http://www.novinki.de

Kunst in der Schlafstadt

Posted on 18. November 2011 by Julia Fertig
Die Kuratorin Marina Zvjaginceva organisierte von 2009 bis 2011 mehrere Kunstprojekte in den Schlafstädten der Moskauer Peripherie. Was passiert, wenn Ausstellungen den geschützten Raum der Galerie verlassen und auf Distanz zur etablierten Kunstwelt gehen? Im Interview mit Julia Fertig erzählt Marina Zvjaginceva, wie die Menschen am Rande der Metropole auf Public Art reagieren.

Die Kuratorin Marina Zvjaginceva organisierte von 2009 bis 2011 mehrere Kunstprojekte in den Schlafstädten der Moskauer Peripherie. Was passiert, wenn Ausstellungen den geschützten Raum der Galerie verlassen und auf Distanz zur etablierten Kunstwelt gehen? Im Interview mit Julia Fertig erzählt Marina Zvjaginceva, wie die Menschen am Rande der Metropole auf Public Art reagieren.

Kunst in der Schlafstadt

 

Julia Fertig: Das Thema „Schlafstädte“ beschäftigt Sie schon seit längerer Zeit. Warum möchten Sie zeitgenössische Kunst ausgerechnet dort präsentieren oder anders gefragt: was reizt Künstler_innen an diesen Orten?

Marina Zvjaginceva: Erstens wohne ich selbst in einer Schlafstadt und kenne die Distanz zur Kunstwelt, deren Leben sich im Stadtzentrum konzentriert, aus eigener Erfahrung. Zweitens werden Ausstellungen immer wieder von einem begrenzten Publikumskreis besucht, während die meisten Menschen, wie zum Beispiel meine Nachbarn und Freunde, sprich die Menschen aus meinem Umfeld, denen ich täglich begegne, von zeitgenössischer Kunst nichts wissen, obwohl sie in punkto Theater, Musik und Ballett durchaus auf dem Laufenden sind. Ich sehe meine Aufgabe darin, den Mythos von der Schlafstadt als kulturfreiem Raum zu zerstören. Ein zweiter Mythos suggeriert, zeitgenössische Kunst sei etwas Abgeschottetes und dem Volk nicht zugänglich. Wenn das so wäre, wie könnte es dann zeitgenössische Kunst sein, wenn Zeitgenossen keinen Zugang zu ihr finden? Ein weiterer Mythos betrifft die Selbstwahrnehmung der Bewohner von Schlafstädten, die das Gefühl eines Daseins am Rande empfinden. In den Schlafstädten gibt es keine historischen Denkmäler oder touristischen Sehenswürdigkeiten und nur zeitgenössische Kunst kann diese Lücke schließen und den Menschen in den Außenbezirken ein Gefühl von „Zentrum“ vermitteln. Für die Künstler selbst ist das eine interessante und überraschende Erfahrung. Wenn der Künstler seine Werke einem einschlägig nicht vorgebildeten Publikum präsentiert, kann er sich nicht hinter seinem Background verstecken, denn niemand weiß, in welchen coolen Galerien er ausstellt und Mitglied welcher Verbände er ist. Die Zuschauer reagieren einzig auf seine Werke. Somit ist der Künstler dem unverfälschten Kontakt mit dem Publikum ausgesetzt und spürt genau, ob sein Werk emotional anspricht oder nicht.

J.F.: Ihr Projekt wurde häufig mit der Bewegung der Peredvižniki, der Wandermaler aus dem 19. Jahrhundert, verglichen. Sehen Sie sich tatsächlich in dieser Tradition?

M.Z.: Als das Projekt Schlafstadt in den Anfängen steckte, hätte ich nicht gedacht, dass daraus ein ganzes Programm werden würde, und ich bin einfach einem kreativen Impuls gefolgt. Ich fand es einfach interessant mich Aufgaben zu stellen, deren Bewältigung anderen unmöglich schien. Jetzt, nachdem vier vollwertige Projekte unter dem gemeinsamen Motto Schlafstadt hinter mir liegen, kann ich bestätigen, dass diese Idee die Tradition der Peredvižniki gewissermaßen in moderner Lesart fortsetzt.

 

Begegnung von Zentrum und Peripherie

J.F.: Positiv wurde aufgenommen, dass das Projekt ganz ohne das Herauskehren kultureller Überlegenheit und Überheblichkeit auskam und dabei die didaktische Komponente nicht verlorenging. Ebenso zu spüren waren das Interesse von Seiten der Künstler und ihre Offenheit gegenüber Themen und Formen, die für die „normalen“ Bewohner_innen relevant sind. Trotz allem bleibt der Charakter einer Begegnung des Zentrums mit der Peripherie. Wie ist es Ihnen gelungen, nicht als vereinnahmende Missionarin zu wirken?

M.Z.: Ich fühle mich nicht als Missionarin! Ich lebe selbst in diesem Umfeld und kenne all seine Vor- und Nachteile. Mir gefällt das Leben in der Schlafstadt und ich möchte den Schwerpunkt zeitgenössischer Kunst allmählich vom Zentrum in die Außenbezirke verlagern. Ich dränge niemandem etwas auf. Ich möchte den Menschen (sowohl den Bewohnern als auch den Künstlern) die Entscheidung selbst überlassen und ihnen neue Möglichkeiten aufzeigen, die sie vorher nicht kannten. Natürlich haben Jurij Samodurov und ich bei der Auswahl der Projekte die lokale Spezifik berücksichtigt, aber wir haben nicht versucht, die Projekte um der besseren Verständlichkeit willen zu „versimpeln“. Die ausgehängten Begleitkommentare waren völlig ausreichend. Etwas anderes ist, dass die Wirkung vieler Projekte davon abhängt, ob sie in einer Galerie oder im Freien ausgestellt werden. So wird zum Beispiel ein Haufen Müll, ausgestellt in einer Galerie, zum Kunstwerk, im Freien hingegen bleibt er einfach nur Müll.

J.F.: Was wird in Süd-Butovo bis zur nächsten Biennale passieren? Verbleibt etwas von den Objekten beziehungsweise von der Idee und dem Geist im öffentlichen Raum? Gibt es Nachahmer_innen? Oder war es ein Projekt mit rein utopischer Dimension, so dass Public Art auch in Zukunft im Land jenseits der Moskauer Ringautobahn ein Fremdwort bleibt?

M.Z.: Die Verwaltung von Süd-Butovo möchte sechs der Bauwagen stehen lassen und sie als Raum für Ausstellungen nutzen, um auf diese Weise hier eine Galerie für Gegenwartskunst zu schaffen. Einige der Projekte aus unserer Ausstellung werden in den Bauwagen verbleiben, ein Teil der Exposition wird jeweils neu gestaltet. Diese Idee befindet sich im Moment in der Diskussion und man ist dabei, die Bedingungen für die Arbeit auszuloten. Ich hoffe, dass das klappt. Aber zugleich befürchte ich, dass alle Gespräche im Sand verlaufen könnten und damit die Welle der Aktivitäten, die vom „Haus des Künstlers“ im Moskauer Zentrum ausgelöst wurde, in Süd-Butovo verebben könnte. Im Gegensatz zu Jurij Samodurov meine ich, dass dies nicht die letzte Ausstellung ihrer Art gewesen ist, denn schon jetzt habe ich mehrere Angebote, das Projekt Schlafstadt fortzusetzen. Eigentlich diente bisher jede Ausstellung als Impuls für die nächste. Und mein staune immer wieder, dass dieses Thema so stark nachgefragt ist.

J.F.: Gehen wir etwas konkreter auf die Ausstellung ein: Meiner Auffassung nach sprechen die von Ihnen ausgewählten Werke eine klare ästhetische Sprache. Welche Ziele hatten Sie als Kuratorin, das heißt nach welchen Kriterien haben Sie geeignete Kunstwerke beziehungsweise die teilnehmenden Künstler_innen ausgewählt?

M.Z.: Von mir als Künstlerin stammt die Idee, den Bauwagen als Ausstellungsmodul zu nutzen. Jurij Samodurov entwickelte die Mythologie des Projektes, bei dem alle Objekte aus den vor Ort verfügbaren Materialien entstehen und von den Künstlern gemeinsam mit Bewohnern und Einrichtungen des Bezirks (sowohl realen als auch fiktiven) geschaffen werden. Unsere Aufgabe als Kuratoren bestand darin, die Künstler zu ermutigen, ihre Werke ohne Bedenken im öffentlichen städtischen Raum auszustellen und ihnen die Angst vor Vandalismus zu nehmen. Außerdem hatten wir uns zum Ziel gesetzt, dass jedes Projekt einen bestimmten Bezug zur Geschichte und zum Leben des Stadtbezirks aufweisen soll, sowohl real als auch aus mythologischer Sicht. Ich hoffe, das ist uns gelungen.

 

„Cool“ urteilten 70% der Bewohner_innen

J.F.: Erzählen Sie bitte über die Begegnungen mit den Bewohnern vor Ort und deren Reaktionen auf Ihre Präsenz in Süd-Butovo.

M.Z.: Als die ersten Bauwagen vor Ort eintrafen, rückten zunächst jede Menge Gastarbeiter an! Nachdem die ersten künstlerischen Objekte auszumachen waren (zum Beispiel die Ameise von Mitenev auf dem Dach eines Bauwagens), wurde man neugierig und stellte vor allem die Frage: Was soll das hier werden? Das heißt, den Menschen wurde klar, dass das keine Baustelle ist, sondern etwas anderes. Wir haben allen ausführlich erklärt, was man sich unter einer Biennale und unter Gegenwartskunst vorzustellen hat.

J.F.: Konnten Sie Veränderungen in der Haltung der Menschen gegenüber dem Projekt vor und nach der Ausstellung beobachten?

M.Z.: Im Vorfeld der Ausstellung äußerten die Anwohner überwiegend Verwunderung oder Ablehnung gegenüber den „hässlichen Bauwagen in unserem geliebten Park“. Nachdem die Wagen für die Besucher geöffnet wurden, gab es einen Riesenansturm, denn man wollte endlich erfahren, was es da Interessantes zu sehen gibt. Die Reaktionen der Besucher zerfiel in vier Gruppen. Etwa 10% der Anwohner haben das Projekt harsch abgelehnt. Sie fanden es „abnorm, hässlich“. Zu dieser Gruppe zählten vor allem aktive Senioren und Hundeliebhaber. Die größte Gruppe, etwa 70%, fanden das Projekt „cool“. Das waren vor allem Jugendliche, Kinder und vorurteilsfreie Erwachsene. Dann gab es etwa 15 %, die meinten: „Verstehe ich nicht und will ich auch nicht verstehen.“ Und den kleinsten Teil von etwa 5 % der Besucher machten diejenigen aus, die so etwas für notwendig, wichtig und interessant erachten. Sie haben auf diese Weise die zeitgenössische Kunst für sich entdeckt und sind froh darüber, dass man dazu nicht erst ins Zentrum von Moskau fahren muss.

So in etwa würde ich die Reaktion des Publikums, ausgehend von meinen persönlichen Eindrücken, beschreiben. Die größte Aktivität entwickeln natürlich die Ausstellungsgegner. Sie schreiben Beschwerden an die örtliche Verwaltung, erheben lautstark Protest und das wird natürlich am ehesten wahrgenommen. Aber nach den Gesprächen mit den Zuschauern wird einem klar, dass solche Reaktionen die Ausnahme sind. Der Grundtenor in den Reaktionen der Anwohner ist folgender: sie zeigen sich interessiert, animieren ihre Freunde zum Besuch der Ausstellung und berichten mit Stolz, dass ihr Stadtbezirk etwas Besonderes aufzuweisen hat.

J.F.: Nach dem Besuch der Ausstellung habe ich bemerkt, dass Kinder und Jugendliche sehr positiv und locker auf das Event reagierten, während die Erwachsenen häufig ihr Unverständnis gegenüber der in ihren Augen hässlichen Gegenwartskunst äußerten. Die Situation von Kindern fand thematisch ihren Ausdruck auch in einigen Werken der Ausstellung. Ist das eine Problematik, die Sie besonders interessiert?

M.Z.: Das Thema Kinder ging aus den beiden vorangegangenen Ausstellungen hervor, die in Schulen stattgefunden haben, und zwar in der Schule Nr. 45 in Ljubercy (September 2010, in Zusammenarbeit mit A. Panov) und in der Schule Nr. 109 in Moskau (Januar 2011, in Zusammenarbeit mit J. Samodurov). Die Kinder der Schule Nr. 109 haben gemeinsam mit Künstlern einen Teil der Arbeiten für die Ausstellung „Schlafstadt. Offener Unterricht“ gestaltet und in Butovo kreierten sie ohne fremde Hilfe ihre eigene Ausstellung in einem der Bauwagen.

 

Dialog über die Kunst in der Schlafstadt?

J.F.: Wie verlief die Zusammenarbeit mit der Verwaltung des Stadtbezirkes? Mussten Sie Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit unter den Mitarbeiter_innen leisten oder haben Sie offene Türen vorgefunden?

M.Z.: Vor zwei Jahren, als die aus Betten bestehende Ausstellung Schlafstadt aufgebaut wurde, mussten wir der Verwaltung ständig hinterherrennen. Die Einladung nach Süd-Butovo erhielten Samodurov und ich nach dem erfolgreichen Verlauf des Projektes in der Schule Nr. 109. Was die örtliche Verwaltung angeht, so stand deren Leiter felsenfest hinter unserem Projekt. Aber als wir dann vor Ort konkret agierten, bekamen wir es mit anderen für den Park verantwortlichen Strukturen zu tun und stießen auf deren Widerstand, so dass wir die Kommunalverwaltung ständig um Hilfe bitten mussten.

J.F.: Gibt es in der Öffentlichkeit einen breiten Dialog über das Problem der Schlafstädte oder haben Sie diesen Diskurs erst angeregt? Welche Rolle könnte in diesem Dialog die Gegenwartskunst spielen?

M.Z.: Einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die Schlafstädte gibt es vorerst nicht. Für den 16. November 2011 planen wir im GZSI, dem Staatlichen Zentrum für zeitgenössische Kunst, ein Rundtischgespräch zu diesem Thema. Dazu sind Sie herzlich eingeladen. Ich hoffe, dass diese Veranstaltung Auslöser für einen solchen Dialog wird.

J.F.: Die Ausstellung ist nun zu Ende. Was sind Ihre künstlerischen Pläne?

M.Z.: Ich probiere gern etwas Neues aus, deshalb versuche ich, jedes Projekt der Reihe Schlafstadt so zu gestalten, dass es sich vom vorhergehenden abhebt. Mir liegen zurzeit mehrere Angebote vor, die aber im Wesentlichen auf eine Wiederholung des Projektes in Süd-Butovo abzielen. Das Interessanteste, so meine ich, wäre gegenwärtig der Versuch, anstelle einer zeitweiligen Ausstellung etwas ins Leben zu rufen, was einer Schlafstadt auf Dauer erhalten bleibt. Für mich als Künstlerin ist es sehr interessant mit dem städtischen Raum zu arbeiten, weil dieser ein sehr schwieriges Material darstellt, das voller Überraschungen steckt.

 

Dieses Interview erschien erstmalig im Online-Magazin „Deutschland und Russland“ des Goethe-Instituts Russland.

Zum Nachlesen empfiehlt sich auch Julia Fertigs ausführlicher Bericht zu diesem Projekt (samt Bildergalerie) „Auf nach ArMKADien. Public Art in der Trabantenstadt?“.

Bildquelle: Marina Zvjaginceva 2009, © Julia Zakirova.

Kunst in der Schlafstadt - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Kunst in der Schlafstadt

Die Kura­torin Marina Zvja­ginceva orga­ni­sierte von 2009 bis 2011 meh­rere Kunst­pro­jekte in den Schlaf­städten der Mos­kauer Peri­pherie. Was pas­siert, wenn Aus­stel­lungen den geschützten Raum der Galerie ver­lassen und auf Distanz zur eta­blierten Kunst­welt gehen? Im Inter­view mit Julia Fertig erzählt Marina Zvja­ginceva, wie die Men­schen am Rande der Metro­pole auf Public Art reagieren.

Kunst in der Schlafstadt

 

Julia Fertig: Das Thema „Schlaf­städte“ beschäf­tigt Sie schon seit län­gerer Zeit. Warum möchten Sie zeit­ge­nös­si­sche Kunst aus­ge­rechnet dort prä­sen­tieren oder anders gefragt: was reizt Künstler_innen an diesen Orten?

Marina Zvja­ginceva: Ers­tens wohne ich selbst in einer Schlaf­stadt und kenne die Distanz zur Kunst­welt, deren Leben sich im Stadt­zen­trum kon­zen­triert, aus eigener Erfah­rung. Zwei­tens werden Aus­stel­lungen immer wieder von einem begrenzten Publi­kums­kreis besucht, wäh­rend die meisten Men­schen, wie zum Bei­spiel meine Nach­barn und Freunde, sprich die Men­schen aus meinem Umfeld, denen ich täg­lich begegne, von zeit­ge­nös­si­scher Kunst nichts wissen, obwohl sie in punkto Theater, Musik und Bal­lett durchaus auf dem Lau­fenden sind. Ich sehe meine Auf­gabe darin, den Mythos von der Schlaf­stadt als kul­tur­freiem Raum zu zer­stören. Ein zweiter Mythos sug­ge­riert, zeit­ge­nös­si­sche Kunst sei etwas Abge­schot­tetes und dem Volk nicht zugäng­lich. Wenn das so wäre, wie könnte es dann zeit­ge­nös­si­sche Kunst sein, wenn Zeit­ge­nossen keinen Zugang zu ihr finden? Ein wei­terer Mythos betrifft die Selbst­wahr­neh­mung der Bewohner von Schlaf­städten, die das Gefühl eines Daseins am Rande emp­finden. In den Schlaf­städten gibt es keine his­to­ri­schen Denk­mäler oder tou­ris­ti­schen Sehens­wür­dig­keiten und nur zeit­ge­nös­si­sche Kunst kann diese Lücke schließen und den Men­schen in den Außen­be­zirken ein Gefühl von „Zen­trum“ ver­mit­teln. Für die Künstler selbst ist das eine inter­es­sante und über­ra­schende Erfah­rung. Wenn der Künstler seine Werke einem ein­schlägig nicht vor­ge­bil­deten Publikum prä­sen­tiert, kann er sich nicht hinter seinem Back­ground ver­ste­cken, denn nie­mand weiß, in wel­chen coolen Gale­rien er aus­stellt und Mit­glied wel­cher Ver­bände er ist. Die Zuschauer reagieren einzig auf seine Werke. Somit ist der Künstler dem unver­fälschten Kon­takt mit dem Publikum aus­ge­setzt und spürt genau, ob sein Werk emo­tional anspricht oder nicht.

J.F.: Ihr Pro­jekt wurde häufig mit der Bewe­gung der Pered­viž­niki, der Wan­der­maler aus dem 19. Jahr­hun­dert, ver­gli­chen. Sehen Sie sich tat­säch­lich in dieser Tradition?

M.Z.: Als das Pro­jekt Schlaf­stadt in den Anfängen steckte, hätte ich nicht gedacht, dass daraus ein ganzes Pro­gramm werden würde, und ich bin ein­fach einem krea­tiven Impuls gefolgt. Ich fand es ein­fach inter­es­sant mich Auf­gaben zu stellen, deren Bewäl­ti­gung anderen unmög­lich schien. Jetzt, nachdem vier voll­wer­tige Pro­jekte unter dem gemein­samen Motto Schlaf­stadt hinter mir liegen, kann ich bestä­tigen, dass diese Idee die Tra­di­tion der Pered­viž­niki gewis­ser­maßen in moderner Lesart fortsetzt.

 

Begeg­nung von Zen­trum und Peripherie

J.F.: Positiv wurde auf­ge­nommen, dass das Pro­jekt ganz ohne das Her­aus­kehren kul­tu­reller Über­le­gen­heit und Über­heb­lich­keit auskam und dabei die didak­ti­sche Kom­po­nente nicht ver­lo­ren­ging. Ebenso zu spüren waren das Inter­esse von Seiten der Künstler und ihre Offen­heit gegen­über Themen und Formen, die für die „nor­malen“ Bewohner_innen rele­vant sind. Trotz allem bleibt der Cha­rakter einer Begeg­nung des Zen­trums mit der Peri­pherie. Wie ist es Ihnen gelungen, nicht als ver­ein­nah­mende Mis­sio­narin zu wirken?

M.Z.: Ich fühle mich nicht als Mis­sio­narin! Ich lebe selbst in diesem Umfeld und kenne all seine Vor- und Nach­teile. Mir gefällt das Leben in der Schlaf­stadt und ich möchte den Schwer­punkt zeit­ge­nös­si­scher Kunst all­mäh­lich vom Zen­trum in die Außen­be­zirke ver­la­gern. Ich dränge nie­mandem etwas auf. Ich möchte den Men­schen (sowohl den Bewoh­nern als auch den Künst­lern) die Ent­schei­dung selbst über­lassen und ihnen neue Mög­lich­keiten auf­zeigen, die sie vorher nicht kannten. Natür­lich haben Jurij Samo­durov und ich bei der Aus­wahl der Pro­jekte die lokale Spe­zifik berück­sich­tigt, aber wir haben nicht ver­sucht, die Pro­jekte um der bes­seren Ver­ständ­lich­keit willen zu „ver­sim­peln“. Die aus­ge­hängten Begleit­kom­men­tare waren völlig aus­rei­chend. Etwas anderes ist, dass die Wir­kung vieler Pro­jekte davon abhängt, ob sie in einer Galerie oder im Freien aus­ge­stellt werden. So wird zum Bei­spiel ein Haufen Müll, aus­ge­stellt in einer Galerie, zum Kunst­werk, im Freien hin­gegen bleibt er ein­fach nur Müll.

J.F.: Was wird in Süd-Butovo bis zur nächsten Bien­nale pas­sieren? Ver­bleibt etwas von den Objekten bezie­hungs­weise von der Idee und dem Geist im öffent­li­chen Raum? Gibt es Nachahmer_innen? Oder war es ein Pro­jekt mit rein uto­pi­scher Dimen­sion, so dass Public Art auch in Zukunft im Land jen­seits der Mos­kauer Ring­au­to­bahn ein Fremd­wort bleibt?

M.Z.: Die Ver­wal­tung von Süd-Butovo möchte sechs der Bau­wagen stehen lassen und sie als Raum für Aus­stel­lungen nutzen, um auf diese Weise hier eine Galerie für Gegen­warts­kunst zu schaffen. Einige der Pro­jekte aus unserer Aus­stel­lung werden in den Bau­wagen ver­bleiben, ein Teil der Expo­si­tion wird jeweils neu gestaltet. Diese Idee befindet sich im Moment in der Dis­kus­sion und man ist dabei, die Bedin­gungen für die Arbeit aus­zu­loten. Ich hoffe, dass das klappt. Aber zugleich befürchte ich, dass alle Gespräche im Sand ver­laufen könnten und damit die Welle der Akti­vi­täten, die vom „Haus des Künst­lers“ im Mos­kauer Zen­trum aus­ge­löst wurde, in Süd-Butovo ver­ebben könnte. Im Gegen­satz zu Jurij Samo­durov meine ich, dass dies nicht die letzte Aus­stel­lung ihrer Art gewesen ist, denn schon jetzt habe ich meh­rere Ange­bote, das Pro­jekt Schlaf­stadt fort­zu­setzen. Eigent­lich diente bisher jede Aus­stel­lung als Impuls für die nächste. Und mein staune immer wieder, dass dieses Thema so stark nach­ge­fragt ist.

J.F.: Gehen wir etwas kon­kreter auf die Aus­stel­lung ein: Meiner Auf­fas­sung nach spre­chen die von Ihnen aus­ge­wählten Werke eine klare ästhe­ti­sche Sprache. Welche Ziele hatten Sie als Kura­torin, das heißt nach wel­chen Kri­te­rien haben Sie geeig­nete Kunst­werke bezie­hungs­weise die teil­neh­menden Künstler_innen ausgewählt?

M.Z.: Von mir als Künst­lerin stammt die Idee, den Bau­wagen als Aus­stel­lungs­modul zu nutzen. Jurij Samo­durov ent­wi­ckelte die Mytho­logie des Pro­jektes, bei dem alle Objekte aus den vor Ort ver­füg­baren Mate­ria­lien ent­stehen und von den Künst­lern gemeinsam mit Bewoh­nern und Ein­rich­tungen des Bezirks (sowohl realen als auch fik­tiven) geschaffen werden. Unsere Auf­gabe als Kura­toren bestand darin, die Künstler zu ermu­tigen, ihre Werke ohne Bedenken im öffent­li­chen städ­ti­schen Raum aus­zu­stellen und ihnen die Angst vor Van­da­lismus zu nehmen. Außerdem hatten wir uns zum Ziel gesetzt, dass jedes Pro­jekt einen bestimmten Bezug zur Geschichte und zum Leben des Stadt­be­zirks auf­weisen soll, sowohl real als auch aus mytho­lo­gi­scher Sicht. Ich hoffe, das ist uns gelungen.

 

„Cool“ urteilten 70% der Bewohner_innen

J.F.: Erzählen Sie bitte über die Begeg­nungen mit den Bewoh­nern vor Ort und deren Reak­tionen auf Ihre Prä­senz in Süd-Butovo.

M.Z.: Als die ersten Bau­wagen vor Ort ein­trafen, rückten zunächst jede Menge Gast­ar­beiter an! Nachdem die ersten künst­le­ri­schen Objekte aus­zu­ma­chen waren (zum Bei­spiel die Ameise von Mit­enev auf dem Dach eines Bau­wa­gens), wurde man neu­gierig und stellte vor allem die Frage: Was soll das hier werden? Das heißt, den Men­schen wurde klar, dass das keine Bau­stelle ist, son­dern etwas anderes. Wir haben allen aus­führ­lich erklärt, was man sich unter einer Bien­nale und unter Gegen­warts­kunst vor­zu­stellen hat.

J.F.: Konnten Sie Ver­än­de­rungen in der Hal­tung der Men­schen gegen­über dem Pro­jekt vor und nach der Aus­stel­lung beobachten?

M.Z.: Im Vor­feld der Aus­stel­lung äußerten die Anwohner über­wie­gend Ver­wun­de­rung oder Ableh­nung gegen­über den „häss­li­chen Bau­wagen in unserem geliebten Park“. Nachdem die Wagen für die Besu­cher geöffnet wurden, gab es einen Rie­sen­an­sturm, denn man wollte end­lich erfahren, was es da Inter­es­santes zu sehen gibt. Die Reak­tionen der Besu­cher zer­fiel in vier Gruppen. Etwa 10% der Anwohner haben das Pro­jekt harsch abge­lehnt. Sie fanden es „abnorm, häss­lich“. Zu dieser Gruppe zählten vor allem aktive Senioren und Hun­de­lieb­haber. Die größte Gruppe, etwa 70%, fanden das Pro­jekt „cool“. Das waren vor allem Jugend­liche, Kinder und vor­ur­teils­freie Erwach­sene. Dann gab es etwa 15 %, die meinten: „Ver­stehe ich nicht und will ich auch nicht ver­stehen.“ Und den kleinsten Teil von etwa 5 % der Besu­cher machten die­je­nigen aus, die so etwas für not­wendig, wichtig und inter­es­sant erachten. Sie haben auf diese Weise die zeit­ge­nös­si­sche Kunst für sich ent­deckt und sind froh dar­über, dass man dazu nicht erst ins Zen­trum von Moskau fahren muss.

So in etwa würde ich die Reak­tion des Publi­kums, aus­ge­hend von meinen per­sön­li­chen Ein­drü­cken, beschreiben. Die größte Akti­vität ent­wi­ckeln natür­lich die Aus­stel­lungs­gegner. Sie schreiben Beschwerden an die ört­liche Ver­wal­tung, erheben laut­stark Pro­test und das wird natür­lich am ehesten wahr­ge­nommen. Aber nach den Gesprä­chen mit den Zuschauern wird einem klar, dass solche Reak­tionen die Aus­nahme sind. Der Grund­tenor in den Reak­tionen der Anwohner ist fol­gender: sie zeigen sich inter­es­siert, ani­mieren ihre Freunde zum Besuch der Aus­stel­lung und berichten mit Stolz, dass ihr Stadt­be­zirk etwas Beson­deres auf­zu­weisen hat.

J.F.: Nach dem Besuch der Aus­stel­lung habe ich bemerkt, dass Kinder und Jugend­liche sehr positiv und locker auf das Event reagierten, wäh­rend die Erwach­senen häufig ihr Unver­ständnis gegen­über der in ihren Augen häss­li­chen Gegen­warts­kunst äußerten. Die Situa­tion von Kin­dern fand the­ma­tisch ihren Aus­druck auch in einigen Werken der Aus­stel­lung. Ist das eine Pro­ble­matik, die Sie beson­ders interessiert?

M.Z.: Das Thema Kinder ging aus den beiden vor­an­ge­gan­genen Aus­stel­lungen hervor, die in Schulen statt­ge­funden haben, und zwar in der Schule Nr. 45 in Lju­bercy (Sep­tember 2010, in Zusam­men­ar­beit mit A. Panov) und in der Schule Nr. 109 in Moskau (Januar 2011, in Zusam­men­ar­beit mit J. Samo­durov). Die Kinder der Schule Nr. 109 haben gemeinsam mit Künst­lern einen Teil der Arbeiten für die Aus­stel­lung „Schlaf­stadt. Offener Unter­richt“ gestaltet und in Butovo kre­ierten sie ohne fremde Hilfe ihre eigene Aus­stel­lung in einem der Bauwagen.

 

Dialog über die Kunst in der Schlafstadt?

J.F.: Wie ver­lief die Zusam­men­ar­beit mit der Ver­wal­tung des Stadt­be­zirkes? Mussten Sie Auf­klä­rungs- und Über­zeu­gungs­ar­beit unter den Mitarbeiter_innen leisten oder haben Sie offene Türen vorgefunden?

M.Z.: Vor zwei Jahren, als die aus Betten bestehende Aus­stel­lung Schlaf­stadt auf­ge­baut wurde, mussten wir der Ver­wal­tung ständig hin­ter­her­rennen. Die Ein­la­dung nach Süd-Butovo erhielten Samo­durov und ich nach dem erfolg­rei­chen Ver­lauf des Pro­jektes in der Schule Nr. 109. Was die ört­liche Ver­wal­tung angeht, so stand deren Leiter fel­sen­fest hinter unserem Pro­jekt. Aber als wir dann vor Ort kon­kret agierten, bekamen wir es mit anderen für den Park ver­ant­wort­li­chen Struk­turen zu tun und stießen auf deren Wider­stand, so dass wir die Kom­mu­nal­ver­wal­tung ständig um Hilfe bitten mussten.

J.F.: Gibt es in der Öffent­lich­keit einen breiten Dialog über das Pro­blem der Schlaf­städte oder haben Sie diesen Dis­kurs erst ange­regt? Welche Rolle könnte in diesem Dialog die Gegen­warts­kunst spielen?

M.Z.: Einen breiten gesell­schaft­li­chen Dialog über die Schlaf­städte gibt es vor­erst nicht. Für den 16. November 2011 planen wir im GZSI, dem Staat­li­chen Zen­trum für zeit­ge­nös­si­sche Kunst, ein Rund­tisch­ge­spräch zu diesem Thema. Dazu sind Sie herz­lich ein­ge­laden. Ich hoffe, dass diese Ver­an­stal­tung Aus­löser für einen sol­chen Dialog wird.

J.F.: Die Aus­stel­lung ist nun zu Ende. Was sind Ihre künst­le­ri­schen Pläne?

M.Z.: Ich pro­biere gern etwas Neues aus, des­halb ver­suche ich, jedes Pro­jekt der Reihe Schlaf­stadt so zu gestalten, dass es sich vom vor­her­ge­henden abhebt. Mir liegen zur­zeit meh­rere Ange­bote vor, die aber im Wesent­li­chen auf eine Wie­der­ho­lung des Pro­jektes in Süd-Butovo abzielen. Das Inter­es­san­teste, so meine ich, wäre gegen­wärtig der Ver­such, anstelle einer zeit­wei­ligen Aus­stel­lung etwas ins Leben zu rufen, was einer Schlaf­stadt auf Dauer erhalten bleibt. Für mich als Künst­lerin ist es sehr inter­es­sant mit dem städ­ti­schen Raum zu arbeiten, weil dieser ein sehr schwie­riges Mate­rial dar­stellt, das voller Über­ra­schungen steckt.

 

Dieses Inter­view erschien erst­malig im Online-Magazin „Deutsch­land und Russ­land“ des Goethe-Insti­tuts Russ­land.

Zum Nach­lesen emp­fiehlt sich auch Julia Fer­tigs aus­führ­li­cher Bericht zu diesem Pro­jekt (samt Bil­der­ga­lerie) „Auf nach ArM­KA­Dien. Public Art in der Tra­ban­ten­stadt?“.

Bild­quelle: Marina Zvja­ginceva 2009, © Julia Zakirova.