Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Pro­pa­gan­dis­ti­sche Kriegs­lexik – Ver­schie­bung der Sprachnormen

Der vor­lie­gende Essay ist ein Ver­such, die Rhe­torik der rus­si­schen Regie­rung der letzten Jahre und ihre Aggres­si­vität auf­zu­zeigen. Der Ver­fasser ist rus­si­scher PhD-Stu­dent der Psy­cho­lin­gu­istik in Polen und zutiefst bestürzt über den Krieg und das Funk­tio­nieren der Pro­pa­ganda in seinem Land. #нетвойне

 

Der vor­lie­gende Text ist die Über­set­zung von Susanne Frank des Ursprungs­bei­trags: “Пропагандистский военный лексикон – смещение языковых норм” von Danil Fokin.

 

Der Angriff Russ­lands auf die Ukraine am 24. Februar ist nicht nur eine Ver­let­zung des Völ­ker­rechts und der Sou­ve­rä­nität eines anderen Landes, son­dern auch ein Beweis für den Zusam­men­bruch der grund­le­genden Funk­tionen der Sprache als Gestal­tungs- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mittel, Medium der Diplo­matie und des Ver­trags. Der dadurch initi­ierte Krieg scho­ckierte Mil­lionen von Men­schen auf der ganzen Welt. Sie sahen sich mit der Ohn­macht der Sprache kon­fron­tiert, mit der Unmög­lich­keit, in ver­ständ­li­cher Weise zu beschreiben und aus­zu­drü­cken, was sie über das Gesche­hene emp­fanden. Es hat sich her­aus­ge­stellt, dass die Worte fehlen, dass Worte die tiefen Gefühle nicht ange­messen erfassen können, die auf den Trüm­mern des Sprach­ver­trags, der Sprache der Ver­nunft, ent­standen sind.

С. Pinker argu­men­tiert, dass Sprache in erster Linie ein Werk­zeug ist, um “Gedanken aus­zu­drü­cken“, eine Art zu denken. Mit ihrer Hilfe kann unser Gehirn seine Denk­tä­tig­keit sta­bi­li­sieren, erklären und ana­ly­sieren und so als eine Art „ret­tende Insel“ dienen, ein Balan­ceakt. Ohne Sprache würde unsere Spe­zies höchst­wahr­schein­lich ihren tie­ri­schen Instinkten, unmo­ra­li­schem Ver­halten und min­der­wer­tigen Bedürf­nissen erliegen. Dazu gehört u.a. die Lust am Tot­schlag. Sprache ist ein evo­lu­tio­närer Abschre­ckungs­me­cha­nismus (keine Atom­waffe), der auf Koope­ra­tion und Koexis­tenz aus­ge­legt ist.

 

Es wäre falsch, den 24. Februar als Aus­gangs­punkt der Ver­än­de­rungen in der rus­si­schen Sprache zu betrachten, er ist viel­mehr ein Höhe­punkt. Die in den letzten Jahren (wenn nicht Jahr­zehnten) betrie­bene Pro­pa­ganda ist zu einem Indi­kator einer sprach­li­chen Degra­die­rung geworden, die  immer schneller vor­an­schreitet. In den letzten Wochen wurden sogar die Grund­lagen der rus­si­schen Recht­schrei­bung ver­än­dert, indem das kyril­li­sche “З” durch das latei­ni­sche “Z”, das Symbol der Ope­ra­tion in der Ukraine, ersetzt wurde. Solche Erset­zungen wurden sowohl in den Namen einiger regio­naler Publi­ka­tionen und Zei­tungen als auch im Tele­gramm­kanal des Föde­ralen Dienstes für die Über­wa­chung von Kom­mu­ni­ka­tion, Infor­ma­ti­ons­tech­no­logie und Mas­sen­me­dien (“KuZbas”, “РоскомнадZор”, “Zабайкалье”) vor­ge­nommen. Auf­fal­lend ist auch der Grad der sprach­li­chen Aggres­sion, der einen noch nie dage­we­senen Höhe­punkt erreicht hat. Ein wei­teres Bei­spiel dafür ist die Admi­nis­tra­tion des Tisul Gemein­de­be­zirks: КуZбасс — Zа Родину” (tisul.ru).

 

“Natio­nal­so­zia­lismus”, “Ent­na­zi­fi­zie­rung”, “Völ­ker­mord”, “Aus­rot­tung”, “Bestrafer”, “mili­tante Nazis”, “ihre Kinder ver­schlingen” (wäh­rend der Revo­lu­tion) und “volks­feind­liche Junta” – all diese geschwärzten, grau­samen und unmensch­li­chen Audrücke bom­bar­dieren seit zehn Jahren die Hörer der staat­li­chen Fern­seh­sender. Leider denken nur wenige von ihnen kri­tisch über die Infor­ma­tionen nach, die sie erhalten. Wenn wir ver­su­chen, den Grund für diese unver­hoh­lene sprach­liche Aggres­sion, Gewalt und hass­erfüllte sprach­liche Pro­vo­ka­tion zu ana­ly­sieren, werden zwei Ziele deut­lich. Im Prinzip liegen sie auf der Oberfläche.

Das erste ist die offen­sicht­liche Auf­sta­che­lung zu Hass und Feind­schaft (Artikel 282 des rus­si­schen Straf­ge­setz­bu­ches); es han­delt sich um die Erwe­ckung einer “blinden Wut” in den Men­schen, bei der eine Person oft nicht in der Lage ist, ihre Hand­lungen zu kon­trol­lieren. Für die meisten Men­schen in der Welt sind die Begriffe “Nazismus” und “Völ­ker­mord” stark negativ gefärbt. Sie sind mit einer Viel­zahl nega­tiver Asso­zia­tionen ver­bunden, die unmensch­liche Bilder von den Ver­bre­chen des Faschismus her­auf­be­schwören. Für Russen sind die Themen “Nazismus” und “Völ­ker­mord” aus bekannten Gründen beson­ders schmerz­haft. Der Zweite Welt­krieg hielt Einzug in fast alle Haus­halte und Fami­lien. Die rück­sichts­lose Mani­pu­la­tion dieser Begriffe kann nur darauf abzielen, Bilder des Zweiten Welt­kriegs in unseren Köpfen wieder auf­leben zu lassen und als Aus­löser für nega­tive Asso­zia­tionen und Schre­ckens­bilder zu dienen, die mit diesem Krieg ver­bunden sind. Wir neigen dazu, auf emo­tional gefärbte Kon­zepte stärker zu reagieren. Aber mit ihnen sickert auch der gif­tige Kon­text, der sie umgibt, ins Bewusst­sein. In der Pro­pa­ganda wird der Ant­ago­nist aus­ge­tauscht. Das “Welt­böse” ist nicht mehr Nazi-Deutsch­land, son­dern die Ukraine. Und alle beglei­tenden Zusam­men­hänge und Dar­stel­lungen drehen sich um die “Nazi-Ukraine”.

 

Die Ver­bre­chen des Faschismus werden in Russ­land in Schulen und Uni­ver­si­täten gelehrt, und seine Schre­cken werden in vielen Büchern und Augen­zeu­gen­be­richten beschrieben. Leider gibt es nur wenige Über­le­bende des Zweiten Welt­kriegs. Des­halb sind wir (sowohl in Russ­land als auch im Aus­land) mit Tau­senden von “indi­vi­du­ellen” Wahr­neh­mungen des Natio­nal­so­zia­lismus kon­fron­tiert. Diese Wahr­neh­mungen sind je nach Lese­stufe und Kenntnis des Themas unter­schied­lich, aber in einem Punkt sind sie sich einig: Der Natio­nal­so­zia­lismus ist gna­denlos, ent­setz­lich und unmensch­lich. Indem die Pro­pa­ganda an solche Bilder und damit an das kol­lek­tive Gedächtnis appel­liert, stürzt sie die Men­schen in Angst und Schre­cken. Nur wenige Durch­schnitts­bürger “über­prüfen” die Begriffe auf ihre wahre Bedeu­tung, nur wenige sind sich bewusst, was tat­säch­lich geschieht. Infol­ge­dessen sind viele von der Rich­tig­keit und Not­wen­dig­keit einer Mili­tär­ak­tion über­zeugt, weil sie auf die Ver­nich­tung der “Nazis” abzielt. Pro­pa­ganda ist Indok­tri­na­tion und Druck, dem die­je­nigen unter­liegen, die nicht in der Lage sind, die Welt kri­tisch zu betrachten.

Das zweite Ziel, das sich teil­weise aus dem ersten ergibt, ist die Auf­recht­erhal­tung von Angst und Unter­drü­ckung der Bevöl­ke­rung. Eine solche Sprache greift kom­pro­misslos einen unemp­fäng­li­chen Geist an. Das schüch­tert ein und macht Angst. Bei­spiele der letzten Jahre: “Bestrafer”, “Natio­na­listen”, “Rechter Sektor” (2014), “mili­tante Nazis”, “sie sind nicht der Staat”, “ihre Kinder ver­schlingen” (wäh­rend der Revo­lu­tion), “Selbstra­di­ka­li­sie­rung”, “Gräu­el­taten des Regimes” (2016); “Schi­kane”, “Völ­ker­mord”, “blu­tige Ver­bre­chen”, “Nazis”, “volks­feind­liche Junta” (2022) oder eben “Wir werden die gesamte Ukraine ein­nehmen” (2018). Dies ist die Sprache der Kraft, der Macht und der Über­le­gen­heit. Aus der Ansprache V. Putins an die ukrai­ni­schen Sol­daten: “Eure Groß­väter und Urgroß­väter haben nicht gegen die Nazis gekämpft und unser gemein­sames Mut­ter­land ver­tei­digt, damit die heu­tigen Neo­nazis die Macht in der Ukraine über­nehmen können. Sie haben einen Treueeid auf das ukrai­ni­sche Volk geschworen und nicht auf die volks­feind­liche Junta, die die Ukraine aus­raubt und schi­ka­niert.“ Es ist schwierig, solche direkten Aus­sagen zu igno­rieren und nicht darauf zu reagieren. Diese Begriffe gehören nicht zum aktiven Wort­schatz der meisten rus­si­schen Mut­ter­sprachler (Häu­fig­keit des Wortes “Nazismus” = 2,3 per Mio.; “Junta” = 1,3 per Mio.; aber das Wort “Frieden” = 714 per Mio.). Sie liegen auch außer­halb des all­täg­li­chen Sprach­codes der Spre­cher, der zur Kom­mu­ni­ka­tion unter ver­schie­denen Umständen und an ver­schie­denen Orten ver­wendet wird. Die end­lose Wie­der­ho­lung dieser Worte bleibt jedoch wie ein Kriegs­mantra ‚im Kopf hängen‘. Früher oder später werden sie zu aktiven Ein­heiten im Wort­schatz des Spre­chers, wodurch sich sein men­taler Wort­schatz ver­än­dert. Eine solche Rhe­torik demons­triert unter anderem die „Stärke“ und „Macht“ des Staates. Bei den Spre­chern schafft es sogar Ver­trauen in die Sicherheit.

Gleich­zeitig wird man durch das Fehlen dieser Begriffe im aktiven Wort­schatz von dieser Rhe­torik erschlagen und über­wäl­tigt; man kann nicht voll­ständig ver­stehen, was diese Wörter ety­mo­lo­gisch bedeuten und wie sie ver­wendet werden sollen. Man ver­lässt sich also nur auf die eigene Erfah­rung, die von vielen Fak­toren abhängt: Breite und Tiefe des Wis­sens, Bil­dung, per­sön­liche Ein­stel­lung und Fami­li­en­ge­schichte. Es wird zum Bei­spiel davon abhängen, ob der Träger in der Lage ist, sein Wissen über die Mili­tär­junta in Myanmar zu über­tragen und fest­zu­stellen, dass das ukrai­ni­sche Staats­system nichts mit ihr gemein hat. Oder um zum Bei­spiel zu berück­sich­tigen, dass ein Jude unwahr­schein­lich ein Nazi sein könnte.

Die Häu­fig­keit der Ver­wen­dung der oben genannten Begriffe hat in den letzten Jahren dras­tisch zuge­nommen, und viele Hörer/Leser kennen diese Schlüs­sel­wörter bereits und reagieren darauf. Dies war ein weit­sich­tiger Plan der rus­si­schen Rhe­torik – eine sys­te­ma­ti­sche, schritt­weise Stei­ge­rung der Aggres­sion und sprach­liche Angriffe von allen mög­li­chen Platt­formen aus. Infol­ge­dessen bildet Russ­land einen sprach­lich geschaf­fenen künst­li­chen Raum, eine Art Grau­zone, in der ver­blüffte und depri­mierte Men­schen, die von der Rich­tig­keit des Krieges über­zeugt sind, als Gei­seln gehalten werden. Und dieser Raum ist extrem ange­spannt und negativ geladen, weil seine Bewohner ihre Wut nur mit den sprach­li­chen Mit­teln, die ihnen die Pro­pa­ganda zur Ver­fü­gung stellt, zum Aus­druck bringen können. Die Schlag­worte bleiben die­selben, die Rhe­torik wird sich nicht ändern.

 

Die Mensch­heit ist logo­zen­trisch. Wir leben inner­halb bestimmter Sprach­codes und ver­wenden eine sozial geschich­tete Sprache. So spre­chen bei­spiels­weise die Men­schen in Groß­städten meist eine Sprache, die nicht mit der Sprache der Klein­städte iden­tisch ist, und Wis­sen­schaftler und Uni­ver­si­täts­pro­fes­soren spre­chen nicht die gleiche Sprache wie unge­bil­dete Mut­ter­sprachler. Aber jetzt gibt es eine Spal­tung der eta­blierten indi­vi­du­ellen Sprach­normen. Es gibt eine Inter­ven­tion von Begriffen, die der All­tags­sprache fremd sind. Die aggres­sive Ein­füh­rung von Kon­zepten, die grund­sätz­lich anders, kul­tu­rell und emo­tional negativ bestimmt sind, schafft ein Ungleich­ge­wicht. Das gewohnte Sprach­schema wird zer­stört, und da der Spre­cher das Bedürfnis hat, sich in der „Sprache als Mittel des Den­kens“ zurecht­zu­finden, werden hass­erfüllte Begriffe in die All­tags­sprache inte­griert, wodurch sie ihre kul­tu­relle, his­to­ri­sche und ety­mo­lo­gi­sche Bedeu­tung für den Spre­cher ver­lieren. Es ist nicht aus­zu­schließen, dass bald sowohl Deutsch­land als auch die Ukraine erwähnt werden, wenn es um den Nazismus in Russ­land geht.

Zusam­men­fas­send lässt sich mit Bedauern fest­stellen, dass nicht nur der Krieg, die dadurch bedingte – bzw. vom Westen als Ant­wort her­bei­ge­führte – bei­spiel­lose Wirt­schafts­krise und die sich als Kon­se­quenz aus dem Angriffs­krieg ver­brei­tende nega­tive Ein­stel­lung gegen­über ganz Russ­land die rus­si­sche Gesell­schaft für immer ver­än­dern werden. Auch die Sprache une der Denkart werden sich ändern, und auf­grund der bei­spiel­losen Pro­pa­ganda werden ver­zerrte und ver­drehte Begriffe in sie ein­fließen. Sie werden sich in den Köpfen der Men­schen fest­setzen. Und nach dem Krieg werden ihre nega­tiven Bedeu­tungen dort fest ver­wur­zelt sein. Dies ist eine wei­tere Kata­strophe, die über die Spre­cher der rus­si­schen Sprache her­ein­bre­chen wird, die sich dieser aggres­siven Infil­tra­tion nicht wider­setzen können.

 

*Wäh­rend dieser Artikel zur Ver­öf­fent­li­chung vor­be­reitet wurde, begann das Symbol “Z” überall erscheinen und die Pro­pa­ganda nimmt jetzt die gesamte Sen­de­zeit im Fern­sehen ein. Was mich am meisten über­rascht, dass das “Z” – der latei­ni­sche Buch­stabe ist, d.h. der Teil der west­li­chen Sprache und Kultur, gegen die die Pro­pa­ganda zu kämpfen ver­sucht. Aller­dings, fällt nie­mandem dieser offen­sicht­li­chen Zufall ein.