Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

In Ord­nung. László Kraszn­ahor­kais Melan­cholie des Widerstands

Eng­land 10.09.2011, Hun­derte teils mas­kierte Jugend­liche laufen in der Nacht durch das Stadt­zen­trum Man­ches­ters, werfen Schau­fens­ter­scheiben ein und plün­dern Schuh- und Klei­dungs­ge­schäfte sowie einen Elek­tro­markt. Ein Poli­zei­ver­treter spricht von den schwersten Kra­wallen in Man­chester in den ver­gan­genen 30 Jahren. „Das ist sinn­lose Gewalt und sinn­lose Kri­mi­na­lität in einer Grö­ßen­ord­nung, wie ich sie nie zuvor gesehen habe.“ äußert sich ein rang­hoher Polizeioffizier.
Ungarn 1989. László Kraszn­ahor­kais Roman Die Melan­cholie des Wider­stands erscheint. Darin die Geschichte eines Zirkus, dessen Gefolg­schaft eines Nachts plötz­lich über die kleine unga­ri­sche Stadt her­fällt, in der sie gas­tiert. In nur einer Nacht brennt der Mob vom Kino bis zum Wasch­salon alles nieder, was er zu fassen bekommt. Am nächsten Morgen greift das Militär ein, dem Spuk wird ein Ende gemacht und die Ver­ant­wort­li­chen werden zur Rechen­schaft gezogen. Über die Gründe für den Gewalt­aus­bruch kann am Ende nur spe­ku­liert werden.
Zwar ist die unga­ri­sche Pro­vinz nicht London, und der Aus­löser für die meh­rere Tage andau­ernden Kra­walle war auch sicher kein Zirkus, trotzdem aber lie­fert uns Kraszn­ahorkai mit seiner Geschichte, wenn auch nicht Ant­worten, so zumin­dest Impulse zum Ver­ständnis der Ereig­nisse in London und viel­leicht sogar dar­über hinaus zu einem wei­teren Ver­ständnis unserer Zeit. Gerade in seiner Über­trag­bar­keit auf das Hier und Jetzt liegt die Stärke des Buches, das eine Bestands­auf­nahme von Werten und Ord­nung leistet, die trotz ihrer zeit­li­chen Ent­fer­nung für Leser heute wert­volle Ein­sichten eröffnet.

 

Das Leben Valuskas, eines schüch­ternen und ein wenig zurück­ge­blie­benen Ster­ne­gu­ckers, und seines ein­zigen Freundes Herrn Esz­ters, eines ver­bit­terten alten Musik­wis­sen­schaft­lers, der sich die Suche nach reinen Tönen zur Auf­gabe gemacht hat, ändert sich schlag­artig, als in der im Müll ersti­ckenden Stadt ein Zirkus ein­kehrt. Dessen Haupt­at­trak­tion stellt der Kadaver eines Wals dar. Schon bald ver­sam­melt sich um den Zirkus eine stumme Gefolg­schaft, die mit dem Zirkus durch das Land zieht. Nach der Ansprache eines mys­te­riösen Fürsten, der zu den Dar­stel­lern des Zirkus zu gehören scheint, wütet der auf­ge­sta­chelte Mob durch die Stadt. Das Chaos endet erst mit dem Ein­marsch des Mili­tärs. Valuskas Mutter wird in dieser Nacht ermordet, er selbst muss fliehen. Herr Eszter ver­bar­ri­ka­diert sich in seiner Woh­nung, seine getrennt lebende Frau hat, durch allerlei Intrigen, beträcht­liche Macht an sich gerissen.
Warum die Gefolg­schaft des Zirkus, die, wie man später erfährt, wohl mehr dem Fürsten als dem Zirkus folgt, zu zer­stören und plün­dern begann, erklärt Kraszn­ahorkai nicht. Ebenso verrät er dem Leser nicht, was der Fürst bei seiner Ansprache den Anhän­gern eigent­lich sagt. Der Leser wird damit allein gelassen, eine Ant­wort auf die Frage des Warum zu finden.
Viel­leicht lässt sich diese, um zum anfäng­li­chen Ver­gleich zurück­zu­kommen, in den Worten eines Lon­doner Poli­zisten finden: „Sie haben nichts mehr zu ver­lieren“. Dieser Satz lässt sich zwei­fels­frei auf den Mob in Kraszn­ahor­kais Die Melan­cholie des Wider­stands anwenden und zeigt, dass die soziale Ord­nung, unsere Selbst­kul­ti­vie­rung durch Sitte und Gesetz in Anbe­tracht des Nichts zer­fällt. Regeln und Ord­nung scheinen nur  Sinn zu machen, wenn ihr Ein­halten einen Vor­teil in der Zukunft ver­spricht. Wenn jedoch keine Zukunft exis­tiert, machen dann Regeln noch Sinn? Wenn die Zukunft durch Ein­halten der Regeln ebenso mise­rabel zu werden scheint wie ohne, ist es dann nicht sehr leicht sich von allen Maß­set­zungen und den ihnen die­nenden Regel zu lösen? Die Ant­wort in Kraszn­ahor­kais Roman fällt ein­deutig aus.

 

Kraszn­ahorkai bleibt aber nicht dabei stehen gesell­schaft­liche Fragen zu dis­ku­tieren. Der fragt außerdem auch nach dem all­ge­meinen Prinzip der Ord­nung: Ihn inter­es­siert, ob es Ord­nung über­haupt gibt, wie sie aus­sieht, wo sie sich mani­fes­tiert und wo ihre Grenzen liegen.
Für den Fürsten in Die Melan­cholie des Wider­stands exis­tiert keine Ord­nung. Chaos und Zer­stö­rung sind der Null­zu­stand und das einzig Mög­liche. Für ihn ist die Form­bar­keit der Außen- und Innen­welt bloßer Schein und Aus­druck des Ver­suchs, unsere mensch­liche Natur und die Natur die Dinge mit einer Ord­nung zu über­de­cken, die uns ein Gefühl von Sicher­heit ver­mit­telt. Eine Sicher­heit, die frei­lich täuscht, und deren Fra­gi­lität sich jedes Mal aufs Neue zeigt, wenn Kata­stro­phen und Kriege über Länder hinweg ziehen. Für den Fürsten sind solche Zustände keine Aus­nah­me­zu­stände, wie sie oft in den Nach­richten beti­telt werden, son­dern die Nor­ma­lität einer abge­schminkten Maske der Ord­nung. Und diese Nor­ma­lität gilt es her­zu­stellen. Der Pro­zess der Zer­stö­rung wird also als Auf­bau­ar­beit verstanden.
Und auch die Figur des Valuska gibt eine Ant­wort darauf, was sich unter Ord­nung ver­stehen lässt, denn mit seinem unun­ter­bro­chen in den Himmel gerich­teten Blick und seiner Erzäh­lung von Sonne, Erde und Mond, die sich umein­ander bewegen, scheint er an eine tran­szen­dente Ord­nung zu glauben, die sich in den regel­mä­ßigen Kreis­be­we­gung der Pla­neten manifestiert.
Das Militär hin­gegen sieht allein sich selbst als maß­ge­bend zur Wie­der­her­stel­lung der Ord­nung. Für sie und das Gericht exis­tieren nur Gewalt und schließ­lich Beweise und Urteile, mit denen sie den Auf­gaben als Ord­nungs­hüter nachkommen.

 

Die erwähnten Figuren stellen nur einen kleinen Auszug aus dem Kanon der mög­li­chen Ord­nungs­ideen dar, die uns Kraszn­ahorkai vor­stellt. Wäh­rend der Fürst sich seiner These sicher ist, dass die Ord­nung an sich nicht exis­tiert und dafür auch keine Beweise zu finden sucht, müssen sich Valuska und Herr Eszter ihre Ord­nungs­theo­rien jeden Tag aufs neue beweisen, indem sie Kla­vier spielen oder in den Himmel bli­cken. Trotzdem bleiben ihnen bis zum Schluss Zweifel. Gerade die Zweifel machen wie­derum die Aktua­lität von Die Melan­cholie des Wider­stands aus. Wir selbst leben in einer Zeit, deren Ver­suche sie zu ordnen und zu ver­ein­fa­chen das Gegen­teil bewirkt zu haben scheinen. Bei­spiele dafür lassen sich viel­fach aus­ma­chen. Wer etwa hat nicht an die Bestän­dig­keit des Euro geglaubt, der unser Wirt­schafts­system in eine supra­na­tio­nale Ord­nung der Zukunft trans­for­mieren sollte. Wie viele Wirt­schafts­theo­re­tiker haben jah­re­lang von den selbst­re­gu­lie­renden Kräften des Finanz­marktes geredet? Eine Ord­nung aber, die aus sich selbst heraus die Unord­nung, die Dere­gu­lie­rung ver­hin­dert, scheint es nun viel­leicht doch nicht zu geben. Ebenso wenig wie eine gemein­same Wäh­rung die Markt­pro­zesse zu ver­ein­fa­chen oder zu regu­lieren scheint, son­dern nur eine kom­plexe Ver­flech­tung von Geld­ge­schäften erzeugt und somit das Ent­stehen von Chaos, nicht aber von Ord­nung vereinfacht.
Sowohl der Blick in die Geschichte als auch in die Gegen­wart zeigt, dass die Momente, in denen das Chaos aus seinem Schat­ten­da­sein her­vor­tritt, oft auch Momente für radi­kale Kräfte sind. Sie pro­pa­gieren meist die Vor­stel­lung einer tota­li­tären Ord­nung, die vielen ange­sichts der eigenen Lage und dem Wunsch nach Bestän­dig­keit viel­ver­spre­chend erscheint.

 

Auch die Leser dürften sich daher mit­unter wie die melan­cho­lisch umher­ge­trie­benen Figuren des Romans fühlen und sich beim Lesen dabei ertappen, wie auch sie selbst ihr Leben an Ord­nungs­prin­zi­pien zu knüpfen ver­su­chen, die imma­nenten Sinn ver­heißen oder einen prak­ti­ka­blen Lebensweg aufzeigen.
Auf welch einem wacke­ligen Gerüst wir jedoch eigent­lich stehen, zeigt uns das Aus­fallen der S‑Bahn genauso wie Ter­ror­an­schläge oder Natur­ka­ta­stro­phen und eben Die Melan­cholie des Wider­stands. Durch unseren Glauben an die Sor­tier­bar­keit und Bere­chen­bar­keit des Lebens machen wir uns zu Sklaven der Ord­nung, ohne die wir nicht mehr zu leben wissen. Die Figuren des Romans führen uns in Anbe­tracht der vom Zer­fall bedrohten Ord­nung unsere  eigene Hilf­lo­sig­keit vor. Nie­mand scheint sich zu wehren und selbst im Ange­sicht der Kata­strophe ver­su­chen viele, eine unmög­lich gewor­dene Rou­tine am Leben zu erhalten, sei es nun aus Phlegma oder aus Angst.
Über all die Katak­lysmen des Romans legt Kraszn­ahorkai die Erha­ben­heit seiner rhyth­misch feinen Sprache und eröffnet uns somit eine wei­tere Per­spek­tive auf Ord­nung und deren Auf­lö­sung: die der Schön­heit. Mit glet­scher­ar­tiger Lang­sam­keit ziehen sich Kraszn­ahor­kais Sätze über Seiten und ent­schleu­nigen somit Pro­zesse, die im wahren Leben oft viel schneller von sich gehen. Jeder Satz liest sich wie ein in Slow Motion abge­spieltes Kapitel einer DVD über unser Leben im 21. Jahr­hun­dert, in Worten gefilmt, mit einer iro­ni­schen Distanz, die zeigt, dass der Autor sich bewusst ist, dass auch er ein kleines Stein­chen in dieser scheinbar so ordent­li­chen Welt ist. Die Unord­nung nach der Auf­lö­sung der Ost-West-Ord­nung scheint ledig­lich für ein paar Jahre das Gewand der fein säu­ber­li­chen Sor­tier­bar­keit eines supra­na­tio­nalen Europa ange­zogen zu haben, um dann wieder ans Licht zu treten und daran zu erin­nern, dass wir uns auch diesmal getäuscht haben, als wir dachten, für Sicher­heit und Ord­nung gesorgt zu haben.

 

Am Ende von Kraszn­ahor­kais Roman über­nimmt Frau Eszter mit Hilfe des Mili­tärs die Macht, doch schon die kleinen Patzer und Pannen bei einer von ihr insze­nierten Beer­di­gung zeigen, dass auch sie, die sich nun so sicher fühlt, nicht von der umstür­zenden Macht der Unord­nung befreit sein wird.
So bleibt die Erkenntnis, dass wir letzt­end­lich doch alle nur pas­sive Akteure eines viel grö­ßeren Ganzen sind, das die Mäch­tigen zu beherr­schen glauben, letzt­end­lich aber selbst nicht ver­stehen.  Wie der Fürst so lässt uns auch Kraszn­ahorkai mit dieser Erkenntnis, die viel­leicht 23 Jahre nach der Wende wieder wich­tiger denn je ist, alleine. Und so ist es tröst­lich, dass auf den letzten Seiten des Buches dann doch ein ein­ziges Mal Ord­nung und Mensch zusammen kommen, als er auf zehn Seiten minu­tiös beschreibt wie die inein­an­der­grei­fenden Ver­we­sungs­vor­gänge eine Leiche im Sarg zer­setzen. Daran ist nicht zu rütteln.

 

Aus­ge­wählte Bibliographie
Die Melan­cholie des Wider­stands. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2011.
Seiobo auf Erden. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2010.
Satans­tango. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2010.
Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2007.
Krieg und Krieg. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2006.

 

Nur in eng­li­scher Sprache
Animal Inside. New York: New direc­tions, 2011.