Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

novinki prä­sen­tiert: Cul­tural pro­du­cers in the ‘post-soviet’ region facing the Covid-19 pan­demic – a serie of online workshops

Maria Ste­pa­nova im Gespräch mit Kul­tur­schaf­fenden aus Lett­land, Kir­gi­stan, Arme­nien, Geor­gien, Belarus und der Ukraine

Auf Initia­tive des Fach­ge­biets für Ost­sla­wi­sche Lite­ra­turen und Kul­turen fanden im Oktober 2020 unter Lei­tung von Maria Ste­pa­nova (Sieg­fried Unseld Gast­pro­fes­sorin 2018–19) im Zoom der Hum­boldt Uni­ver­sität vier Work­shops statt, deren Ziel es war, die Land­schaft der Kul­tur­in­sti­tu­tionen und künst­le­ri­schen Ent­wick­lungen in einigen Län­dern, ehe­ma­ligen Sowjet­re­pu­bliken, in Hin­blick auf ihre aktu­elle Situa­tion – auch im Kon­text der Covid-19 Pan­demie – zu kar­tieren, insti­tu­tio­nelle und künst­le­ri­sche Ent­wick­lungen der letzten Jahre zu ana­ly­sieren und ihre Zukunfts­per­spek­tiven auch mit Blick auf För­der­mög­lich­keiten für unab­hän­gige künst­le­ri­sche und kura­to­ri­sche Per­spek­tiven zu erörtern.

 

Eröff­nungs­work­shop am 07.10.2020

 

Ganz bewusst wurde dieser nicht unum­strit­tene Begriff „post-sowje­tisch“ für den Russ­land und die ehe­ma­ligen Sowjet­re­pu­bliken umfas­senden, durch eine geteilte Geschichte, geteiltes Gedächtnis und Trau­mata ver­bun­denen und heute durch viele Staats­grenzen und kul­tu­relle Umori­en­tie­rungen geteilten Geschichts­raum (S. Troebst) gewählt, um sein erkennt­nis­stif­tendes Poten­tial im Blick auf aktu­elle Ent­wick­lungen im künst­le­ri­schen und kul­tu­rellen Feld sowie aktu­elle Kul­tur­po­litik, Insti­tu­tionen und künst­le­ri­sche Ori­en­tie­rungen und Iden­ti­fi­ka­tionen zu erproben. Zugleich ging es uns darum, Mög­lich­keiten zu son­dieren, wie z.B. mit­hilfe von Ver­net­zungs­pro­jekten das kulturelle/künstlerische Geschehen in diesen auf der geis­tigen Land­karte Europas noch immer sehr wenig bekannten und mar­kierten Regionen bekannter gemacht werden kann.

 

Die Refle­xion dar­über, ob die ver­glei­chende Zusam­men­schau heute, dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjet­union, Sinn macht oder ob sie nicht viel­mehr den Blick auf die grund­le­genden Dif­fe­renzen zwi­schen den län­der­spez­fi­schen Ent­wick­lungen ver­stellt, beglei­tete alle vier Treffen. Anfangs rief gerade dieser Ter­minus Skepsis bei den Teilnehmer_innen hervor, weil er das Gefühl evo­ziert an eine längst über­wun­dene Ver­gan­gen­heit zurück­zu­binden, was heute allem Anschein nach völlig unab­hängig davon und in ganz anderem Kon­text geschieht. Aus kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher Per­spek­tive legi­ti­miert sich diese Frage durch Beob­ach­tungen auf meh­reren Ebenen: etwa dadurch, dass die in den 1930er Jahren in allen Repu­bliken der Sowjet­union mit dem Ziel einer struk­tu­rellen Homo­ge­ni­sie­rung des Feldes ein­ge­rich­teten Insti­tu­tionen von großer Nach­hal­tig­keit waren und zum großen Teil bis heute kon­ti­nu­ier­lich exis­tieren; oder durch das aus der Ver­ein­heit­li­chung des Kul­tur­raums resul­tie­rende geteilte kul­tu­relle und künst­le­ri­sche Gedächtnis und die mit ihm ver­bun­denen his­to­ri­schen Nar­ra­tive. Auch die Ver­brei­tung der rus­si­schen Sprache als Folge der sowje­ti­schen Rus­si­fi­zie­rungs- bzw. lingua franca-Politik könnte als wei­terhin ver­bin­dendes Moment ver­mutet werden. Wäh­rend sich letz­tere Ver­mu­tung nur in Hin­blick auf einen Teil der Länder als rele­vant erwies – jene, die durch lang­fris­tige Bevöl­ke­rungs­zu­sam­men­set­zung bis heute bilin­gual sind, oder jene – wie Kir­gi­stan –, in denen Rus­sisch bis heute als Bil­dungs­sprache uner­setz­lich ist, haben sich die anderen Aspekte im Ver­lauf der Gespräche als gewinn­brin­gend erwiesen: sowohl für die Inten­si­vie­rung der gegen­sei­tigen Kennt­nis­nahme und Erwe­ckung bzw. Inten­si­vie­rung des gegen­sei­tigen Inter­esses unter den Teilnehmer_innen, die durchweg über einen Mangel an gegen­sei­tiger Infor­ma­tion und Kom­mu­ni­ka­tion klagten, als auch in Hin­blick auf die Ana­lyse, bei der aus dieser Per­spek­tive Gemein­sam­keiten und Unter­schiede sichtbar wurden, die noch immer auf die alten  Struk­turen, Insti­tu­tionen und Posi­tio­nie­rungen inner­halb der Sowjet­union zurückgehen.

 

Im Blick auf die Zukunft bestand unsere Auf­gabe darin, die Grund­lage für eine zukünf­tige Platt­form zur Unter­stüt­zung unab­hän­giger kul­tu­reller Initia­tiven zu erar­beiten, die sowohl indi­vi­du­elle Pro­jekte als auch grö­ßere Grup­pen­pro­jekte im Bereich des kul­tu­rellen Manage­ments umfassen soll. Wir wollen Zonen und Akteure aus­findig machen, deren Unter­stüt­zung und Ver­net­zung nötig und viel­ver­spre­chend wäre, und län­ger­fristig gezielte För­der­pro­gramme ent­wi­ckeln. Als Vor­aus­set­zung dafür ist das Map­ping, wel­ches die Work­shop­bei­träge zu leisten ver­su­chen, grund­le­gend. Der erste wich­tige Schritt, der sei­ner­seits ein sol­ches Map­ping über­haupt erst ermög­li­chen konnte, war die Fin­dung und das Enga­ge­ment von exzel­lenten Experten in dieser Sache.

 

Sechs nam­hafte Spezialist_innen, Autor_innen und Kurator_innen aus Lett­land, Kir­gi­stan, Arme­nien, Geor­gien, Belarus und der Ukraine, wurden als Expert_innen für ihre Her­kunfts­re­gion (z.T. ihre pri­märe Wir­kungs­stätte) ein­ge­laden zu berichten, einen Über­blick zu geben sowie ein Inter­view mit einer/m der maß­geb­li­chen Akteur_innen der Region durchzuführen.

 

Yaras­lava Ananko, bela­ru­si­sche Dich­terin, Absol­ventin des Gorki-Insti­tuts in Moskau, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin, Autorin der 2020 erschie­nenen Mono­gra­phie zum Berlin-Topos des pol­nisch­stäm­migen rus­si­schen Dich­ters Vla­dislav Cho­da­sevič (Каникулы Каина. Поэтика промежутка в берлинских стихах В. Ф. Ходасевича, М. 2020. https://www.nlobooks.ru/books/nauchnaya_biblioteka/22632/) und der­zeit Lei­terin eines eigenen For­schungs­pro­jekts an der HU Berlin (Thema: Per­for­ma­tiver Dilet­tan­tismus. Das Pilot­pro­jekt der bela­rus­si­schen Lite­ratur, 1840–1850er Jahre) (https://www.slawistik.hu-berlin.de/de/fachgebiete/ostslawlit/projekte), war als Expertin für Belarus ein­ge­laden. (Vgl. ihren Artikel in der Zeit­schrift NLO 2018 zur Pro­ble­matik von Mehr- und Rus­sisch­spra­chig­keit in der aktu­ellen bela­ru­si­schen Lyrik: https://magazines.gorky.media/nlo/2018/2/bilingvalnoe-rasstrojstvo.html). Im Rahmen der Work­shop­reihe führte sie ein Inter­view mit Nikolaj Kha­lezin, dem seit langem im Lon­doner Exil lebenden Gründer des „Bela­ru­si­schen Freien Thea­ters“ (2005) mit Sitz seit 2011 in London, das seit fünf­zehn Jahren Insze­nie­rungen im bela­ru­si­schen Under­ground auf die Bühne bringt (http://belarusfreetheatre.com). Seit Neu­estem führt Kha­lezin im Kon­text der Pro­test­be­we­gung in Belarus und ihrer welt­weiten Reso­nanz die online-Platt­form „Ministry of coun­ter­cul­ture“ (https://moc.media/en/about/) an. Zu den zen­tralen Beob­ach­tungen Anankos gehören ers­tens die Fest­stel­lung der Kon­ti­nuität der außer­or­dent­lich großen künst­le­ri­schen und poli­ti­schen Rele­vanz des künst­le­ri­schen Under­ground in Belarus sowie, zwei­tens, die große Bedeu­tung alter­na­tiver Bil­dungs­in­sti­tu­tionen im Bereich von Kunst und Lite­ratur sowie der Humanities.

Über­blicks­essay von Yaras­lava Ananko (rus­sisch)

 

Zaal Andro­ni­kash­vili, Ger­ma­nist und Ver­glei­chender Lite­ratur- und Kul­tur­wis­sen­schaftler am Leibniz-Zen­trum für Lite­ratur- und Kul­tur­for­schung Berlin und Pro­fessor an der Ilya State Uni­ver­sity Tbi­lisi, ist Autor meh­rerer gewich­tiger Bei­träge zur Grund­la­gen­for­schung im Bereich der Kul­tur­theorie mit Blick auf Ost­eu­ropa – wie z.B. als Koautor der Bände Grund­ord­nungen. Geo­gra­phie, Reli­gion, Gesetzt (Berlin 2013), Die Ord­nung plu­raler Kul­turen. Figu­ra­tionen euro­päi­scher Kul­tur­ge­schichte vom Osten her gesehen (Berlin 2013) und Kul­tur­heros. Genea­lo­gien, Kon­stel­la­tionen, Prak­tiken (Berlin 2017) – und einer der aktuell wich­tigsten Spe­zia­listen für die Kul­tur­ge­schichte Geor­giens im 20. Jahr­hun­dert (z.B. als kon­zep­tio­nell lei­tender Autor des Bandes Landna(h)me Geor­gien. Stu­dien zur kul­tu­rellen Semantik (Berlin 2018). Im Rahmen der Work­shop­reihe lud Zaal Andro­ni­kash­vili Medea Met­re­veli, bis 2019 Lei­terin des Geor­gian National Book Center (GNBC), die den beein­dru­ckenden Auf­tritt von Geor­gien als Gast­land der Frank­furter Buch­messe 2018 vor­be­reitet hat, zu einem Inter­view ein. Gemeinsam mit ihr und in seinen State­ments legte Zaal Andro­ni­kash­vili den Fokus auf die inter­na­tional bemer­kens­wert erfolg­reiche geor­gi­sche Lite­ratur, deren Beson­der­heit er im (post)sowjetischen Kon­text darin sieht, dass es in Geor­gien keine Tra­di­tion des Under­ground gab, der in irgend­einer Form fort­ge­setzt werden könnte. Schon vor Beginn der Sowjet­union hatte sich ein geor­gi­sches Selbst­ver­ständnis als Kul­tur­na­tion her­aus­ge­bildet, das bis heute prak­tisch kon­ti­nu­ier­lich besteht. Obwohl die staat­liche Kul­tur­po­litik wie in anderen post­so­wje­ti­schen Län­dern keine klare und sta­bile Pro­gram­matik hat, ist in Geor­gien – darin Lett­land ver­gleichbar – doch der Staat der wich­tigste För­derer der Lite­ratur und Kultur im All­ge­meinen. Post­so­wje­tisch zeichnet sich eine starke und von Über­set­zungen ins Rus­si­sche de facto unab­hän­gige inter­na­tio­nale Rezep­tion der geor­gi­schen Lite­ratur ab.

Hier geht es zum Inter­view: Zaal Andro­ni­kash­vili im Inter­view mit Medea Metreveli

Über­blicks­essay von Zaal Andro­ni­kash­vili (rus­sisch)

 

Yev­genia Bel­o­ru­sets ist Ger­ma­nistin, Foto­grafin, bil­dende Künst­lerin, Akti­vistin und Autorin lite­ra­ri­scher Werke im Umfeld des Doku­men­ta­rismus aus Kyiv (http://belorusets.com/info/about). Ihr auf zahl­rei­chen Inter­views mit Frauen im Donbas basie­render, höchst kunst­voller Pro­sa­band „Glück­liche Fälle“ wurde 2019 im Ber­liner Verlag Matthes & Seitz in deut­scher Über­set­zung publi­ziert. Yev­genia Bel­o­ru­sets wurde als Expertin für die Ent­wick­lungen in der Ukraine ein­ge­laden. Im Inter­view sprach Yev­genia Bel­o­ru­sets mit Lada Nakon­echna, bil­dende Künst­lerin (Foto­grafie, Zeich­nung, Instal­la­tionen, Per­for­mance), gebürtig aus Dnipro(petrovsk) mit Schaf­fens­schwer­punkt in Kyiv. 2012 grün­dete Lada Nakon­echna gemeinsam mit einigen Kolleg_nnen die unab­hän­gige höhere Bil­dungs­in­sti­tu­tion „Method Fund“(https://sites.google.com/site/methodfund/news). Nakon­echna ist Mit­her­aus­ge­berin der unab­hän­gigen Kunst- und Kul­tur­zeit­schrift Por­story (http://prostory.net.ua/en/). In ihrer Dia­gnose der Ent­wick­lungen in der Ukraine mit Schwer­punkt Kunst stellten beide Künst­le­rinnen die Pro­ble­matik der Kon­ti­nuität der sowje­ti­schen Insti­tu­tionen, die z.T. nur umbe­nannt wurden, bei gleich­zei­tiger kon­zep­tu­eller Aus­höh­lung fest, was dazu führe, dass rele­vante künst­le­ri­sche Ent­wick­lungen sich v.a. jen­seits der Sphäre der offi­zi­ellen Insti­tu­tionen voll­zögen und beständig um ihre Unter­stüt­zung kämpfen müssten. In dieser Spal­tung aber finden letzt­lich die par­al­lelen Welten von Offi­zia­lität und Under­ground der sowje­ti­schen Zeit ihre Fort­set­zung. Die wei­terhin spür­baren Sym­ptom­schmerzen des Alten behin­dern eine dyna­mi­sche Ent­wick­lung massiv. Auch in ihren Kunst­werken setzt Yev­genia Bel­o­ru­sets sich immer wieder kri­tisch mit den poli­tisch ver­ord­neten, unre­flek­tierten und der Ver­ar­bei­tung der Trau­mata der Ver­gan­gen­heit kaum dien­li­chen Politik der Dekom­mu­ni­sie­rung auseinander.

Hier geht es zum Inter­view: Yev­genia Bel­o­ru­sets im Inter­view mit Lada Nakon­echna (Ukraine)

Über­blicks­essay von Yev­genia Bel­o­ru­sets (rus­sisch)

 

Gulzat Egem­ber­dieva, Jour­na­listin, Doku­men­tar­fil­merin und Kultur- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin aus Bishkek mit Mas­ter­ab­schluss an der Uni­ver­sity of Toronto arbeitet der­zeit an einer Dok­tor­ar­beit zur kir­gi­si­schen Lite­ratur der Sowjet­zeit am Institut für Sla­wistik der Hum­boldt Uni­ver­sität zu Berlin (https://www.slawistik.hu-berlin.de/de/fachgebiete/ostslawlit/projekte). Als Spe­zia­listin für Kir­gi­stan lud Gulzat Egem­ber­dieva Elmira Nogo­j­baeva, füh­rende kir­gi­si­sche Politik- und Kul­tur­wis­sen­schaft­lerin, zum Inter­view ein. Nogo­j­baeva ist Grün­derin des Gedächtnis-Pro­jekts „Esimde“ (http://esimde.org/), wel­ches offen zur Ein­sen­dung auto­bio­gra­phi­scher Texte für die zur Ver­hand­lung eines trau­ma­be­wäl­ti­genden, Erin­ne­rung auf­ar­bei­tenden und Iden­tität stif­tenden kol­lek­tiven und kul­tu­rellen Gedächt­nisses ein­lädt. Wich­tige Aspekte der post­so­wje­ti­schen Ent­wick­lungen in Kir­gi­stan sind für Gulzat Egem­ber­dieva die Kon­ti­nuität der Rele­vanz der rus­si­schen Sprache, deren Bedeu­tung jedoch zuneh­mend unab­hängig wird von einer Ori­en­tie­rung am rus­si­schen Staat – bei gleich­zei­tigem Bedeu­tungs­ge­winn der kir­gi­si­schen Sprache -; die viel­fäl­tige Ver­net­zung im gesamten post­so­wje­ti­schen Raum, z.B. auch mit Initia­tiven in der Ukraine und in Geor­gien, aber auch mit der Türkei und dem west­li­chen Aus­land; die Rele­vanz unab­hän­giger, z.T. von der Open Society Foun­da­tion und anderen Stif­tungen (v.a. aus den USA) geför­derter Initia­tiven, sowie ein starkes und z.B. nost­al­gisch-iden­ti­fi­ka­to­ri­sches Inter­esse an der sowje­ti­schen Vergangenheit.

Hier geht es zum Inter­view: Gulzat Egem­ber­dieva im Inter­view mit Elmira Nogo­j­baeva (Kir­gi­stan)

Über­blicks­essay von Gulzat Egem­ber­dieva (rus­sisch)

 

Dmitrij Kuz’min, Dichter, Lite­ra­tur­kri­tiker und ‑wis­sen­schaftler, Pio­nier der rus­si­schen Lite­ratur im Internet, noch in den 1990ern Gründer der wich­tigen Lite­ra­tur­platt­form novaja lite­ra­tur­naja karta russkoj lite­ra­tury (www.litkarta.ru). Dmitrij Kuz’min ist Mit­glied des Redak­ti­ons­kol­le­giums von colta.ru und, seit 2007 Her­aus­geber der zwei­spra­chigen Lite­ra­tur­zeit­schrift Voz­duch (http://www.litkarta.ru/projects/vozdukh/). Seit 2014 lebt Dmitrij Kuz‘min im Exil in Lett­land und iden­ti­fi­ziert sich auch per­sön­lich mit der let­ti­schen Lite­ratur- und Kul­tur­po­litik. Wie er in seinem Bericht schreibt, ent­wi­ckelte sich in Lett­land seit der spät­so­wje­ti­schen Periode, wo Riga zu einem wich­tigen Zen­trum für ästhe­tisch anspruchs­volle und poli­tisch kri­ti­sche Autor_innen wurde, die in Russ­land Pro­bleme mit der Zensur hatten, um Autoren wie Andrej Levkin (Zeit­schrift Rodnik) und seit 1999 um die Zeit­schrift Orbita (Sergej Timo­feev) eine sehr aktive Lite­ra­tur­szene, die einen äußerst leben­digen, har­mo­ni­schen, unzen­sierten Aus­tausch zwi­schen rus­sisch­spra­chiger und let­tisch­spra­chiger Lite­ratur ermög­licht. Zwei­spra­chige Publi­ka­tionen und gegen­sei­tige Über­set­zungen sind ein voll­kommen selbst­ver­ständ­li­cher Bestand­teil der let­ti­schen Publi­ka­ti­ons­land­schaft, die wesent­lich auch vom Staat geför­dert wird. Auch für die Ent­wick­lungen im Bereich der Kunst gilt, dass der größte Anteil der För­de­rung vom Staat kommt und dadurch auch die wich­tigsten Initia­tiven zur Sicht­bar­keit der Kunst aus Lett­land – z.B. auf inter­na­tio­nalen Kunst­bi­en­nalen oder durch die Durch­füh­rung von Bien­nalen in Lett­land selbst – unter­stützt werden. Wie man an Kuz’min selbst sieht, hat Lett­land bis heute seine Funk­tion als wich­tiger, libe­raler Zufluchtsort für dis­si­den­ti­sche Kunst- und Lite­ra­tur­schaf­fende aus Russ­land behalten.

Hier geht es zum Inter­view: Dmitrij Kuzmin im Inter­view mit Sergej Timo­feev (Lett­land)

Über­blicks­essay von Dmitrij Kuzmin (rus­sisch)

 

Sona Ste­panyan ist Kura­torin der „Armenia Art Foun­da­tion für zeit­ge­nös­si­sche Kunst“ in Yer­evan, tätig für inter­na­tio­nale Kunst­stif­tungen wie z.B. den Mon­driaan-Fund der Nie­der­lande und Grün­dungs­mit­glied des Kura­toren-Stu­dios „Tri­angle“ in Moskau. Zum Gespräch lud Sona Ste­panyan Tigran Amiryan ein, unab­hän­giger Kurator und Leiter kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher Pro­jekte mit Fokus auf kol­lek­tivem Gedächtnis und kol­lek­tiver Amnesie sowie Gedächt­nis­nar­ra­tiven und ihrer Visua­li­sie­rung. Mit Tigran Amiryan, der orga­ni­sa­to­risch und als Dozent am Aufbau unab­hän­giger Bil­dungs­in­itia­tiven im künst­le­ri­schen Bereich aktiv ist, dis­ku­tierte Sona Ste­panyan die Pro­ble­matik der Zer­split­te­rung der Kunst­szene und ihre insti­tu­tio­nelle Ver­an­ke­rung in Arme­nien. Wäh­rend die staat­liche Kul­tur­för­de­rung v.a. auf die dem Tou­rismus die­nende Erhal­tung und öffent­lich­keits­wirk­same Ver­mark­tung des Kultur- und Kunst­erbes aus­ge­richtet ist, exis­tiert die junge, aktive Kunst­szene voll­kommen unab­hängig davon. Ihre Ent­wick­lung gestaltet sich wegen des anhal­tenden „lethar­gi­schen Schlafs“ der staat­li­chen Insti­tu­tionen, wegen des Man­gels an Aus­bil­dungs­mög­lich­keiten für junge Künstler_innen, die diesen den Anschluss an inter­na­tio­nale Ent­wick­lungen erleich­tern und Aus­lands­auf­ent­halte (auch Fel­low­ships) ermög­li­chen würden, und wegen der Schwie­rig­keiten und Insta­bi­li­täten der För­de­rung sehr wech­sel­haft und chao­tisch. Die För­de­rung unab­hän­giger klei­nerer Initia­tiven geht oft von Akteuren an Orten der welt­weiten arme­ni­schen Dia­spora (Iran, USA, Türkei, Libanon) aus, deren kul­tur­schaf­fende Rolle in Arme­nien selbst jeden­falls von Bedeu­tung ist. Lang­fris­tige Kon­zepte und Pla­nungen fehlen oder können nicht rea­li­siert werden. Als eine der wich­tigsten Insti­tu­tionen zur För­de­rung avant­gar­dis­ti­scher zeit­ge­nös­si­scher Kunst hebt Sona Ste­panyan das „Zen­trum der zeit­ge­nös­si­schen expe­ri­men­tellen Kunst“ (NPAK) hervor, wel­ches auf Initia­tive von Ver­tre­tern der arme­ni­schen Dia­spora im Iran gegründet wurde.

Hier geht es zum Inter­view: Sona Ste­panyan im Inter­view mit Tigran Amiryan (Arme­nien)

Über­blicks­essay von Sona Ste­panyan (rus­sisch)

 

Außerdem gibt es ein Über­blicks­essay über Aser­bai­dschan von Nidžat Mamedov.

 

Mit­hilfe dieser Expert_innen wollten wir nicht nur Namen von Akteuren und Insti­tu­tionen sowie Zahlen zusam­men­zu­tragen, son­dern auch Wei­chen für ein tie­feres Ver­ständnis der regio­nal­spe­zi­fi­schen Ent­wick­lungen stellen. Daher wurden als Aus­gangs­punkte für Berichte und Inter­views Fragen for­mu­liert, die helfen sollten herauszufinden,

 

- wer in diesen Län­dern über die wich­tigen Infor­ma­tionen des kul­tu­rellen Feldes und des Funk­tio­nie­rens seiner Ins­ti­u­tionen verfügt

- wer die ver­schie­denen künst­le­ri­schen Felder glei­cher­maßen über­blickt und

- wer über inter­na­tio­nale Kon­takte (und wohin) verfügt.

 

Als Her­aus­ge­berin und Chef­re­dak­teurin der im heu­tigen Russ­land ein­zigen unab­hän­gigen kul­tur­jour­na­lis­ti­schen Online-Platt­form colta.ru, brachte Maria Ste­pa­nova zum Zweck der Ergän­zung der regio­nalen und inter­na­tio­nalen Exper­tise aus rus­si­scher Sicht sowie zur Inten­si­vie­rung der ver­glei­chenden Dis­kus­sion  zu den zwei rah­menden Treffen jeweils eine/n Experti/en aus Russ­land dazu: Marina Davy­dova, Her­aus­ge­berin und Chef­re­dak­teurin der Zeit­schrift “Teatr” (http://oteatre.info/) und Ilja Daniševskij, Autor und Ver­fechter eines neuen dezi­diert nicht-offi­zi­ellen kri­ti­schen Dis­kurses in Russ­land, Her­aus­geber der wich­tigen Buch-Serie Ange­do­nija im Verlag AST (https://ast.ru/series/angedoniya-proekt-danishevskogo-1078829/) mit Ana­lysen der poli­ti­schen und kul­tu­rellen Situa­tion im Russ­land der Gegen­wart von bekannten kri­ti­schen Journalist_innen und Kulturexpert_innen, dessen aktu­elle Ini­ti­ta­tiven Her­aus­ge­ber­schaften (z.B. als Redak­teur der Lite­ra­tur­ko­lumne der Zeit­schrift „Snob“) im Kon­text von Covid-19 beson­dere Reso­nanz erfahren haben.

 

novinki publi­ziert in rus­si­scher Ori­gi­nal­sprache die Video­auf­zeich­nungen des eröff­nenden und des beschlie­ßenden Work­shops sowie jeweils ein­zeln die Exper­ten­in­ter­views. In Ergän­zung dazu werden auch die Über­blicks­es­says der Expert_innen für die Situa­tion in den sechs Län­dern publi­ziert, zunächst auf Rus­sisch und dem­nächst auch in deut­scher Über­set­zung. Wir emp­fehlen die Lek­türe der voll­stän­digen Über­blicks­es­says auch des­halb, weil sich in ihnen ganz bewusst der sub­jek­tive Stand­punkt der/s jewei­ligen Autorin/s mani­fes­tiert. Außerdem hängen ihre Per­spek­tiven vom jewei­ligen pro­fes­sio­nellen Inter­esse ab und geben Ein­blick in die jewei­lige Expertise.

 

Als Ergebnis des ver­glei­chenden Blicks auf die post­so­wje­ti­schen Länder zeichnen sich einige struk­tu­relle Par­al­lelen ab, die eine erste Cha­rak­te­ri­sie­rung der aktu­ellen Situa­tion erlauben:

 

  • Das Faktum der Zen­triert­heit des natio­nalen Kul­tur­raums bzw. “Feldes” auf die jewei­lige Metro­pole. Manchmal wird die Haupt­stadt gar als der ein­zige Ort inter­es­santer künst­le­ri­scher Initia­tiven von über­re­gio­naler Rele­vanz ange­geben. Nur in der Ukraine und Geor­gien werden neben den beiden Haupt­städten noch zwei bis drei andere wich­tige Kunst- und Kul­tur­zen­tren erwähnt.
  • Eine andere sich durch die Ana­lysen aller sechs Länder zie­hende Beob­ach­tung ist die struk­tu­relle Kon­ti­nuität der alten Insti­tu­tionen des Kul­tur­be­triebs, z.T. als „Rumpf­in­sti­tu­tionen“, bei gleich­zei­tiger ideo­lo­gi­scher oder gene­reller Aus­höh­lung oder Umko­die­rung. Dabei wird z.T. eine Behin­de­rung neuer Ent­wick­lungen durch die alten Sturk­turen und gene­rell die Reduk­tion wert­schöp­fe­ri­scher Vor­gaben von oben oder eine starke Wech­sel­haf­tig­keit kurz­le­biger Pro­jekte und eine daraus resul­tie­rende Rich­tungs­lo­sig­keit konstatiert.
  • Neue, hori­zontal ent­stan­dene Initia­tiven und Struk­turen werden in fast allen Fällen als allzu kurz­lebig, punk­tuell und wenig nach­haltig beklagt.
  • Fast alle Experten wiesen auf die Rolle von Zensur und Selbst­zensur sowohl im poli­ti­schen Kon­text als auch im Kon­text des natio­nalen und inter­na­tio­nalen Marktes hin.
  • Bemer­kens­wert ist in allen Län­dern eine gewisse Kon­ti­nuität in Hin­blick auf die Rolle alter­na­tiver Insti­tu­tionen in den kulturellen/künstlerischen Dyna­miken der Gegen­wart gegen­über den sowje­ti­schen Ent­wick­lungen: In Län­dern, wo der Under­ground als Struktur alter­na­tiver, anti-offi­zi­eller und sub­ver­siver künst­le­ri­scher Akti­vität und kul­tu­reller Kom­mu­ni­ka­tion beson­ders aus­ge­prägt war, ist er das noch heute, wenn auch in modi­fi­zierter Form: so z.B. durch das Zusam­men­wirken zwi­schen Akti­vi­täten im In- und Aus­land wie im Fall des “Freien bela­ru­si­schen Thea­ters” oder ein­fach in Gestalt von sich gegen­über dem Staat dezi­diert abgren­zenden alter­na­tiven Insti­tu­tionen (wie z.B. in der Ukraine oder Arme­nien und tlw. In Kir­gi­stan). Dagegen spielt Under­ground als alter­na­tive Insti­tu­tio­na­li­sie­rung des kul­tu­rellen Feldes dort keine Rolle, wo er auch bereits in sowje­ti­scher Zeit im Kon­text einer ver­gleichs­weise libe­ralen oder gesell­schaft­lich-struk­tu­rell wenig span­nungs­vollen Situa­tion kaum aus­ge­prägt war wie z.B. in Geor­gien oder in Lettland.
  • Für Lett­land und Geor­gien wird aktuell die För­de­rung durch staat­liche Insti­tu­tionen als wich­tigste und finan­ziell wirk­mäch­tigste Instanz ange­geben. Es wäre zu fragen, inwie­fern dies even­tuell noch immer mit dem jewei­ligen Sta­dium des post­so­wje­ti­schen Neu­kon­so­li­die­rungs­pro­zess des kul­tu­rellen Feldes zusammenhängt.
  • Trotz regel­mäßig statt­fin­dender inter­na­tio­naler Fes­ti­vals, Bien­nalen etc. wurde all­ge­mein ein Defizit in Hin­blick auf Kom­mu­ni­ka­tion und Aus­tausch zwi­schen den post-sowje­ti­schen Regionen festgestellt
  • Von allen wurde die große Rele­vanz von Initia­tiven, die eine grö­ßere inter­na­tio­nale Sicht­bar­keit ermög­li­chen hin­ge­wiesen (Bei­spiele hierfür waren die Bien­nalen in Lett­land oder die Teil­nahme Geor­giens als Gast­land im Rahmen der Frank­furter Buch­messe 2019)
  • Sehr unter­schied­lich von Land zu Land stellte sich die Rolle Russ­lands und der rus­si­schen Sprache als Ori­en­tie­rungs­punkt für natio­nale Ent­wick­lungen oder als Mediator für inter­na­tio­nale Kul­tur­kon­takte da. In einem „post-sowje­tisch“ zu nen­nenden Umfang erwies sich dies nur für Kir­gi­stan als relevant.
  • Nur für Kir­gi­stan und z.T. für Belarus fun­giert auch die rus­si­sche Sprache wei­terhin als lingua franca.
  • Für die meisten anderen Länder stellen heute die Kul­tur­be­zie­hungen nach Russ­land eine inter­na­tio­nale Bezie­hung unter vielen dar.
  • Was zukünf­tige För­de­rungen betrifft, so waren sich alle Experten dar­über einig, dass 1. Eine punkt­ge­naue Finan­zie­rung wich­tiger Pro­jekte, 2. Die Bereit­stel­lung lang­fris­tiger Sti­pen­dien zur Bewäl­ti­gung umfang­rei­cherer Auf­ga­ben­stel­lungen und 3. Die Ent­wick­lung nach­hal­tiger För­der­pro­gramme nicht zuletzt zum Zweck von Ver­net­zung und Inte­gra­tion höchste Prio­rität haben sollten.

Auf der Basis der Ergeb­nisse der Work­shops könnte nun als wei­tere Vor­ar­beit zur Errich­tung einer För­der­platt­form ein, an regio­nale Expert_innen zu adres­sie­render detail­lierter Fra­ge­bogen erar­beitet werden, dessen Ant­worten eine genauere und tie­fere Kar­tie­rung des kul­tu­rellen Feldes erlauben.