Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Kunst in der Schlafstadt

Die Kura­torin Marina Zvja­ginceva orga­ni­sierte von 2009 bis 2011 meh­rere Kunst­pro­jekte in den Schlaf­städten der Mos­kauer Peri­pherie. Was pas­siert, wenn Aus­stel­lungen den geschützten Raum der Galerie ver­lassen und auf Distanz zur eta­blierten Kunst­welt gehen? Im Inter­view mit Julia Fertig erzählt Marina Zvja­ginceva, wie die Men­schen am Rande der Metro­pole auf Public Art reagieren.

Kunst in der Schlafstadt

 

Julia Fertig: Das Thema „Schlaf­städte“ beschäf­tigt Sie schon seit län­gerer Zeit. Warum möchten Sie zeit­ge­nös­si­sche Kunst aus­ge­rechnet dort prä­sen­tieren oder anders gefragt: was reizt Künstler_innen an diesen Orten?

Marina Zvja­ginceva: Ers­tens wohne ich selbst in einer Schlaf­stadt und kenne die Distanz zur Kunst­welt, deren Leben sich im Stadt­zen­trum kon­zen­triert, aus eigener Erfah­rung. Zwei­tens werden Aus­stel­lungen immer wieder von einem begrenzten Publi­kums­kreis besucht, wäh­rend die meisten Men­schen, wie zum Bei­spiel meine Nach­barn und Freunde, sprich die Men­schen aus meinem Umfeld, denen ich täg­lich begegne, von zeit­ge­nös­si­scher Kunst nichts wissen, obwohl sie in punkto Theater, Musik und Bal­lett durchaus auf dem Lau­fenden sind. Ich sehe meine Auf­gabe darin, den Mythos von der Schlaf­stadt als kul­tur­freiem Raum zu zer­stören. Ein zweiter Mythos sug­ge­riert, zeit­ge­nös­si­sche Kunst sei etwas Abge­schot­tetes und dem Volk nicht zugäng­lich. Wenn das so wäre, wie könnte es dann zeit­ge­nös­si­sche Kunst sein, wenn Zeit­ge­nossen keinen Zugang zu ihr finden? Ein wei­terer Mythos betrifft die Selbst­wahr­neh­mung der Bewohner von Schlaf­städten, die das Gefühl eines Daseins am Rande emp­finden. In den Schlaf­städten gibt es keine his­to­ri­schen Denk­mäler oder tou­ris­ti­schen Sehens­wür­dig­keiten und nur zeit­ge­nös­si­sche Kunst kann diese Lücke schließen und den Men­schen in den Außen­be­zirken ein Gefühl von „Zen­trum“ ver­mit­teln. Für die Künstler selbst ist das eine inter­es­sante und über­ra­schende Erfah­rung. Wenn der Künstler seine Werke einem ein­schlägig nicht vor­ge­bil­deten Publikum prä­sen­tiert, kann er sich nicht hinter seinem Back­ground ver­ste­cken, denn nie­mand weiß, in wel­chen coolen Gale­rien er aus­stellt und Mit­glied wel­cher Ver­bände er ist. Die Zuschauer reagieren einzig auf seine Werke. Somit ist der Künstler dem unver­fälschten Kon­takt mit dem Publikum aus­ge­setzt und spürt genau, ob sein Werk emo­tional anspricht oder nicht.

J.F.: Ihr Pro­jekt wurde häufig mit der Bewe­gung der Pered­viž­niki, der Wan­der­maler aus dem 19. Jahr­hun­dert, ver­gli­chen. Sehen Sie sich tat­säch­lich in dieser Tradition?

M.Z.: Als das Pro­jekt Schlaf­stadt in den Anfängen steckte, hätte ich nicht gedacht, dass daraus ein ganzes Pro­gramm werden würde, und ich bin ein­fach einem krea­tiven Impuls gefolgt. Ich fand es ein­fach inter­es­sant mich Auf­gaben zu stellen, deren Bewäl­ti­gung anderen unmög­lich schien. Jetzt, nachdem vier voll­wer­tige Pro­jekte unter dem gemein­samen Motto Schlaf­stadt hinter mir liegen, kann ich bestä­tigen, dass diese Idee die Tra­di­tion der Pered­viž­niki gewis­ser­maßen in moderner Lesart fortsetzt.

 

Begeg­nung von Zen­trum und Peripherie

J.F.: Positiv wurde auf­ge­nommen, dass das Pro­jekt ganz ohne das Her­aus­kehren kul­tu­reller Über­le­gen­heit und Über­heb­lich­keit auskam und dabei die didak­ti­sche Kom­po­nente nicht ver­lo­ren­ging. Ebenso zu spüren waren das Inter­esse von Seiten der Künstler und ihre Offen­heit gegen­über Themen und Formen, die für die „nor­malen“ Bewohner_innen rele­vant sind. Trotz allem bleibt der Cha­rakter einer Begeg­nung des Zen­trums mit der Peri­pherie. Wie ist es Ihnen gelungen, nicht als ver­ein­nah­mende Mis­sio­narin zu wirken?

M.Z.: Ich fühle mich nicht als Mis­sio­narin! Ich lebe selbst in diesem Umfeld und kenne all seine Vor- und Nach­teile. Mir gefällt das Leben in der Schlaf­stadt und ich möchte den Schwer­punkt zeit­ge­nös­si­scher Kunst all­mäh­lich vom Zen­trum in die Außen­be­zirke ver­la­gern. Ich dränge nie­mandem etwas auf. Ich möchte den Men­schen (sowohl den Bewoh­nern als auch den Künst­lern) die Ent­schei­dung selbst über­lassen und ihnen neue Mög­lich­keiten auf­zeigen, die sie vorher nicht kannten. Natür­lich haben Jurij Samo­durov und ich bei der Aus­wahl der Pro­jekte die lokale Spe­zifik berück­sich­tigt, aber wir haben nicht ver­sucht, die Pro­jekte um der bes­seren Ver­ständ­lich­keit willen zu „ver­sim­peln“. Die aus­ge­hängten Begleit­kom­men­tare waren völlig aus­rei­chend. Etwas anderes ist, dass die Wir­kung vieler Pro­jekte davon abhängt, ob sie in einer Galerie oder im Freien aus­ge­stellt werden. So wird zum Bei­spiel ein Haufen Müll, aus­ge­stellt in einer Galerie, zum Kunst­werk, im Freien hin­gegen bleibt er ein­fach nur Müll.

J.F.: Was wird in Süd-Butovo bis zur nächsten Bien­nale pas­sieren? Ver­bleibt etwas von den Objekten bezie­hungs­weise von der Idee und dem Geist im öffent­li­chen Raum? Gibt es Nachahmer_innen? Oder war es ein Pro­jekt mit rein uto­pi­scher Dimen­sion, so dass Public Art auch in Zukunft im Land jen­seits der Mos­kauer Ring­au­to­bahn ein Fremd­wort bleibt?

M.Z.: Die Ver­wal­tung von Süd-Butovo möchte sechs der Bau­wagen stehen lassen und sie als Raum für Aus­stel­lungen nutzen, um auf diese Weise hier eine Galerie für Gegen­warts­kunst zu schaffen. Einige der Pro­jekte aus unserer Aus­stel­lung werden in den Bau­wagen ver­bleiben, ein Teil der Expo­si­tion wird jeweils neu gestaltet. Diese Idee befindet sich im Moment in der Dis­kus­sion und man ist dabei, die Bedin­gungen für die Arbeit aus­zu­loten. Ich hoffe, dass das klappt. Aber zugleich befürchte ich, dass alle Gespräche im Sand ver­laufen könnten und damit die Welle der Akti­vi­täten, die vom „Haus des Künst­lers“ im Mos­kauer Zen­trum aus­ge­löst wurde, in Süd-Butovo ver­ebben könnte. Im Gegen­satz zu Jurij Samo­durov meine ich, dass dies nicht die letzte Aus­stel­lung ihrer Art gewesen ist, denn schon jetzt habe ich meh­rere Ange­bote, das Pro­jekt Schlaf­stadt fort­zu­setzen. Eigent­lich diente bisher jede Aus­stel­lung als Impuls für die nächste. Und mein staune immer wieder, dass dieses Thema so stark nach­ge­fragt ist.

J.F.: Gehen wir etwas kon­kreter auf die Aus­stel­lung ein: Meiner Auf­fas­sung nach spre­chen die von Ihnen aus­ge­wählten Werke eine klare ästhe­ti­sche Sprache. Welche Ziele hatten Sie als Kura­torin, das heißt nach wel­chen Kri­te­rien haben Sie geeig­nete Kunst­werke bezie­hungs­weise die teil­neh­menden Künstler_innen ausgewählt?

M.Z.: Von mir als Künst­lerin stammt die Idee, den Bau­wagen als Aus­stel­lungs­modul zu nutzen. Jurij Samo­durov ent­wi­ckelte die Mytho­logie des Pro­jektes, bei dem alle Objekte aus den vor Ort ver­füg­baren Mate­ria­lien ent­stehen und von den Künst­lern gemeinsam mit Bewoh­nern und Ein­rich­tungen des Bezirks (sowohl realen als auch fik­tiven) geschaffen werden. Unsere Auf­gabe als Kura­toren bestand darin, die Künstler zu ermu­tigen, ihre Werke ohne Bedenken im öffent­li­chen städ­ti­schen Raum aus­zu­stellen und ihnen die Angst vor Van­da­lismus zu nehmen. Außerdem hatten wir uns zum Ziel gesetzt, dass jedes Pro­jekt einen bestimmten Bezug zur Geschichte und zum Leben des Stadt­be­zirks auf­weisen soll, sowohl real als auch aus mytho­lo­gi­scher Sicht. Ich hoffe, das ist uns gelungen.

 

„Cool“ urteilten 70% der Bewohner_innen

J.F.: Erzählen Sie bitte über die Begeg­nungen mit den Bewoh­nern vor Ort und deren Reak­tionen auf Ihre Prä­senz in Süd-Butovo.

M.Z.: Als die ersten Bau­wagen vor Ort ein­trafen, rückten zunächst jede Menge Gast­ar­beiter an! Nachdem die ersten künst­le­ri­schen Objekte aus­zu­ma­chen waren (zum Bei­spiel die Ameise von Mit­enev auf dem Dach eines Bau­wa­gens), wurde man neu­gierig und stellte vor allem die Frage: Was soll das hier werden? Das heißt, den Men­schen wurde klar, dass das keine Bau­stelle ist, son­dern etwas anderes. Wir haben allen aus­führ­lich erklärt, was man sich unter einer Bien­nale und unter Gegen­warts­kunst vor­zu­stellen hat.

J.F.: Konnten Sie Ver­än­de­rungen in der Hal­tung der Men­schen gegen­über dem Pro­jekt vor und nach der Aus­stel­lung beobachten?

M.Z.: Im Vor­feld der Aus­stel­lung äußerten die Anwohner über­wie­gend Ver­wun­de­rung oder Ableh­nung gegen­über den „häss­li­chen Bau­wagen in unserem geliebten Park“. Nachdem die Wagen für die Besu­cher geöffnet wurden, gab es einen Rie­sen­an­sturm, denn man wollte end­lich erfahren, was es da Inter­es­santes zu sehen gibt. Die Reak­tionen der Besu­cher zer­fiel in vier Gruppen. Etwa 10% der Anwohner haben das Pro­jekt harsch abge­lehnt. Sie fanden es „abnorm, häss­lich“. Zu dieser Gruppe zählten vor allem aktive Senioren und Hun­de­lieb­haber. Die größte Gruppe, etwa 70%, fanden das Pro­jekt „cool“. Das waren vor allem Jugend­liche, Kinder und vor­ur­teils­freie Erwach­sene. Dann gab es etwa 15 %, die meinten: „Ver­stehe ich nicht und will ich auch nicht ver­stehen.“ Und den kleinsten Teil von etwa 5 % der Besu­cher machten die­je­nigen aus, die so etwas für not­wendig, wichtig und inter­es­sant erachten. Sie haben auf diese Weise die zeit­ge­nös­si­sche Kunst für sich ent­deckt und sind froh dar­über, dass man dazu nicht erst ins Zen­trum von Moskau fahren muss.

So in etwa würde ich die Reak­tion des Publi­kums, aus­ge­hend von meinen per­sön­li­chen Ein­drü­cken, beschreiben. Die größte Akti­vität ent­wi­ckeln natür­lich die Aus­stel­lungs­gegner. Sie schreiben Beschwerden an die ört­liche Ver­wal­tung, erheben laut­stark Pro­test und das wird natür­lich am ehesten wahr­ge­nommen. Aber nach den Gesprä­chen mit den Zuschauern wird einem klar, dass solche Reak­tionen die Aus­nahme sind. Der Grund­tenor in den Reak­tionen der Anwohner ist fol­gender: sie zeigen sich inter­es­siert, ani­mieren ihre Freunde zum Besuch der Aus­stel­lung und berichten mit Stolz, dass ihr Stadt­be­zirk etwas Beson­deres auf­zu­weisen hat.

J.F.: Nach dem Besuch der Aus­stel­lung habe ich bemerkt, dass Kinder und Jugend­liche sehr positiv und locker auf das Event reagierten, wäh­rend die Erwach­senen häufig ihr Unver­ständnis gegen­über der in ihren Augen häss­li­chen Gegen­warts­kunst äußerten. Die Situa­tion von Kin­dern fand the­ma­tisch ihren Aus­druck auch in einigen Werken der Aus­stel­lung. Ist das eine Pro­ble­matik, die Sie beson­ders interessiert?

M.Z.: Das Thema Kinder ging aus den beiden vor­an­ge­gan­genen Aus­stel­lungen hervor, die in Schulen statt­ge­funden haben, und zwar in der Schule Nr. 45 in Lju­bercy (Sep­tember 2010, in Zusam­men­ar­beit mit A. Panov) und in der Schule Nr. 109 in Moskau (Januar 2011, in Zusam­men­ar­beit mit J. Samo­durov). Die Kinder der Schule Nr. 109 haben gemeinsam mit Künst­lern einen Teil der Arbeiten für die Aus­stel­lung „Schlaf­stadt. Offener Unter­richt“ gestaltet und in Butovo kre­ierten sie ohne fremde Hilfe ihre eigene Aus­stel­lung in einem der Bauwagen.

 

Dialog über die Kunst in der Schlafstadt?

J.F.: Wie ver­lief die Zusam­men­ar­beit mit der Ver­wal­tung des Stadt­be­zirkes? Mussten Sie Auf­klä­rungs- und Über­zeu­gungs­ar­beit unter den Mitarbeiter_innen leisten oder haben Sie offene Türen vorgefunden?

M.Z.: Vor zwei Jahren, als die aus Betten bestehende Aus­stel­lung Schlaf­stadt auf­ge­baut wurde, mussten wir der Ver­wal­tung ständig hin­ter­her­rennen. Die Ein­la­dung nach Süd-Butovo erhielten Samo­durov und ich nach dem erfolg­rei­chen Ver­lauf des Pro­jektes in der Schule Nr. 109. Was die ört­liche Ver­wal­tung angeht, so stand deren Leiter fel­sen­fest hinter unserem Pro­jekt. Aber als wir dann vor Ort kon­kret agierten, bekamen wir es mit anderen für den Park ver­ant­wort­li­chen Struk­turen zu tun und stießen auf deren Wider­stand, so dass wir die Kom­mu­nal­ver­wal­tung ständig um Hilfe bitten mussten.

J.F.: Gibt es in der Öffent­lich­keit einen breiten Dialog über das Pro­blem der Schlaf­städte oder haben Sie diesen Dis­kurs erst ange­regt? Welche Rolle könnte in diesem Dialog die Gegen­warts­kunst spielen?

M.Z.: Einen breiten gesell­schaft­li­chen Dialog über die Schlaf­städte gibt es vor­erst nicht. Für den 16. November 2011 planen wir im GZSI, dem Staat­li­chen Zen­trum für zeit­ge­nös­si­sche Kunst, ein Rund­tisch­ge­spräch zu diesem Thema. Dazu sind Sie herz­lich ein­ge­laden. Ich hoffe, dass diese Ver­an­stal­tung Aus­löser für einen sol­chen Dialog wird.

J.F.: Die Aus­stel­lung ist nun zu Ende. Was sind Ihre künst­le­ri­schen Pläne?

M.Z.: Ich pro­biere gern etwas Neues aus, des­halb ver­suche ich, jedes Pro­jekt der Reihe Schlaf­stadt so zu gestalten, dass es sich vom vor­her­ge­henden abhebt. Mir liegen zur­zeit meh­rere Ange­bote vor, die aber im Wesent­li­chen auf eine Wie­der­ho­lung des Pro­jektes in Süd-Butovo abzielen. Das Inter­es­san­teste, so meine ich, wäre gegen­wärtig der Ver­such, anstelle einer zeit­wei­ligen Aus­stel­lung etwas ins Leben zu rufen, was einer Schlaf­stadt auf Dauer erhalten bleibt. Für mich als Künst­lerin ist es sehr inter­es­sant mit dem städ­ti­schen Raum zu arbeiten, weil dieser ein sehr schwie­riges Mate­rial dar­stellt, das voller Über­ra­schungen steckt.

 

Dieses Inter­view erschien erst­malig im Online-Magazin „Deutsch­land und Russ­land“ des Goethe-Insti­tuts Russ­land.

Zum Nach­lesen emp­fiehlt sich auch Julia Fer­tigs aus­führ­li­cher Bericht zu diesem Pro­jekt (samt Bil­der­ga­lerie) „Auf nach ArM­KA­Dien. Public Art in der Tra­ban­ten­stadt?“.

Bild­quelle: Marina Zvja­ginceva 2009, © Julia Zakirova.