Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Wir sind in einer anderen Epoche angekommen…“

Ein Inter­view mit dem Künstler Ana­tolij Osmolovskij

 

Weniger poli­tisch und skan­dalös als früher, und doch nicht weniger umstritten, ist die aktu­elle Kunst­pro­duk­tion Ana­tolij Osmo­lovs­kijs. Umgeben von einer kleinen Samm­lung alter rus­si­scher Kult­ob­jekte sowie den Objekten des Künst­lers selbst, in seiner Woh­nung, unweit der Kras­naja Presnja Straße in Moskau, fand dieses Gespräch über Kunst und Politik statt.

 

osmolovskij

novinki: Ana­tolij, wie hat Ihr künst­le­ri­sches Schaffen begonnen?

 

Ana­tolij Osmo­lovskij.: Ich bin aus Moskau. Ich habe als Schrift­steller ange­fangen, als Dichter. Mit 17, 18 Jahren, als die Pere­strojka anfing und Frei­heit und Glas­nost ver­kündet wurden, habe ich Gedichte auf öffent­li­chen Plätzen gelesen, und auf der Straße. Da die rus­si­sche Lite­ra­tur­szene in intel­lek­tu­eller Hin­sicht doch recht pri­mitiv ist, haben ich und meine Freunde uns zuneh­mend von ihr distan­ziert. Schritt­weise bin ich in den Bereich der Per­for­mance gerutscht, und später in den der bil­denden Kunst.

 

n.: Diese Gruppe nannte sich „Minis­te­rium PRO UdSSR“, richtig? In einem anderen Inter­view habe ich gelesen, dass zu der Zeit, als der Per­for­mance-Aspekt für euch an Bedeu­tung gewann, ihr eines der Mit­glieder aus eurer Gruppe wegen bour­geoiser Ten­denzen aus­ge­schlossen habt. Habt ihr euch dabei an Prak­tiken der Avant­garde orientiert?

 

A.O.: Unsere Gruppe bestand aus drei Per­sonen: Dmitrij Pimenov, der Dichter Georgij Turov, ich. Hinzu kam noch ein asso­zi­iertes Mit­glied. Georgij Turov, der, soweit ich weiß, inzwi­schen nicht mehr dichtet und in Deutsch­land lebt, hatte sich selbst von unserer Gruppe ent­fernt, wor­aufhin wir ihn aus­ge­schlossen haben. Der Aus­schluss erfolgte im Ein­ver­nehmen. Turov war ein sehr talen­tierter Mensch. Schade, dass er auf­ge­hört hat, Texte zu schreiben und ein gewöhn­li­cher Spießer geworden ist. Wir hatten also Recht.

 

n.: Also hatte dieser Akt selbst keine künst­le­ri­schen Konnotationen?

 

A.O.: In einem gewissen Sinne hatte er welche. Da war ein Nach­hall der Unver­söhn­lich­keit der Avant­garde. Im Prinzip haben wir damals die künst­le­ri­sche Qua­lität eng an die poli­ti­sche Posi­tion gebunden. Heute bin ich der Mei­nung, dass künst­le­ri­sche Qua­lität von der poli­ti­schen Posi­tion unab­hängig ist. Was den lite­ra­ri­schen Wert von Turovs Texten angeht, so schätze ich diesen auch heute ziem­lich hoch ein, und bedaure, dass er auf­ge­hört hat, sich ernst­haft mit Lite­ratur zu beschäftigen.

 

n.: Im Jahr 1990 haben Sie dann die Ver­an­stal­tung „Die Spren­gung der Nou­velle vague“ orga­ni­siert. An einem Abend wurde vor der Lein­wand, auf der Louis Malles Zazie gezeigt wurde, die letzte Prü­gel­szene nach­ge­stellt, unter Betei­li­gung von Boxern und einem 200 kg schweren Bären. Sagen Sie bitte, wie es dazu kam? Ori­en­tierten sie sich an Vor­bil­dern der west­li­chen Avant­garde, spielte der Lett­rismus eine Rolle? Und wenn ja, warum haben Sie gerade in diesem his­to­ri­schen Moment an die Tra­di­tion der Avant­garde angeknüpft?

 

A.O.: Wir waren sehr große Fans der Nou­velle vague. Wir haben uns nicht nur ein­fach die Filme ange­sehen, son­dern ernst­haft das Medium Film erforscht. Ers­tens reizte uns die poli­ti­sche Enga­giert­heit. Ins­be­son­dere Godard. Zwei­tens haben wir die Mon­tage stu­diert, haben allerlei film­theo­re­ti­sche Texte gelesen, ins­be­son­dere von den rus­si­schen Regis­seuren – Lev Kulešov und Sergej Ėjzenš­tejn. Wir hatten den Ein­fall, Kino zu machen. Wir haben uns sogar eine 16-mm-Kamera gekauft und wollten einen Film drehen, aber ein ganzer Film ist dabei nicht her­aus­ge­kommen. Das konnten wir finan­ziell nicht stemmen. Schließ­lich war die Sowjet­union ein Staat, in dem unter den Men­schen Gleich­heit in der Armut herrschte: Nie­mand hatte Startkapital.

 

n.: Kanntet Ihr damals die Per­for­mances der Lett­risten in Kino­sälen? Waren sie bekannt?

 

A.O.:Nein. Bekannt waren sie auf der Ebene irgend­wel­cher Legenden, Gerüchte. Wir wussten frei­lich von der lett­ris­ti­schen Inter­na­tio­nale, von der Situa­tio­nis­ti­schen Inter­na­tio­nale, aber am Anfang der 1990er Jahre waren ihre Texte nicht über­setzt. Später erst, im Jahr 1998, habe ich eine Reihe von Texten der Situa­tio­nis­ti­schen Inter­na­tio­nale über­setzt – die lett­ris­ti­schen Texte gibt es bis heute nicht auf Rus­sisch. Dann haben wir Ende der 1990er Jahre zusammen mit unseren Phi­lo­so­phen­freunden Die Gesell­schaft des Spek­ta­kels von Guy Debord übersetzt.

 

n.: Und gab es für Euch das Pro­blem der Wie­der­ho­lung der Avant­garde-Prak­tiken, das Avdej Ter-Ogan’jan unter­sucht hat?

 

A.O.: Ter-Ogan’jan ist ein radi­kaler Ver­treter der Post­mo­derne. Sicher­lich, auch wir waren von post­mo­dernen Stra­te­gien ange­steckt, ins­ge­samt war unser Inter­esse aber dem avant­gar­dis­ti­schen Para­digma des Schaf­fens näher. Und wir haben das alles ernst gemeint. Ter-Ogan’jan beschäf­tigte sich damit hin­gegen auf iro­ni­sche Weise, in der Art eines Witzes oder einer Comedy-Show. Erst später, als gegen ihn wegen der ver­meint­li­chen Schän­dung von Ikonen ein Straf­ver­fahren ange­strengt wurde, fing er an, sich mit einer grö­ßeren Ernst­haf­tig­keit damit zu beschäf­tigen. Denn wenn sie anfangen dich straf­recht­lich zu ver­folgen, wird es schwer, Witze zu machen.

 

n.: Im Jahr 1990 fand auch Eure erste Aktion ‚auf der Straße’ statt, und zwar aus­ge­rechnet auf dem Roten Platz.

 

A.O.: Als wir „Die Spren­gung der Nou­velle Vague“ durch­führten, machten wir auch die erste Per­for­mance auf dem Roten Platz. Da war das aber noch gar keine Aktion, son­dern der Dreh des von mir bereits erwähnten ersten Films, der „Zwei Zwanzig“ hieß. Der Film war gedacht als eine Art Abfolge von kleinen Sket­chen, und der zen­trale Ort, auf den alle Sujets zuliefen, war der Rote Platz. Da das mit dem Film aber nicht klappte, wurde eben eine Aktion daraus. Die Idee war, dass Leute eine Stange Wurst für Zwei Zwanzig aßen. Damals gab es bei uns in Russ­land zwei Sorten Wurst: Zwei Zwanzig und Zwei Neunzig. Zwei Rubel und zwanzig Kopeken kos­tete die am wei­testen ver­brei­tete Wurst, und zwei neunzig, die eher eli­tä­rere Wurst. Und unseren Film bauten wir rund um diese Wurst, und nahmen von da aus auf ver­schie­dene Pro­bleme der sowje­ti­schen Gesell­schaft Bezug.

 

n.: Diese Aktion haben Sie mit der Gruppe „Ent­eig­nung des Ter­ri­to­riums der Kunst“ („Eks­pro­pria­cija ter­ri­torii iskusstva“) durch­ge­führt. Können Sie sagen, welche Rolle das Pro­blem des öffent­li­chen post­so­wje­ti­schen Raums in dieser Zeit spielte?

 

A.O.: Im Grunde genommen haben Pro­bleme dieser Art für mich nicht exis­tiert. Das ist ein west­li­cher Dis­kurs mit dem öffent­li­chen Raum, die Inter­pre­ta­tionen der Aneig­nung des öffent­li­chen Raums tauchten hier erst Mitte der 1990er Jahre auf. Vorher aber waren alle diese dis­kur­siven Pro­bleme nicht aktuell. In erster Linie haben wir unsere Gruppe als ein bestimmtes Modell einer kol­lek­tiven Tätig­keit ent­worfen. Bis 1991 haben wir unter­schied­liche Fes­ti­vals und Kund­ge­bungen mit großen Gruppen in den Kul­tur­pa­lästen gemacht. Es gab eine ganze Reihe sol­cher Häuser, in denen Dichter ihre Verse lasen. Zu dieser Zeit war die Poesie sehr populär und füllte Säle von 300, 400 oder 500 Men­schen. Sogar wir als ganz unbe­kannte Dichter konnten ganz locker 150 Leute zusam­men­kriegen. Und so war „Die Spren­gung der Nou­velle Vague“ eine dieser Varia­tionen, und zwar im Kul­tur­pa­last der Mos­kauer Staat­li­chen Uni­ver­sität auf der Alex­ander-Herzen-Straße. Unsere Ver­an­stal­tungen haben sich immer gerechnet, wir machten auch gut Reklame. Als aber dann die erste Preis­an­he­bung am 1. Januar 1991 kam, ging der ganze öko­no­mi­sche Aspekt baden. Sämt­liche Kul­tur­pa­läste fingen an hun­dert­pro­zen­tige Vor­ab­zah­lungen zu for­dern, und so waren unsere Auf­tritte auf den Straßen zum großen Teil Ergebnis der Tat­sache, dass man nicht mehr in den Kul­tur­pa­lästen auf­treten konnte. Natür­lich gab es da auch ein bestimmtes Gefühl einer gewissen Frei­heit, irgend­welche poli­ti­schen Illu­sionen. Ich denke, eine Idee kommt einem nicht grundlos ein­fach so, son­dern viel­mehr durch ein Gefühl für die Zeit. Die Idee etwa, auf dem Roten Platz auf­zu­treten, war schon ein halbes Jahr zuvor auf­ge­kommen, ehe es unmög­lich wurde, in den Kul­tur­pa­lästen auf­zu­treten. Und als die Vor­aus­zah­lungen gefor­dert wurden, kam die Idee wieder hoch. Und wir haben sie rea­li­siert. Aber wenn es mög­lich gewesen wäre in den öffent­li­chen kul­tu­rellen Ver­an­stal­tungs­orten etwas zu machen, dann hätten wir diese Aktion viel­leicht nicht rea­li­siert. Das ist ein wech­sel­sei­tiger Pro­zess. Die sozialen Gege­ben­heiten steuern den Künstler auf die eine oder andere Imple­men­tie­rung hin.

 

n.: Aber dann wurden Aktionen auf der Straße Ihre künst­le­ri­sche Stra­tegie und die Stra­tegie auch von einigen anderen Künst­lern, wie Oleg Kulik, Sascha Brener…

 

A.O.: Aller­dings fingen die doch bedeu­tend später an, das auch zu machen, 1994/95/96.

 

n.: Und wenn man den Mos­kauer Aktio­nismus im Ganzen betrachtet, kann man dann nicht sagen, dass eigent­lich 80% der Aktionen im Gale­rie­raum stattfanden?

 

A.O.: Nein, gerade das Gegen­teil ist der Fall. Die haupt­säch­liche Akti­vität war im öffent­li­chen Raum, der auf kei­nerlei Weise mit kul­tu­rellen Ein­rich­tungen ver­bunden war, von denen es in dieser Zeit tat­säch­lich nur sehr wenige gab. Ja, Kuliks ‚Hund’-Aktion war tat­säch­lich mit der Galerie Gel’man ver­bunden. Sie fand aber vor dem Ein-gang in die Galerie statt, also auch im öffent­li­chen Raum. Da gab es ein spie­le­ri­sches Moment: gleichsam als ob der Hund die Leute die Galerie nicht betreten lässt, indem er die Tür der Galerie Gel’man bewacht.

 

n.: Und wann fingen Sie an, mit der Galerie Ridžina zusammenzuarbeiten?

 

A.O.: 1991. Ich machte die Aus­stel­lung „Tag des Wis­sens“. Das war meine erste Aus­stel­lung, meine und die meiner Freunde. Das war in Vielem auch ein ganz natür­li­cher Vor­gang, da unab­hän­giges, pro­fes­sio­nelles Schaffen ein­fach unmög­lich wurde. Die Kul­tur­pa­läste schlossen, ver­wan­delten sich in Auto­sa­lons, Möbel­häuser, hörten auf als kul­tu­relle Mar­kie­rungs­punkte zu funk­tio­nieren. Um das Jahr 1991 herum endete diese Atmo­sphäre der Neue­rung, die in der Zeit der Pere­strojka ein­ge­setzt hatte. 1991, sobald die ersten Reformen ein­setzten, nicht die von Gajdar, son­dern die von Pavlov, starb das kul­tu­relle Leben in Moskau. Zudem ging das Inter­esse der Men­schen am Kul­tur­leben zurück, weil die Preise das erste Mal dra­ma­tisch anstiegen, und die Leute in eine tiefe Depres­sion fielen.

 

n.: Ein anderer Raum, der große Bedeu­tung hatte, waren die Mas­sen­me­dien. Nach den Worten des Kunst­kri­ti­kers Andrej Kovalev waren die Bezie­hungen zwi­schen den Mas­sen­me­dien, die gerade neu erfunden wurden, und den Künst­lern recht freund­schaft­lich. Finden Sie auch, dass es da eine ganz andere Situa­tion gab?

 

A.O.: Ohne jeg­li­chen Zweifel. Viele pro­fes­sio­nelle Kunst­wis­sen­schaftler, wie zum Bei­spiel Kovalev, waren gezwungen in den Zei­tungs­jour­na­lismus zu gehen. Wir ori­en­tierten uns zu dieser Zeit an einem Modell des anonymen Zuschauers, zu dem ein Pas­sant werden konnte, ein Jour­na­list, der darauf reagierte, was wir machten. Aber eben in dieser Zeit dünnte unser Publikum deut­lich aus. Man ver­stand, dass einen ganz kon­krete Men­schen wahr­nahmen, die man selbst per­sön­lich kannte, dem großen Publikum aber war unsere Tätig­keit ins­ge­samt recht egal. Ich bin den 1990ern gegen­über sehr skep­tisch ein­ge­stellt. Der Zustand der Gesell­schaft in dieser Zeit war schau­der­haft: es herrschte das abso­lute Chaos, es gab Depres­sionen und Aggres­sionen in breiten Schichten der Gesellschaft.

 

n.: Und was dachten Sie in den 1990er Jahren über den Kapi­ta­lismus? Sie waren, soweit ich das ver­stehe, unter dem Ein­fluss von Deleuze. Bei diesem aber ist der Kapi­ta­lismus eine zwei­schnei­dige Ange­le­gen­heit. Für ihn ist der Kapi­ta­lismus auch ein System, das auf dem Begehren auf­ge­baut ist, und das Repres­sionen durch ‚Staats­ma­schinen’ abschafft. Gab es da auch eine gewisse Fas­zi­na­tion für das kapi­ta­lis­ti­sche System in post­so­wje­ti­scher Zeit?

 

A.O.: Unsere Gruppe stand dem Kapi­ta­lismus recht skep­tisch gegen­über, aber nicht auf­grund einer per­sön­li­chen Erfah­rung – hatten wir doch nicht unter dem Kapi­ta­lismus gelebt, kannten weder die Grund­lagen seines Bestehens, noch die Mecha­nismen seiner Funk­ti­ons­weise. In gewissem Sinne stellt sich uns das bis heute unzu­rei­chend dar. Ich denke, dass die Men­schen hier in dieser Hin­sicht uner­fahren sind. Sie leben in einem Regime, dessen sie sich nicht ganz bewusst geworden sind. Des­wegen beruhte unser skep­ti­sches Ver­hältnis zu den Ereig­nissen der 1990er Jahre auf his­to­ri­schen Zeu­gen­aus­sagen von Künst­lern, deren Texte wir lasen. 99,9% der künst­le­ri­schen Szene aber sangen der Bour­geoisie, die wir nicht hatten, dem Spieß­bürger das Hosi­anna. Unsere Ant­wort darauf war: wenn ihr den Spieß­bürger lob­preist, dann lob­preist ihr die Bana­lität, weil der Spieß­bürger sich an banalem Ver­halten und banaler Kunst ori­en­tiert. Wenn ihr die Bour­geoisie lob­preist, dann lob­preist ihr Par­ti­ku­la­rismus und schlechten Geschmack. Und Deleuze – das ist wirk­lich ein wich­tiger Autor. Trotz allem avant­gar­dis­ti­schen Pathos’ spürten wir näm­lich den Ein­fluss der post­mo­dernen Kultur. Und inner­halb dieser Kultur suchten wir irgend­welche Autoren, die für uns inter­es­sant sein konnten, die uns Ideen für unser Schaffen lie­fern konnten. In dieser Hin­sicht schien mir von allen Autoren Deleuze der ernst­haf­teste zu sein, und ins­be­son­dere sein Buch Anti-Ödipus. Kapi­ta­lismus und Schi­zo­phrenie. Das gab es in Russ­land nur in einer sehr gekürzten Fas­sung, aber immerhin war es eine sehr gute Über­set­zung von Michail Ryklin. Ich habe dieses Buch etwas anders gelesen als die meisten in dieser Zeit. Die Sache ist, dass deine Schluss­fol­ge­rungen sehr von deinem Blick­winkel abhängen. Man kann dieses Buch aus der Per­spek­tive eines klas­si­schen post­mo­dernen Ansatzes lesen, aber auch aus der Per­spek­tive der Avant­garde, und diese Les­arten haben die post­mo­dernen Autoren auch selbst ange­legt. Bei Deleuze ist eine Unzahl von Ideen da, die dann Grund­lage des post­mo­der­nis­ti­schen Vor­ge­hens wurden. Er hat recht radi­kale poli­ti­sche Ideen, unter anderem die Idee des Kapi­ta­lismus als Wunsch­ma­schine, die Idee vom Schi­zo­phrenen, der ein grö­ßerer Kapi­ta­list werden soll als der eigent­liche Kapi­ta­list, um alle Grenzen zu schi­zo­phre­ni­sieren, welche der Kapi­ta­lismus zieht. Vom poli­ti­schen Stand­punkt aus gesehen ist das ein sehr uto­pi­sches und naives Schema, aber es ist recht inter­es­sant als Anlei­tung für den krea­tiven Pro­zess. Es pro­du­ziert ziem­lich viele nicht-all­täg­liche Aspekte, nicht all­täg­liche Ideen, bestimmte Ver­fahren und Argu­mente. Und unsere Aktionen gegen Ende der 1990er Jahre beruhten in Vielem auf Deleuze. Ich meine z.B. die Kam­pagne „Gegen alle Parteien“.

 

n.: Ich hatte auch diesen Ein­druck, denn in dieser Aktion, in der sie in der Duma-Wahl 1999 zum Ankreuzen der Spalte „Gegen alle Par­teien, Bünd­nisse und Kan­di­daten“ auf­riefen, voll­zieht sich eine Absage an den Wunsch, an die Reprä­sen­ta­tion des Begeh­rens. Im Zusam­men­hang mit dieser Aktion habe ich eine Frage. In einem Gespräch sagten Sie, die Idee bestünde darin diese Spalte ‚zu ver­tonen’, ihr ‚eine Stimme zu geben’. Doch hatte diese Wahl­op­tion 1999 nicht bereits eine recht große Popu­la­rität? Gerade mit dieser Spalte kämpften viele Leute doch auch für eine sau­be­rere, trans­pa­ren­tere Demo­kratie, nicht jedoch für die Abkehr von jeg­li­cher Wahl.

 

A.O.: Die Sache ist doch, dass eine rie­sige Zahl von Men­schen auf ver­schie­dene Weise mit der Spalte „Gegen alle“ stimmte. Der eine kämpfte für eine trans­pa­ren­tere Demo­kratie, und der andere kämpfte gegen die Demo­kratie als solche. Denn dem Gesetz zufolge hätten die Par­teien neu gewählt werden müssen, sollte „Protiv vsech“ die Wahl gewinnen. Dann hätten sie nicht am neuen Wahl­gang teil­nehmen können. „Gegen alle“ wurde zur glei­chen Zeit von Men­schen­recht­lern und Faschisten, rus­si­schen Nazisten, der Gruppe „Rus­si­sche natio­nale Ein­heit“ unter­stützt. Die Kam­pagne wurde auch von unbe­kannten, anonymen Leuten unter­stützt, die ganz Moskau mit Sti­ckern, mit Pla­katen aus eigener Her­stel­lung beklebten. Größ­ten­teils war das eine Reak­tion „von unten“, von ein­fa­chen Leuten. Her­aus­zu­finden, was für ideo­lo­gi­sche Motive sie bewegten, ist ziem­lich schwierig.

 

n.: Wenn Sie aber sagen, die Spalte „Gegen alle“ „ver­tonen“, ihr „eine Stimme ge-ben“ dann ist das doch ein Spiel mit Repräsentation?

 

A.O.: Ja, natür­lich. Aber ich bin ganz und gar nicht ein­ver­standen mit der Vor­stel­lung von einer „trans­pa­renten Demo­kratie“. Es gibt keine trans­pa­rente Demo­kratie. Das ist eine Illu­sion, die im Westen oder in Russ­land, wo auch immer, exis­tiert. Die Situa­tion der Wahl, das Wahl­ver­fahren, ist doch ein par­ti­ku­lares Ereignis. Eine sau­bere Demo­kratie gibt es nicht, in allen Län­dern ist sie mehr oder weniger schmutzig.

 

n.: Und wie wichtig ist für Sie dabei die Erfah­rung der Arbeit im Polit-Mar­ke­ting der 1990er Jahre?

 

A.O.: Ich habe im Polit-Mar­ke­ting in den Peri­oden der Duma-Wahlen 1995 und der Prä­si­dent­schafts­wahlen 1996 gear­beitet. Ich hatte in dieser Zeit prak­tisch keine Aus­stel­lungen, weil das eine echte Galee­ren­ar­beit ist. Zweimal 24 Stunden musste man arbeiten, dann konnte man 24 Stunden aus­ruhen, und das für den Zeit­raum eines halben Jahres. Dadurch habe ich aber erfahren, wie Politik in dieser Zeit gemacht wurde. Und ich kann völlig ein­deutig bezeugen, dass in den 1990er Jahren von irgend­einer Demo­kratie nicht die Rede sein konnte.

 

n.: Und was haben Sie gemacht, wenn das kein Geheimnis ist?

 

A.O.: Es ist ein Geheimnis.

 

n.: An der Aktion „Bar­ri­kade“, in der Sie zum 30jährigen Jubi­läum der Pariser Blo­ckade die Bol’šaja-Nikitskaja-Straße ver­sperrten, haben immerhin 250 Leute teil­ge­nommen. Hatte RADEK denn Ver­bin­dungen mit poli­ti­schen Splittergruppen?

 

A.O.: Ja, da haben welche teil­ge­nommen. Anar­chisten, Umwelt­ak­ti­visten. Fünf Gruppen haben teil­ge­nommen. Jede Gruppe konnte etwa 50 Leute mobi­li­sieren. Es ist aber wichtig, dass diese Par­teien auf unseren Flug­blät­tern nicht genannt wurden. Sie haben an der Aktion eher infor­mell teil­ge­nommen. Wen wir nicht für unsere Aktion gewinnen wollten, das war die Natio­nal­bol­sche­wis­ti­sche Partei Ėduard Limo­novs, weil wir sie für eine faschis­ti­sche Orga­ni­sa­tion hielten und nach wie vor halten.

 

n.: Hatten Sie denn per­sön­liche Treffen mit Limonov?

 

A.O.: Ja, aber bei meinen per­sön­li­chen Treffen mit Limonov habe ich ihm gesagt: „Ėduard, was machen Sie denn da? Warum ver­wenden Sie nazis­ti­sche Sym­bolik und warum pro­pa­gieren sie diese? Ihr geht zusammen mit Vete­ranen auf Demons­tra­tionen und schwenkt quasi-nazis­ti­sche Flaggen. Was werden die Vete­ranen davon halten?“ Er sagte damals, man müsse allen einen Schock versetzen.

 

n.: Ziem­lich viele Leute haben mir erzählt, dass man Mitte der 1990er Jahre die Partei Limo­novs noch als ver­rücktes Kunst­pro­jekt wahr­ge­nommen habe?

 

A.O.: Man kann alles Mög­liche als ver­rücktes Pro­jekt wahr­nehmen. Auch die Gruppe „Rus­si­sche natio­nale Ein­heit“ wurde und wird als ver­rücktes Kunst-Pro­jekt wahr­ge­nommen Das Ent­schei­dende ist, wie ein Mensch so eine Sache posi­tio­niert. Limonov hat diese Sache nicht als Kunst‑, son­dern als poli­ti­sches Pro­jekt posi­tio­niert. Dass in dieser poli­ti­schen Orga­ni­sa­tion ein bedeu­tendes Ele­ment künst­le­ri­schen Aus­drucks vor­handen war – ein­ver­standen, aber bekann­ter­maßen haben auch die Nazis sich vieler künst­le­ri­scher Ideen bedient. Auch hat Ben­jamin geschrieben, dass die Faschisten die Politik ästhe­ti­sieren, wäh­rend die Linken die Kunst poli­ti­sieren. Des­wegen ist nichts Ver­wun­der­li­ches daran, dass sie das als Kunst­pro­jekt gemacht haben. Ich würde es auch ein post­mo­dernes poli­ti­sches Pro­jekt nennen. Übri­gens wie „Gegen alle“ auch, nur von der anderen Seite. Limonov ver­öf­fent­lichte auf seinen Seiten his­to­ri­sche Texte über die RAF und gleich­zeitig, zum Bei­spiel, über Hitler. Er gau­kelt so das Modell eines roman­ti­schen Dämons vor, eines roman­ti­schen, dämo­ni­schen Geists, der einen Pakt mit dem Teufel ein­geht, sei’s mit Hitler, sei’s mit rechts, mit links, mit wem auch immer. Das Wich­tigste ist, allen einen Schock zu ver­setzen. Unser Ver­hältnis dazu war äußerst negativ.

 

n.: Kann man sagen, dass in der Kunst des Mos­kauer Aktio­nismus die Linie zwi­schen Kunst und Politik immer sichtbar blieb?

 

A.O.: Ja, aber in der Aktion „Gegen alle“ haben wir dann bereits ver­sucht, ein unab­hän­giges poli­ti­sches Pro­jekt zu machen. Und dabei haben wir ins­be­son­dere die Losung der Situa­tio­nisten ver­wendet: „Wir sind Künstler nur, inso­fern wir schon keine Künstler mehr sind. Wir sind ange­treten, die Kunst ins Leben zu über­führen“. In unserem Kreis war damals dieser recht ver­lo­gene Aus­spruch sehr ver­breitet. Frei­lich ist er nicht ver­logen, er ist teil­weise wahr­haft, aber er erfor­dert sehr aus­führ­liche Kom­men­tare. Es reicht näm­lich nicht aus, zu sagen, dass die Kunst, die Beschäf­ti­gung mit Kunst an sich, ein unab­hän­giges, anderes poli­ti­sches Pro­jekt sei. Denn die Bestim­mung „poli­tisch“ ist hier nicht sehr genau. Wenn näm­lich dem poli­ti­schen Pro­jekt ein reales Greifen nach der Macht folgen soll sowie die Aus­ar­bei­tung eines Pro­gramms für den Fall einer Macht­über­nahme und die Rea­li­sie­rung bestimmter Ideen, dann hat das frei­lich kei­nerlei Bezug zur Kunst. Die Aktion „Gegen alle“ war in diesem Sinne nicht poli­tisch, son­dern eine anti­po­li­ti­sche oder soziale Aktion.

 

n.: Vom Jahre 2000 an pro­pa­gierten Sie die „Nicht-spek­ta­ku­läre Kunst“. Warum haben Sie sich ent­schlossen, nicht länger skan­dal­träch­tige ‚poli­ti­sche’ Kunst zu betreiben?

 

A.O.: Als wir wäh­rend der Aktion „Gegen alle“ den Druck ver­schie­dener Polizei- und Geheim­dienst­struk­turen zu spüren bekamen, haben wir ziem­lich schnell ver­standen, dass zwi­schen der poli­ti­schen und der künst­le­ri­schen Betä­ti­gung grund­le­gende Wider­sprüche bestehen. Zum Bei­spiel ist es wesent­lich effek­tiver jeden Tag dreißig Mahn­wa­chen abzu­halten, als eine Mahn­wache im Monat, auch wenn diese grell, erin­ne­rungs­würdig, arti­fi­ziell ist und als Spek­takel aus­ge­ar­beitet werden musste. Warum? Wenn die Mahn­wa­chen jeden Tag statt­finden, dann werden die Macht­haber, die diese Mahn­wa­chen beob­achten, ver­stehen, dass dahinter irgend­eine beharr­liche Orga­ni­sa­tion steht. Wenn du aber eine arti­fi­zia­li­sierte Kund­ge­bung machst, dann ver­söhnt das künst­le­ri­sche, spie­le­ri­sche Ele­ment im großen Maße mit diesem Ereignis. Der schöne, künst­le­ri­sche Bestand­teil raubt die Mög­lich­keit, die Gefahr zu sehen. Aber gerade die Gefahr, die Angst ist das Instru­ment gegen­sei­tiger Beein­flus­sung in der Politik. Das Künst­le­ri­sche senkt nicht nur das Niveau der Angst, son­dern verrät den Macht­ha­bern zudem, dass die Ver­an­stal­tung von so etwas wie „Künst­lern“ initi­iert wird. Was aber ist ein Künstler? Das ist ein Mensch, der das Spiel dem Kampf vor­zieht, den Effekt der Effek­ti­vität, die Exklu­si­vität der Mas­sen­taug­lich­keit. In diesem Sinne brau­chen die Macht­haber nicht gleich unruhig zu werden, sie brau­chen nicht gleich besorgt zu sein. Nehmen wir den 11 Sep­tember als Bei­spiel. Klar war das eine ernst­hafte Kata­strophe für die ame­ri­ka­ni­sche Gesell­schaft und für die ganze Welt. Und obwohl man sich mit diesem Ereignis prak­tisch nicht ver­söhnen kann, zumal dort drei­ein­halb Tau­send Men­schen starben, hat die Kine­ma­to­gra­fi­zität dieses Vor­gangs, sein visu­eller Effekt, dieses Ereignis mit der es umge­benden Wirk­lich­keit sowie mit dem Estab­lish­ment, das all dies über­schaute, ver­söhnt. Bekann­ter­maßen hat Stock­hausen über diesen Umstand gescherzt, dass jeder Künstler Bin Laden nur beneiden könne, und löste damit einen großen Skandal aus. Hier mani­fes­tierte sich sehr deut­lich der Epo­chen­wechsel. Wir haben die post­mo­derne Epoche ver­lassen, welche wahr­schein­lich am besten von Bau­dril­lard beschrieben wurde, nach dessen Worten der Krieg im Per­si­schen Golf eine Art Simu­lakrum ist, ein bestimmtes Bild, das zur Wirk­lich­keit keinen Bezug hat. Den Witz von Stock­hausen aber hat schon keiner mehr als Witz wahr­ge­nommen, kamen doch dort nicht fünf ame­ri­ka­ni­sche Piloten ums Leben oder tau­send Iraker, die nie­manden inter­es­sieren, son­dern drei­ein­halb Tau­send Ange­stellte in Man­hattan in New York. Das sind dann doch ver­schie­dene Dinge, zumin­dest in den west­li­chen Hirnen, für die west­li­chen Poli­tik­wis­sen­schaftler. Wir sind in einer anderen Epoche ange­kommen. Ihr Kern­stück besteht darin, dass jenes Para­digma, das die Grenze zwi­schen Kunst und Politik, zwi­schen einer ernst­haften Aus­sage und einem Witz, zwi­schen Rea­lität und Simu­lakrum, aus­löschte, jetzt nicht funk­tio­niert. Und diese Abste­ckung der Grenzen, dieser Pro­zess der Bestim­mung „was was ist“ wird noch recht lange wei­ter­gehen, min­des­tens noch zwanzig Jahre.

 

n.: Sie gehen jetzt davon aus, dass Kunst und Politik zwei geschie­dene Prak­tiken sind. Es gibt ja aber auch noch Kritik. Ist für sie die Kritik in der Kunst und die Kritik mit­hilfe der Kunst wei­terhin ein wich­tiges Element?

 

A.O.: Hier müssen ver­schie­dene Dinge berück­sich­tigt werden. Die kri­ti­sche Kunst als ein bestimmter Begriff oder als Para­digma hat sich, meiner Ansicht nach, erschöpft. Die Kritik aber mit­tels der Kunst erstreckte sich meiner Mei­nung nach über die gesamte Ent­wick­lung der Mensch­heit. In diesem Sinne sind die Arbeiten Michel­an­gelos oder Leo­nardo da Vincis nicht weniger kri­tisch oder sogar kri­ti­scher als die kri­ti­schen Arbeiten der zeit­ge­nös­si­schen super­kri­ti­schen Künstler. Was sind die Arbeiten Michel­an­gelos und was ist Kunst grund­sätz­lich? Sie ist die Demons­tra­tion der Mög­lich­keit des Ideals. Die Men­schen trachten aber eigent­lich nach einem bes­seren Leben, einer­seits, wegen der Ableh­nung der sie umge­benden Welt, ande­rer­seits des­wegen, weil sie sogar unbe­wusst beob­achten, dass dieses Ideal exis­tiert, dass es in unserem Leben bereits exis­tiert. Ich denke, dieses Kon­zept hat es immer gegeben, wenn es auch nicht immer wahr­ge­nommen wurde. Im 19. Jahr­hun­dert findet sich bei einem rus­si­schen Kri­tiker der Begriff „Folter durch Schön­heit“. Wenn der Mensch anfängt sich an die her­aus­ra­genden Werke der Kunst zu gewöhnen, das heißt, sie zu ver­stehen und zu ver­ehren anfängt, dann beginnt er sich äußerst negativ auf die umge­bende Wirk­lich­keit zu beziehen, die diesem Ideal wider­spricht. Im Jahre 2000 habe ich ange­fangen die Ästhetik der rus­si­schen Ikone zu durch­dringen, die ich früher als eine Art Non­sens wahr­ge­nommen hatte. Bis dahin hatte es für mich kein künst­le­ri­sches Schaffen in Russ­land gegeben bis zur Mitte des 19. Jahr­hun­derts. Als man aber im 15. Jahr­hun­dert Ikonen und har­mo­ni­sche Bilder schuf, die zu reli­giösen Zwe­cken ver­wendet wurden, stellten diese den­noch ein Ideal dar. Dank dieser Ikonen erkannten die Leute, dass das Leben über­haupt besser sein kann. Und dieses Streben zum bes­seren Leben beruht auf zwei Grund­lagen. Zum einen die eigene Lebens­er­fah­rung, auf der eine Unmenge ver­schie­denster Plagen las­tete, ins­be­son­dere im 15. und 16. Jahr­hun­dert, zum anderen ein in mate­ri­eller Hin­sicht rea­li­siertes Ideal, das betastet und berührt werden konnte. Für das mit­tel­al­ter­liche Russ­land war dies die Iko­nen­ma­lerei, für die west­liche Welt die Renais­sance­ma­lerei oder die Kunst im All­ge­meinen. Darin besteht auch die poli­ti­sche Bedeu­tung der Kunst.

 

n.: Als sie vor zwei Jahren dagegen pro­tes­tierten, dass Aleksej Bel­jaev-Gin­tovt die Kan­din­skij-Prämie ver­liehen wurde, die sie im Jahr zuvor erhalten hatten, ver­tei­digten Sie da die Auto­nomie der Kunst?

 

A.O.: In erster Linie halte ich Bel­jaev gar nicht für einen Künstler. Ich meine, dass er nur T‑Shirts druckt. Das ist eine völlig unori­gi­nelle post­mo­derne Tätig­keit, schon hin­sicht­lich der Tech­no­logie der Her­stel­lung. Er nimmt bekannte Motive, Foto­gra­fien her, macht aus ihnen Scha­blonen und druckt diese ein­fach manuell auf gol­denem Hin­ter­grund. Das ist tat­säch­lich die Technik von T‑Shirt-Druck. Und wenn unsere Kri­tiker sagen, dass er dass Thema der Impe­ria­lität Russ­lands wie­der­be­lebt habe, dann möchte ich schon diese Frage stellen: und weiter – ist die Wie­der­be­le­bung des einen oder anderen Themas für sich von Wert? Was aber ist der Wert­maß­stab in der bil­denden Kunst? Er besteht darin, etwas Unge­wöhn­li­ches zu schaffen, egal, ob es sich hierbei um ein plas­ti­sches oder kon­zep­tu­elles Objekt han­delt. Ein sol­ches Objekt muss plas­tisch außer­ge­wöhn­lich sein. Durch seine plas­ti­sche Kon­fi­gu­ra­tion muss es aus der all­täg­li­chen Wahr­neh­mung aus­bre­chen. Und das liegt bei Bel­jaev nicht vor, ganz abge­sehen davon, dass er eine reich­lich kryp­ti­sche, jedoch aggres­sive eura­si­sche Ideo­logie ver­tritt, die sich bei etwas genauerer Betrach­tung als Faschismus in seiner klas­si­schen Form offen­bart. Hier stellt sich eine sehr schwie­rige Frage, die nicht bis ins Letzte beant­wortet ist. Kann ein Mensch von rechten, stein­zeit-lichen Über­zeu­gungen ein talen­tierter Künstler sein? Es ist bekannt, dass es in der Geschichte nur wenig talen­tierte Autoren und Künstler gab, die faschis­ti­sche, rechte Ansichten hatten. Heid­egger, Céline, Hamsun. Man könnte noch Leni Rie­fen­stahl nennen, ich bin aber, ehr­lich gesagt, kein großer Bewun­derer ihrer Filme.

 

n.: Ihre Bron­ze­skulp­tu­ren­reihe nach dem Vor­bild von Pan­zer­türmen – hier han-delt es sich nicht nur um schöne, unge­wöhn­liche Objekte, son­dern auch um die Nach­bil­dung des Teils einer Waffe? Wie inter­pre­tieren Sie dies?

 

A.O.: Das ist in vielen Aspekten ein For­schungs­pro­jekt. Ich inter­es­siere mich sehr für den Pan­zerbau, und an diesen Pan­zer­türmen inter­es­sierte mich Fol­gendes: die Form eines Pan­zer­turms wird in einem relativ freien Regime geschaffen. Worin besteht diese Frei­heit? Ein Panzer wird nicht zur mas­sen­haften Ver­wen­dung her­ge­stellt, wie ein Auto. Letz­teres hängt sehr stark vom Mas­sen­ge­schmack ab, von den Trends im Design, des­wegen werden Auto­mo­bile von Desi­gnern gemacht. Sie denken sich die attrak­tivste Form aus, die von den meisten der zum Kauf eines Auto­mo­bils fähigen Kunden nach­ge­fragt werden könnte. Kriegs­flug­zeuge sind gleich­falls nicht frei, dabei aber nicht abhängig vom Mas­sen­ge­schmack, son­dern von den phy­si­schen Gesetzen. Was den Pan­zer­turm anbe­langt, so ist dieser sowohl vom Mas­sen­ge­schmack unab­hängig als auch von phy­si­schen Gesetz­lich­keiten. Frei­lich kann man einem Pan­zer­turm keine super­kom­pli­zierte Kon­struk­tion geben, weil es ja das Gesetz seiner Wider­stands­stands­fä­hig­keit im Falle des Ein­schlags eines Geschosses gibt. Diese phy­si­schen Gesetze sind jedoch nicht so streng wie im Falle des Flug­zeugs. Zur glei­chen Zeit ist klar, dass es hier auch keine Desi­gner mit Gestal­tungs­in­ter­essen gibt. Die Ent­werfer gehen von der Ein­fach­heit der Her­stel­lung, der Ver­bil­li­gung der Kon­struk­tion, usw. aus. Mir schien es des­halb so, dass es gerade in diesem Bereich viel­leicht mög­lich sein sollte zu demons­trieren, wie die unbe­wussten Arche­typen der Kultur Men­schen beein­flussen – die, die Panzer ent­werfen. Ich habe diese Türme ange­fer­tigt und sie dabei von ihrem Zubehör befreit: dem Pan­zer­rohr und den Maschi­nen­ge­wehren. Ich wollte wissen, wie der Dummy selbst, der im Stahl­be­trieb gegossen wird, von kul­tu­rellen Arche­typen abhängig ist. Dar­über hinaus gibt es hier noch eine ganze Menge anderer Aspekte. So heißt das vor­lie­gende Pro­jekt ‚izdelie’ (‚Anfer­ti­gung’). Und in der rus­si­schen Kultur beinhaltet ‚izdelie’ ein künst­le­ri­sches Ele­ment – etwas erschaffen, anfer­tigen. Zur glei­chen Zeit heißen auch die mili­tä­ri­schen Pro­to­typen so: „izdelie No 1“, „izdelie No 2“. Erst wenn so ein Pro­totyp in die ‚mas­sen­weise’ Fer­ti­gung geht, wird ihm ein Name gegeben. Und ich habe ihn aus der mas­sen­weisen Fer­ti­gung in die Anfer­ti­gung zurück über­setzt, jetzt aber in die künst­le­ri­sche. Meine künst­le­ri­schen Pro­jekte kon­zen­trieren sich jetzt auf die Schöp­fung über­zeu­gender plas­ti­scher Objekte, die über ihre eigene stoff­liche Beschaf­fen­heit und über bestimmte for­male Eigen­schaften ver­fügen müssen.

 

n.: Was kann ein der­ar­tiges künst­le­ri­sches Pro­jekt aus­drü­cken? Die von Ihnen erwähnten rus­si­schen Ikonen sind Aus­druck einer reli­giösen Ord­nung. Ein Teil der Per­for­mance und Akti­ons­kunst des 20. Jahr­hun­derts ver­suchte, die expres­sive Kraft des Men­schen als schöp­fe­ri­schem Wesen in den Mit­tel­punkt zu stellen, und ver­stärkte den Aspekt der Pro­zes­sua­lität gegen­über dem des fer­tigen Pro­dukts. Ihre Expe­ri­mente aus den 1990er Jahren gehören einer Tra­di­tion an, die die soziale Tätig­keit dem Arte­fakt vor­zieht. Viel­leicht waren Per­for­mance- und Akti­ons­kunst in Vielem eine Reak­tion auf den Kapi­ta­lismus und seine Fetisch­pro­duk­tion. Was kann Ihrer Mei­nung nach die Objekt­kunst unter den gegen­wär­tigen Bedin­gungen ausdrücken?

 

A.O.: Nun ja, die Mos­kauer Künst­ler­gruppe, der ich ange­höre, hat ein aus­ge­ar­bei­tetes künst­le­ri­sches Pro­gramm. In seiner Grund­be­stim­mung basiert es auf der Kon­zep­tion des deut­schen Phi­lo­so­phen Harry Leh­mann über die Rück­kehr des Kunst­werks in das System der Kunst. Wir haben jetzt eine Zeit­schrift gegründet, den Alma­nach „Baza“, in dem wir ver­su­chen, dieses künst­le­ri­sche Pro­gramm adäquat dar­zu­stellen. Ist doch das Kunst­werk jetzt ein halb­ver­ges­sener, ein sehr schwam­miger Begriff. Er sollte geschärft werden. All dies hat einen Bezug zur Rus­si­schen For­malen Schule, wird jedoch frei­lich von dieser nicht erschöpft. Denn bei den For­ma­listen gab es eine Reihe sehr ernster Ver­ir­rungen, die zusam­men­hängen mit dem Ein­fluss des vul­gären Sozio­lo­gismus. Die Rück­kehr des Kunst­werks hat sozu­sagen auch eine soziolo-gische Erklä­rung (von der Argu­men­ta­tion Harry Leh­manns in seinem Essay „Avant­garde heute“ abge­sehen). Alle möchten jetzt die reale Öko­nomie, die reale Pro­duk­tion, den gol­denen Stan­dard… Die spek­ta­ku­läre Öko­nomie befindet sich in einer ernst-haften Krise und wir werden schritt­weise in ein anderes öko­no­mi­sches Modell über­gehen. Dieses Modell wird eng mit der Rea­lität zusam­men­hängen. Und das Äquiva-lent der Wirk­lich­keit in der Kunst ist eben das Kunst­werk als nicht mehr auf­lös­barer Rest nach der Zer­stö­rung aller Kon­texte, Ereig­nisse, Rich­tungen, Schulen usw. Ent­spre­chend richten sich alle Anstren­gungen auf die Ana­lyse dieses Begriffs. Und dieser Pro­zess erfasst nicht nur die bil­dende Kunst, in der zeit­ge­nös­si­schen Lyrik etwa kann man ähn­liche Inter­essen beob­achten. Zur glei­chen Zeit kann man diese Ten­denz voll­kommen gerecht­fer­tigt zu einer Vari­ante der zeit­ge­nös­si­schen Avant­garde zählen, wenn man die Avant­garde nicht als bestän­dige his­to­ri­sche Praxis mit all ihren eigenen, schon bekannten Methoden ver­steht, son­dern als eine Aus­rich­tung, einen Vektor, ein Streben. Das Streben vor­neweg zu sein. Ist doch auch die Post­mo­derne in diesem Sinne der Avant­garde gefolgt, auch wenn sie ihr äußer­lich gar nicht glich. Die Avant­garde heute ist das Streben zur Rea­lität, und das Streben zur Rea­lität – das ist die Wirk­lich­keit des Kunstwerks.

Das Inter­view führte Mat­thias Meindl. (Dank geht an den DAAD für die Ermög­li­chung des Interviews.)