Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Nie wieder“ in 30 Spra­chen. Daria Ser­enko erzählt, warum Femi­nis­tinnen nicht nicht Wider­stand leisten können

Am Tag nach dem Beginn der soge­nannten „Son­der­ope­ra­tion“ [Anm. d. Red.: statt dem ver­bo­tenen “Krieg wird von einer “mili­tä­ri­schen Son­der­ope­ra­tion” von offi­zi­eller rus­si­scher Seite gespro­chen] in der Ukraine ent­stand der Femi­nis­ti­sche Anti­kriegs­wi­der­stand (FAW) – eine Semi-Gue­ril­la­be­we­gung, die Anti­kriegs­ak­tionen startet und die Infor­ma­ti­ons­blo­ckade in Russ­land zu durch­bre­chen ver­sucht. Auf Bitte der „Glas­naja“ setzt eine der Grün­de­rinnen des FAW Daria Ser­enko das Gespräch dar­über fort, wieso Femi­nis­tinnen zur Haupt­trieb­kraft des Anti­kriegs­wi­der­stands geworden sind.

 

Der Ori­gi­nal­bei­trag ist auf dem Portal “glas­naya” am 06.04.2022 erschienen!

 

Es gibt keinen all­ge­mein­gül­tigen Femi­nismus, aber es gibt unter­schied­liche Femi­nismen und sie alle stellen auf die ein oder andere Art und Weise den Kampf gegen die Skla­verei, für Anti­im­pe­ria­lismus und Anti­mi­li­ta­rismus dar.

 

1914 kri­ti­sierte die bri­ti­sche Suf­fra­gette Sylvia Pankhurst ihre Mutter, die eine wich­tige Rolle für die Erlan­gung des Wahl­rechts für Frauen spielte, wegen deren Unter­stüt­zung des Ersten Welt­kriegs; diese Unter­stüt­zung bezeich­nete sie als „tra­gi­schen Verrat gegen­über der Bewe­gung der Suf­fra­getten“. 1915 ver­sam­melten sich die Suf­fra­getten in Den Haag, um zwecks der Kritik an dem Krieg und zur Schaf­fung gemein­samer frie­dens­stif­tenden Stra­te­gien die „Women’s Inter­na­tional League for Peace and Freedom“ zu gründen. 1916 ver­öf­fent­lichte Alex­andra Kol­lontai, de facto die erste Frau als Minis­terin, die Schrift „Wer braucht den Krieg?“, in der es um die Sinn­lo­sig­keit der Kriege und deren Zusam­men­hang mit dem Kapi­ta­lismus geht. Die US-ame­ri­ka­ni­sche Femi­nistin Emma Goldman, die gegen die Betei­li­gung der USA am Ersten Welt­krieg anging, schrieb 1917 den Artikel „Mani­festo of the No-Con­scrip­tion League“, in dem sie die Mili­ta­ri­sie­rung als Übel und die Wehr­pflicht als „Ver­bre­chen, Unter­drü­ckung und grund­lose Willkür“ bezeich­nete. Wäh­rend des Ersten Welt­krieges ver­brachte die Revo­lu­tio­närin Rosa Luxem­burg, die die Mei­nung teilte ‚solange Kapi­ta­lismus herrscht, hören die Kriegen nicht auf‘, ins­ge­samt vier Jahre im Gefängnis für Anti­kriegs­pro­pa­ganda. Femi­nis­tinnen gingen gegen Inva­sionen in Irak und Afgha­ni­stan an, pro­tes­tierten gegen den Krieg in Vietnam. 1988 ent­stand in Israel die anti­mi­li­ta­ris­ti­sche Bewe­gung „Frauen in Schwarz“, die den israe­lisch-paläs­ti­nen­si­schen Kon­flikt beleuchtete.

 

Femi­nismus ver­steht ganz gut, wie alle Arten der Gewalt ver­bunden sind: häus­liche, staat­liche, poli­zei­liche und militärische.

 

Der Krieg trifft alle, aber am meisten die­je­nigen, die auch vor dem Krieg leichter ver­letz­lich waren – Frauen, queere Men­schen, Men­schen mit „nicht-hege­mo­nialer“ Natio­na­lität, Men­schen mit Behin­de­rung. Alle Fort­schritte im Bereich der Men­schen­rechte wirft die Kriegs­ma­schine zurück, bringt zu Nar­ra­tiven zurück, die jeg­liche Viel­falt, Inklu­sion und wich­tige Unter­schiede zwi­schen Gruppen von Men­schen ver­wi­schen. Der Krieg verallgemeinert.

 

Der Krieg ver­schärft in glei­cher Weise die Geschlech­ter­un­gleich­heit. Wie die Geschichte zeigt, erhöht sich für jede Frau die Gefahr wäh­rend des Kriegs ver­ge­wal­tigt zu werden um das Viel­fache. Kürz­lich tauchte in den sozialen Medien die Infor­ma­tion über den ersten (aber sicher­lich nicht den ein­zigen) Fall der Ver­ge­wal­ti­gung einer Ukrai­nerin durch Sol­daten. Nach dem Krieg kann der Aus­bruch häus­li­cher Gewalt gegen Frauen, ältere Men­schen und Kinder beob­achtet werden: durch Krieg und ange­rich­tete Gewalt gebro­chen, kehren die über­le­benden Sol­daten heim und wälzen die post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung auf ihren Ange­hö­rigen ab.

 

Femi­nismus als poli­ti­sche Kraft, die sich für die gesell­schaft­liche Ent­wick­lung und Hilfe der­je­nigen, die im Sinne der Vul­nerabi­lität leicht angreifbar und bedroht sind, sowie gegen Gewalt ein­setzt, kann nicht an der Seite des [in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tenen Wortes] und noch weniger des Okkupations-[das in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tene Wort] stehen. Genauso wenig kann sie an der Seite des Impe­riums sein, denn die impe­riale Ansicht auf Men­schen, Ter­ri­to­rium und Geschichte ist eine aneig­nende, unter­wer­fende Ansicht, obwohl es gewiss auch den rechten Femi­nismus im poli­ti­schen Spek­trum gibt. Das Impe­rium de-sub­jek­ti­viert die­je­nigen, auf die es hin­un­ter­schaut, weil es auf sie wie auf eine Beute schaut.

 

Der jet­zige [das in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tene Wort], wie die Anrede des Prä­si­denten Vla­dimir Putin zeigt, wird unter dem Banner der „tra­di­tio­nellen Werte“ geführt, die Russ­land quasi mis­sio­na­risch in die Welt zu tragen beschlossen hat. Woraus diese „tra­di­tio­nellen Werte“ bestehen, wissen die­je­nigen, die die Innen­po­litik des Landes der letzten Jahre ver­folgten: diese Werte beruhen auf der Aus­beu­tung der Frauen und anderer vul­ner­ablen Gruppen und auf dem Kampf gegen die­je­nigen, deren Lebens­weise, Selbst­be­stim­mung und Tätig­keit über die enge patri­ar­chale Norm hin­aus­gehen. Die Recht­fer­ti­gung der Beset­zung des Nach­bar­staats durch den Drang, die eigene Norm unter dem Deck­mantel der „Befreiung“ auf­zu­zwingen, ist ein wei­terer Grund, warum die Femi­nis­tinnen Russ­lands als eine der wenigen übrigen aktiven poli­ti­schen Kräfte gegen den [in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tenen Wort] Wider­stand leisten müssen.

 

Ich will erzählen, wie der Femi­nis­ti­sche Anti­kriegs­wi­der­stand (FAW) funk­tio­niert. Ich betone, dass ich gerade pri­vi­le­giert bin, im eigenen Namen zu spre­chen, ohne ihn zu ver­bergen; viele Teil­neh­mende haben diese Mög­lich­keit nicht. Wir brauchten aber ein paar „offene Gesichter“, um mit unserer Bewe­gung vor­an­zu­kommen und sie zu ver­breiten. Für „offene Gesichter“ gibt es in man­chen Situa­tionen mehr Ver­trauen (vor allem bei Fundraising).

 

In unseren Netz­werken sind ca. 40.000 Abon­nenten, davon sind ca. 5.000 Akti­visten und Akti­vis­tinnen dieser Bewe­gung. Nicht alles davon, was wir tun, können wir wegen des großen Risikos für die sich in Russ­land befin­denden Teil­neh­me­rinnen öffent­lich machen. In kurzen Worten, wir orga­ni­sieren Stra­ßen­pro­teste, mas­sen­hafte Kunst­ak­tionen, die Men­schen vom [in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tenen Wort] in der Ukraine erzählen, ver­breiten Anti­kriegs­pro­pa­ganda (Zei­tungen, Sti­cker, Flyer, Mai­ling, Briefe), wirken bei der Grün­dung der Anti­kriegs­stif­tung mit – einer Stif­tung für die Hilfe für die strei­kenden und auf­grund ihrer Ansichten gekün­digten Men­schen, ver­öf­fent­li­chen Briefe der Ukrainer und Ukrai­ne­rinnen, die sich im Epi­zen­trum des Kriegs­ge­sche­hens befinden oder die ihre Erfah­rung als Geflüch­tete beschreiben. Wir machen jeden Stra­ßen­pro­test gemein­schaft­lich in Ver­net­zung mit­ein­ander, indem wir ihn auf mehr als 60 Städten aus­breiten. Außerdem helfen wir den Strei­kenden, die Poli­zei­ge­walt erlebten (dem­nächst starten wir eine kos­ten­lose psy­cho­lo­gi­sche Bera­tung und Grup­pen­an­ge­bote). Ein Teil von uns ist mit frei­wil­liger Arbeit in anderen Län­dern bei den Hilfs­in­itia­tiven für Geflüch­tete. 45 femi­nis­ti­sche Gruppen sind auf dem Land aktiv, von Kali­nin­grad bis Vla­di­vostok. Diese Gruppen kom­mu­ni­zieren mit­ein­ander als ein mäch­tiges Netz, gehen zu Aktionen, machen Antikriegspropaganda.

 

Aus Sicher­heits­gründen haben wir keinen Koor­di­nie­rungs­chat, aber es gibt viele klei­nere Chats, in denen unter­schied­liche Gruppen sind. Jeder Mensch, jede Akti­vistin kann den Namen und die Sym­bolik des FAW ver­wenden und sich für die Teil­neh­merin der Bewe­gung erklären oder eine „Zelle“ in der eigenen Stadt eröffnen, wenn sie unsere Haupt­these teilen, die im kol­lek­tiven Mani­fest for­mu­liert ist: Nein zum [in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tenen Wort].

 

Das Mani­fest ist offen für Ände­rungen und Anpas­sungen von außen. Es wurde bereits in 30 Spra­chen über­setzt: Sacha, Udmurtiš, Čuwašiš und andere. Auf der Tages­ord­nung unserer Bewe­gung ist unter anderem Anti­im­pe­ria­lismus, denn viele Völker, die in Russ­land leben, haben eine blu­tige und schmerz­hafte Geschichte hinter sich, weil das rus­si­sche Impe­rium oder die Sowjet­union eine Gewalt­po­litik gegen­über ihnen führten. Wir reden vom Außen- und Innen­ko­lo­nia­lismus, der oft von den­je­nigen Bür­gern nicht reflek­tiert ist, die sich für die Slaven halten.

 

Das sagen wir den­je­nigen, die sich uns anschließen wollen:

 

„Jeden Tag Pro­teste koor­di­nie­rend, neue Aktionen gemeinsam star­tend und kon­zep­tua­li­sie­rend, Wege für die Hilfe für Geflüch­tete und Strei­kende suchend, kämpfen wir gegen die Träg­heit der Sinn­haf­tig­keit: [das in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tene Wort] hat viele Bedeu­tungen annul­liert, vor allem die Bedeu­tungen und Fort­schritte des zivilen Akti­vismus. Selbst wenn unsere Bewe­gung nicht in der Lage ist den das in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tene Wort] zu stoppen, ist sie in der Lage der­maßen zu wachsen, dass sie neue [das in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tene Wort] stoppen und prä­ventiv han­deln kann. Der rus­si­sche Impe­ria­lismus ist in unserer Wirk­lich­keit der­maßen ver­an­kert, dass wir alle eine sehr robuste alte Ord­nung bre­chen müssen, damit sich das „Wir können wie­der­holen“** in „Nie wieder“ umwandelt.

 

*Anmer­kung der Über­set­zerin: Ros­kom­n­adsor (Föde­raler Dienst für die Auf­sicht im Bereich der Kom­mu­ni­ka­tion, Infor­ma­ti­ons­tech­no­logie und Mas­sen­kom­mu­ni­ka­tion Russ­lands) ver­bietet seit dem Kriegs­aus­bruch in der Ukraine die Ver­wen­dung des Wortes „Krieg“ in allen Medien und ver­weist auf den Artikel 13.15 (Ver­brei­tung von „Fake News“) des rus­si­schen Gesetz­bu­ches. Aus diesem Grund wird das Wort Krieg in diesem Artikel als [das in der Russ­län­di­schen Föde­ra­tion ver­bo­tene Wort] bezeichnet.

 

** Anmer­kung der Über­set­zerin: Gemeint ist das Zei­chen an der Wand im Bun­destag, das sowje­ti­sche Sol­daten hin­ter­ließen. Im heu­tigen Russ­land wird diese Bot­schaft bei­spiels­weise in Form von Auto­auf­kle­bern verbreitet.

Bild­quelle: Daria Ser­enko, © Glasnaya.Media.