einseitig. In Omer-Pascha Latas (Omerpaša Latas) ist Vjekoslav Karas, ein Kroate, die eigentliche Hauptfigur. An einigen Stellen im Roman heißt es, Karas erwiderte auf Kroatisch. Andrić hatte also kein Problem mit den Kroaten, obwohl er Grund gehabt hätte, Vorbehalte gegen Zagreb und Kroatien zu haben.

n.: Warum?

K.N.: Weil er hier keine Unterstützung bekam, er litt Hunger in Zagreb. Gerade konstituiert sich der neue Staat, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das er ersehnte, er kämpfte ja für die Vereinigung der Südslawen. Belgrad wurde zur Hauptstadt des neuen Staates, viele Institutionen und Intellektuelle zogen dahin. Andrić hat sofort begriffen, dass er im neuen Staat als Kroate keine große Karriere machen würde und begann, sein Jugoslawentum sozusagen zu verwerten. Er wollte in die Diplomatie. Das war eine für die Serben reservierte Domäne. Aufgrund seiner jugoslawischen Gesinnung gelang es Andrić, sich Zutritt zur Diplomatie zu verschaffen. Er liebte das bequeme Leben, die Sicherheit, was man ihm nicht übelnehmen kann. Wer liebt das nicht? Er entschied sich also für Belgrad der Karriere wegen. Es gibt Theorien, dass er sich in Zagreb vor dem Schatten von Miroslav Krleža fürchtete. 1919, als Andrić Zagreb verließ, hatte Krleža bereits einige Bücher veröffentlicht und große Erfolge gefeiert. Meines Erachtens stimmt diese Theorie nicht, Andrić hatte keinen Grund, Angst vor Krleža zu haben, geschweige denn, dass dies der Hauptgrund gewesen wäre, Zagreb den Rücken zu kehren.

n.: Warum wird Andrić in Kroatien nicht von der „Sünde“ losgesprochen, Jugoslawe gewesen zu sein? Wem wurde das Jugoslawentum verziehen?

K.N.: Sehen Sie, man kann doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Franjo Tuđman zu keiner Zeit ein Jugoslawe gewesen wäre. Oder Josip Broz Tito. Ivan Meštrović, Ivo Vojnović, Vladimir Čerina, eine Zeitlang Tin Ujević. Das Jugoslawentum ist ein Bestandteil der kroatischen Identität. Die jugoslawische Idee ist ja in Kroatien entstanden, nicht in Serbien, nur haben die Serben sie als Teil ihres Projektes angenommen. Denken wir an Ljudevit Gaj, an Josip Juraj Strossmayer, an die ganzen Illyrer. Bis Ante Starčević auf der politischen Szene erschien, war diese Idee dominant.

n.: Wird man in Kroatien in Zukunft anerkennen, dass das Jugoslawentum eine Säule der kroatischen Identität darstellt? Erwarten Sie mit anderen Worten eine Wende in der Rezeption von Ivo Andrić in Kroatien?

K.N.: Die erste Frage ist schwer zu beantworten. Ich hoffe es, ich denke, man wird das Jugoslawentum als Bestandteil der kroatischen Identität anerkennen müssen. Da wird es aber viele Hindernisse und viele Gegner geben. Ich selbst bin übrigens auch kein großer Befürworter der jugoslawischen Gesinnung. Dieser Gedanke wird nur sehr langsam in das Bewusstsein der gewöhnlichen Menschen eindringen, aber es wird dazu kommen müssen. Ob sich dadurch der Status von Ivo Andrić in der kroatischen Literatur verändert, bleibt eine offene Frage. Andrić hat einmal gesagt, ich gehöre denen, die mich haben wollen. Wenn man ihn in Kroatien nicht haben möchte, wenn man ihn nicht liest, wenn man ihn nicht studiert, wenn man ihn nicht publiziert, wenn man keine Straßen nach ihm benennt, wenn man keine Ausstellungen über ihn organisiert, dann ist er, fürchte ich, für die kroatische Literatur verloren. Für mich wäre das total inakzeptabel. Solange ich lebe, werde ich die Idee verteidigen, dass Ivo Andrić auch ein kroatischer Schriftsteller ist.

Das Interview führten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander.
Übersetzung von Ksenija Cvetković-Sander

Kroatien hat Andrić seine jugoslawische Gesinnung nicht verziehen - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Kroa­tien hat Andrić seine jugo­sla­wi­sche Gesin­nung nicht verziehen

Inter­view mit Krešimir Nemec, Pro­fessor für kroa­ti­sche Lite­ratur an der Phi­lo­so­phi­schen Fakultät der Uni­ver­sität Zagreb

novinki: Anläss­lich des 50. Jubi­läums des Nobel­preises von Ivo Andrić setzten Sie sich dafür ein, Andrićs Werke in Zagreb neu zu dru­cken. Wie weit sind Sie in Ihrem Vor­haben gekommen?

Krešimir Nemec: Im August 2010 habe ich der Kul­tur­or­ga­ni­sa­tion Matica hrvatska den Vor­schlag über­sandt, in der exklu­siven Edi­tion „Jahr­hun­derte kroa­ti­scher Lite­ratur“ aus­ge­wählte Werke von Ivo Andrić in drei Bänden zu dru­cken. Bis­lang habe ich keine Ant­wort erhalten. Ich fürchte, dass die Gele­gen­heit, diese Werke in diesem Jahr zu dru­cken, in dem der 50. Jah­restag der Ver­lei­hung des Nobel­preises an Ivo Andrić gefeiert wird, ver­säumt worden ist. Meines Erach­tens hat man in Kroa­tien nichts unter­nommen, um dieses Jubi­läum zu begehen.

n.: Wie erklären Sie sich, dass es keine Reak­tion auf Ihren Vor­schlag gab?

K.N.: Mir per­sön­lich fällt die Erklä­rung schwer. In Kroa­tien gibt es Berüh­rungs­ängste in Bezug auf Andrić, die grundlos sind. Andrić ist zwei­fellos ein Schrift­steller, der auch zur kroa­ti­schen Lite­ratur gehört, nicht nur zur kroa­ti­schen, aber auch zur kroa­ti­schen. Doch seine unita­ris­ti­sche jugo­sla­wi­sche Gesin­nung wird ihm hier nicht ver­ziehen. Man­chen wurde diese Gesin­nung ver­ziehen. Ich weiß nicht, nach wel­chen Kri­te­rien ver­ziehen oder nicht ver­ziehen wird. Ivan Meš­trović etwa ist von diesem Delikt exkul­piert worden, Andrić nicht. Andrićs Werke werden in Zagreb nicht ver­öf­fent­licht oder sehr selten. Es gibt keine Straßen, die nach ihm heißen, es gibt eine Abwehr gegen­über Ivo Andrić in Kroatien.

n.: Inwie­fern hielt sich Andrić selbst für einen kroa­ti­schen Schriftsteller?

K.N.: Andrić hielt sich für einen jugo­sla­wi­schen Schrift­steller. Eine der wenigen Ein­stel­lungen, denen er treu blieb, ist seine jugo­sla­wi­sche Gesin­nung. Von der Bewe­gung Mlada Bosna (Junges Bos­nien), als er poli­tisch aktiv wurde, bis zu seinem Tod ver­tei­digte er die jugo­sla­wi­sche Idee. Er hielt Serben und Kroaten für zwei Stämme ein und des­selben Volkes, darauf bestand er sein Leben lang. Sich selbst sah er nicht als Mit­glied eines der jugo­sla­wi­schen Stämme, son­dern als Ange­hö­rigen eines inte­gralen jugo­sla­wi­schen Volkes, falls so etwas exis­tiert haben sollte. Auf jeden Fall gab es ja Ver­suche, ein sol­ches Volk zu schaffen. Andrić hat nie gesagt, er sei ein ser­bi­scher Schrift­steller, nie, diese Aus­sage gibt es nicht, trotz aller Suche man­cher ser­bi­scher Lite­ra­tur­his­to­riker. Eben­falls lässt sich keine aus­drück­liche Erklä­rung finden, er sei ein kroa­ti­scher Schrift­steller. Er sagte, er sei Jugo­slawe und ein jugo­sla­wi­scher Schrift­steller – und blieb dabei. Das Kroa­tentum aus ihm her­aus­zu­drängen, was man in Bel­grad tut, ist eine frucht­lose Ange­le­gen­heit, genauso wie der Ver­such in Kroa­tien unsinnig ist, sein Jugo­sla­wentum vom Tisch zu wischen, denn das Jugo­sla­wentum ist auch ein Teil der kroa­ti­schen Identität.

n.: Die bos­nia­ki­sche Seite beschäf­tigt sich nicht so sehr mit der Frage, wel­cher Lite­ratur Andrić zuzu­rechnen ist, son­dern mit den poli­ti­schen Bot­schaften seines Werkes. Man wirft ihm vor, den Hass gegen­über den Mus­limen geschürt zu haben. Ist da aus Ihrer Sicht etwas Wahres dran?

K.N.: So wie es in kroa­ti­schen Kreisen eine Abwehr gegen Andrić gibt, so wurde in bos­nia­ki­schen, mus­li­mi­schen Kreisen ein ideo­lo­gi­sches Pro­jekt der soge­nannten Isla­mo­phobie von Andrić kon­stru­iert, für die keine Anhalts­punkte in seinen Werken spre­chen. Andrić war nicht isla­mo­phob. Abzu­wägen, wie viele unter seinen posi­tiven Helden katho­lisch oder orthodox und wie viele mus­li­misch sind, führt zu nichts. Wir können nicht behaupten, dass 25,6% der posi­tiven Helden Katho­liken seien und so und so viele Mus­lime. Das stimmt nicht. Ins­be­son­dere nach dem Krieg machte sich diese Ten­denz bemerkbar, auch wenn schon davor solche Ver­suche unter­nommen worden waren. Muhsin Rizvić, Esad Dura­ković und andere bos­nia­ki­sche Intel­lek­tu­elle stellten Andrić als Isla­mo­phoben vor. Die Basis dafür machen sie in dessen Grazer Dis­ser­ta­tion aus, in der er von einer natür­li­chen Ori­en­tie­rung Bos­niens nach Westen spricht sowie dar­über, dass der Ein­bruch der Türken die Brücke zum Westen zer­stört habe. Nun, da geht es um eine kul­tur­wis­sen­schaft­liche Theorie, um eine Dis­ser­ta­tion. Seine fik­tio­nalen Texte berech­tigen indes keine Inter­pre­ta­tion Andrićs als Isla­mo­phoben. Dort kommen viele posi­tive mus­li­mi­sche Figuren vor, es gibt dort negativ gezeich­nete bos­ni­sche Frater, nega­tive Figuren unter den Serben. Das ist alles mit­ein­ander ver­mischt. Ich will nicht behaupten, dass es gleich­mäßig ver­teilt ist, denn ich habe die Figuren in diesem Sinne nicht berechnet. Man hat aber in den bos­nia­ki­schen Gegenden vor dem Hin­ter­grund dieser Inter­pre­ta­tionen Ivo-Andrić-Straßen und alles, was nach ihm benannt wurde, ein­fach abgeschafft.

n.: Wie hat Andrić die Kroaten dargestellt?

K.N.: Er war von den bos­ni­schen Fra­tern besessen. Wenn man sie sich genauer anschaut, stellt man fest, dass er sie nicht idea­li­sierte, son­dern sie viel­mehr oft mit ihren schlechten Seiten dar­stellte. Einer war faul, der andere aß und trank über­mäßig, also kei­nes­wegs ein­seitig. In Omer-Pascha Latas (Omer­paša Latas) ist Vje­koslav Karas, ein Kroate, die eigent­liche Haupt­figur. An einigen Stellen im Roman heißt es, Karas erwi­derte auf Kroa­tisch. Andrić hatte also kein Pro­blem mit den Kroaten, obwohl er Grund gehabt hätte, Vor­be­halte gegen Zagreb und Kroa­tien zu haben.

n.: Warum?

K.N.: Weil er hier keine Unter­stüt­zung bekam, er litt Hunger in Zagreb. Gerade kon­sti­tu­iert sich der neue Staat, das König­reich der Serben, Kroaten und Slo­wenen, das er ersehnte, er kämpfte ja für die Ver­ei­ni­gung der Süd­slawen. Bel­grad wurde zur Haupt­stadt des neuen Staates, viele Insti­tu­tionen und Intel­lek­tu­elle zogen dahin. Andrić hat sofort begriffen, dass er im neuen Staat als Kroate keine große Kar­riere machen würde und begann, sein Jugo­sla­wentum sozu­sagen zu ver­werten. Er wollte in die Diplo­matie. Das war eine für die Serben reser­vierte Domäne. Auf­grund seiner jugo­sla­wi­schen Gesin­nung gelang es Andrić, sich Zutritt zur Diplo­matie zu ver­schaffen. Er liebte das bequeme Leben, die Sicher­heit, was man ihm nicht übel­nehmen kann. Wer liebt das nicht? Er ent­schied sich also für Bel­grad der Kar­riere wegen. Es gibt Theo­rien, dass er sich in Zagreb vor dem Schatten von Miroslav Krleža fürch­tete. 1919, als Andrić Zagreb ver­ließ, hatte Krleža bereits einige Bücher ver­öf­fent­licht und große Erfolge gefeiert. Meines Erach­tens stimmt diese Theorie nicht, Andrić hatte keinen Grund, Angst vor Krleža zu haben, geschweige denn, dass dies der Haupt­grund gewesen wäre, Zagreb den Rücken zu kehren.

n.: Warum wird Andrić in Kroa­tien nicht von der „Sünde“ los­ge­spro­chen, Jugo­slawe gewesen zu sein? Wem wurde das Jugo­sla­wentum verziehen?

K.N.: Sehen Sie, man kann doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Franjo Tuđman zu keiner Zeit ein Jugo­slawe gewesen wäre. Oder Josip Broz Tito. Ivan Meš­trović, Ivo Voj­nović, Vla­dimir Čerina, eine Zeit­lang Tin Ujević. Das Jugo­sla­wentum ist ein Bestand­teil der kroa­ti­schen Iden­tität. Die jugo­sla­wi­sche Idee ist ja in Kroa­tien ent­standen, nicht in Ser­bien, nur haben die Serben sie als Teil ihres Pro­jektes ange­nommen. Denken wir an Lju­devit Gaj, an Josip Juraj Stross­mayer, an die ganzen Illyrer. Bis Ante Starčević auf der poli­ti­schen Szene erschien, war diese Idee dominant.

n.: Wird man in Kroa­tien in Zukunft aner­kennen, dass das Jugo­sla­wentum eine Säule der kroa­ti­schen Iden­tität dar­stellt? Erwarten Sie mit anderen Worten eine Wende in der Rezep­tion von Ivo Andrić in Kroatien?

K.N.: Die erste Frage ist schwer zu beant­worten. Ich hoffe es, ich denke, man wird das Jugo­sla­wentum als Bestand­teil der kroa­ti­schen Iden­tität aner­kennen müssen. Da wird es aber viele Hin­der­nisse und viele Gegner geben. Ich selbst bin übri­gens auch kein großer Befür­worter der jugo­sla­wi­schen Gesin­nung. Dieser Gedanke wird nur sehr langsam in das Bewusst­sein der gewöhn­li­chen Men­schen ein­dringen, aber es wird dazu kommen müssen. Ob sich dadurch der Status von Ivo Andrić in der kroa­ti­schen Lite­ratur ver­än­dert, bleibt eine offene Frage. Andrić hat einmal gesagt, ich gehöre denen, die mich haben wollen. Wenn man ihn in Kroa­tien nicht haben möchte, wenn man ihn nicht liest, wenn man ihn nicht stu­diert, wenn man ihn nicht publi­ziert, wenn man keine Straßen nach ihm benennt, wenn man keine Aus­stel­lungen über ihn orga­ni­siert, dann ist er, fürchte ich, für die kroa­ti­sche Lite­ratur ver­loren. Für mich wäre das total inak­zep­tabel. Solange ich lebe, werde ich die Idee ver­tei­digen, dass Ivo Andrić auch ein kroa­ti­scher Schrift­steller ist.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.
Über­set­zung von Kse­nija Cvetković-Sander