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In Ordnung. László Krasznahorkais Melancholie des Widerstands

Posted on 7. Mai 2012 by Hannes Puchta
England 10.09.2011, Hunderte teils maskierte Jugendliche laufen in der Nacht durch das Stadtzentrum Manchesters, werfen Schaufensterscheiben ein und plündern Schuh- und Kleidungsgeschäfte sowie einen Elektromarkt. Ungarn 1989. László Krasznahorkais Roman "Die Melancholie des Widerstands" erscheint. Darin die Geschichte eines Zirkus, dessen Gefolgschaft eines Nachts plötzlich über die kleine ungarische Stadt herfällt, in der sie gastiert. In nur einer Nacht brennt der Mob vom Kino bis zum Waschsalon alles nieder, was er zu fassen bekommt. Über die Gründe für den Gewaltausbruch kann am Ende nur spekuliert werden.

England 10.09.2011, Hunderte teils maskierte Jugendliche laufen in der Nacht durch das Stadtzentrum Manchesters, werfen Schaufensterscheiben ein und plündern Schuh- und Kleidungsgeschäfte sowie einen Elektromarkt. Ein Polizeivertreter spricht von den schwersten Krawallen in Manchester in den vergangenen 30 Jahren. „Das ist sinnlose Gewalt und sinnlose Kriminalität in einer Größenordnung, wie ich sie nie zuvor gesehen habe.“ äußert sich ein ranghoher Polizeioffizier.
Ungarn 1989. László Krasznahorkais Roman Die Melancholie des Widerstands erscheint. Darin die Geschichte eines Zirkus, dessen Gefolgschaft eines Nachts plötzlich über die kleine ungarische Stadt herfällt, in der sie gastiert. In nur einer Nacht brennt der Mob vom Kino bis zum Waschsalon alles nieder, was er zu fassen bekommt. Am nächsten Morgen greift das Militär ein, dem Spuk wird ein Ende gemacht und die Verantwortlichen werden zur Rechenschaft gezogen. Über die Gründe für den Gewaltausbruch kann am Ende nur spekuliert werden.
Zwar ist die ungarische Provinz nicht London, und der Auslöser für die mehrere Tage andauernden Krawalle war auch sicher kein Zirkus, trotzdem aber liefert uns Krasznahorkai mit seiner Geschichte, wenn auch nicht Antworten, so zumindest Impulse zum Verständnis der Ereignisse in London und vielleicht sogar darüber hinaus zu einem weiteren Verständnis unserer Zeit. Gerade in seiner Übertragbarkeit auf das Hier und Jetzt liegt die Stärke des Buches, das eine Bestandsaufnahme von Werten und Ordnung leistet, die trotz ihrer zeitlichen Entfernung für Leser heute wertvolle Einsichten eröffnet.

 

Das Leben Valuskas, eines schüchternen und ein wenig zurückgebliebenen Sterneguckers, und seines einzigen Freundes Herrn Eszters, eines verbitterten alten Musikwissenschaftlers, der sich die Suche nach reinen Tönen zur Aufgabe gemacht hat, ändert sich schlagartig, als in der im Müll erstickenden Stadt ein Zirkus einkehrt. Dessen Hauptattraktion stellt der Kadaver eines Wals dar. Schon bald versammelt sich um den Zirkus eine stumme Gefolgschaft, die mit dem Zirkus durch das Land zieht. Nach der Ansprache eines mysteriösen Fürsten, der zu den Darstellern des Zirkus zu gehören scheint, wütet der aufgestachelte Mob durch die Stadt. Das Chaos endet erst mit dem Einmarsch des Militärs. Valuskas Mutter wird in dieser Nacht ermordet, er selbst muss fliehen. Herr Eszter verbarrikadiert sich in seiner Wohnung, seine getrennt lebende Frau hat, durch allerlei Intrigen, beträchtliche Macht an sich gerissen.
Warum die Gefolgschaft des Zirkus, die, wie man später erfährt, wohl mehr dem Fürsten als dem Zirkus folgt, zu zerstören und plündern begann, erklärt Krasznahorkai nicht. Ebenso verrät er dem Leser nicht, was der Fürst bei seiner Ansprache den Anhängern eigentlich sagt. Der Leser wird damit allein gelassen, eine Antwort auf die Frage des Warum zu finden.
Vielleicht lässt sich diese, um zum anfänglichen Vergleich zurückzukommen, in den Worten eines Londoner Polizisten finden: „Sie haben nichts mehr zu verlieren“. Dieser Satz lässt sich zweifelsfrei auf den Mob in Krasznahorkais Die Melancholie des Widerstands anwenden und zeigt, dass die soziale Ordnung, unsere Selbstkultivierung durch Sitte und Gesetz in Anbetracht des Nichts zerfällt. Regeln und Ordnung scheinen nur  Sinn zu machen, wenn ihr Einhalten einen Vorteil in der Zukunft verspricht. Wenn jedoch keine Zukunft existiert, machen dann Regeln noch Sinn? Wenn die Zukunft durch Einhalten der Regeln ebenso miserabel zu werden scheint wie ohne, ist es dann nicht sehr leicht sich von allen Maßsetzungen und den ihnen dienenden Regel zu lösen? Die Antwort in Krasznahorkais Roman fällt eindeutig aus.

 

Krasznahorkai bleibt aber nicht dabei stehen gesellschaftliche Fragen zu diskutieren. Der fragt außerdem auch nach dem allgemeinen Prinzip der Ordnung: Ihn interessiert, ob es Ordnung überhaupt gibt, wie sie aussieht, wo sie sich manifestiert und wo ihre Grenzen liegen.
Für den Fürsten in Die Melancholie des Widerstands existiert keine Ordnung. Chaos und Zerstörung sind der Nullzustand und das einzig Mögliche. Für ihn ist die Formbarkeit der Außen- und Innenwelt bloßer Schein und Ausdruck des Versuchs, unsere menschliche Natur und die Natur die Dinge mit einer Ordnung zu überdecken, die uns ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Eine Sicherheit, die freilich täuscht, und deren Fragilität sich jedes Mal aufs Neue zeigt, wenn Katastrophen und Kriege über Länder hinweg ziehen. Für den Fürsten sind solche Zustände keine Ausnahmezustände, wie sie oft in den Nachrichten betitelt werden, sondern die Normalität einer abgeschminkten Maske der Ordnung. Und diese Normalität gilt es herzustellen. Der Prozess der Zerstörung wird also als Aufbauarbeit verstanden.
Und auch die Figur des Valuska gibt eine Antwort darauf, was sich unter Ordnung verstehen lässt, denn mit seinem ununterbrochen in den Himmel gerichteten Blick und seiner Erzählung von Sonne, Erde und Mond, die sich umeinander bewegen, scheint er an eine transzendente Ordnung zu glauben, die sich in den regelmäßigen Kreisbewegung der Planeten manifestiert.
Das Militär hingegen sieht allein sich selbst als maßgebend zur Wiederherstellung der Ordnung. Für sie und das Gericht existieren nur Gewalt und schließlich Beweise und Urteile, mit denen sie den Aufgaben als Ordnungshüter nachkommen.

 

Die erwähnten Figuren stellen nur einen kleinen Auszug aus dem Kanon der möglichen Ordnungsideen dar, die uns Krasznahorkai vorstellt. Während der Fürst sich seiner These sicher ist, dass die Ordnung an sich nicht existiert und dafür auch keine Beweise zu finden sucht, müssen sich Valuska und Herr Eszter ihre Ordnungstheorien jeden Tag aufs neue beweisen, indem sie Klavier spielen oder in den Himmel blicken. Trotzdem bleiben ihnen bis zum Schluss Zweifel. Gerade die Zweifel machen wiederum die Aktualität von Die Melancholie des Widerstands aus. Wir selbst leben in einer Zeit, deren Versuche sie zu ordnen und zu vereinfachen das Gegenteil bewirkt zu haben scheinen. Beispiele dafür lassen sich vielfach ausmachen. Wer etwa hat nicht an die Beständigkeit des Euro geglaubt, der unser Wirtschaftssystem in eine supranationale Ordnung der Zukunft transformieren sollte. Wie viele Wirtschaftstheoretiker haben jahrelang von den selbstregulierenden Kräften des Finanzmarktes geredet? Eine Ordnung aber, die aus sich selbst heraus die Unordnung, die Deregulierung verhindert, scheint es nun vielleicht doch nicht zu geben. Ebenso wenig wie eine gemeinsame Währung die Marktprozesse zu vereinfachen oder zu regulieren scheint, sondern nur eine komplexe Verflechtung von Geldgeschäften erzeugt und somit das Entstehen von Chaos, nicht aber von Ordnung vereinfacht.
Sowohl der Blick in die Geschichte als auch in die Gegenwart zeigt, dass die Momente, in denen das Chaos aus seinem Schattendasein hervortritt, oft auch Momente für radikale Kräfte sind. Sie propagieren meist die Vorstellung einer totalitären Ordnung, die vielen angesichts der eigenen Lage und dem Wunsch nach Beständigkeit vielversprechend erscheint.

 

Auch die Leser dürften sich daher mitunter wie die melancholisch umhergetriebenen Figuren des Romans fühlen und sich beim Lesen dabei ertappen, wie auch sie selbst ihr Leben an Ordnungsprinzipien zu knüpfen versuchen, die immanenten Sinn verheißen oder einen praktikablen Lebensweg aufzeigen.
Auf welch einem wackeligen Gerüst wir jedoch eigentlich stehen, zeigt uns das Ausfallen der S-Bahn genauso wie Terroranschläge oder Naturkatastrophen und eben Die Melancholie des Widerstands. Durch unseren Glauben an die Sortierbarkeit und Berechenbarkeit des Lebens machen wir uns zu Sklaven der Ordnung, ohne die wir nicht mehr zu leben wissen. Die Figuren des Romans führen uns in Anbetracht der vom Zerfall bedrohten Ordnung unsere  eigene Hilflosigkeit vor. Niemand scheint sich zu wehren und selbst im Angesicht der Katastrophe versuchen viele, eine unmöglich gewordene Routine am Leben zu erhalten, sei es nun aus Phlegma oder aus Angst.
Über all die Kataklysmen des Romans legt Krasznahorkai die Erhabenheit seiner rhythmisch feinen Sprache und eröffnet uns somit eine weitere Perspektive auf Ordnung und deren Auflösung: die der Schönheit. Mit gletscherartiger Langsamkeit ziehen sich Krasznahorkais Sätze über Seiten und entschleunigen somit Prozesse, die im wahren Leben oft viel schneller von sich gehen. Jeder Satz liest sich wie ein in Slow Motion abgespieltes Kapitel einer DVD über unser Leben im 21. Jahrhundert, in Worten gefilmt, mit einer ironischen Distanz, die zeigt, dass der Autor sich bewusst ist, dass auch er ein kleines Steinchen in dieser scheinbar so ordentlichen Welt ist. Die Unordnung nach der Auflösung der Ost-West-Ordnung scheint lediglich für ein paar Jahre das Gewand der fein säuberlichen Sortierbarkeit eines supranationalen Europa angezogen zu haben, um dann wieder ans Licht zu treten und daran zu erinnern, dass wir uns auch diesmal getäuscht haben, als wir dachten, für Sicherheit und Ordnung gesorgt zu haben.

 

Am Ende von Krasznahorkais Roman übernimmt Frau Eszter mit Hilfe des Militärs die Macht, doch schon die kleinen Patzer und Pannen bei einer von ihr inszenierten Beerdigung zeigen, dass auch sie, die sich nun so sicher fühlt, nicht von der umstürzenden Macht der Unordnung befreit sein wird.
So bleibt die Erkenntnis, dass wir letztendlich doch alle nur passive Akteure eines viel größeren Ganzen sind, das die Mächtigen zu beherrschen glauben, letztendlich aber selbst nicht verstehen.  Wie der Fürst so lässt uns auch Krasznahorkai mit dieser Erkenntnis, die vielleicht 23 Jahre nach der Wende wieder wichtiger denn je ist, alleine. Und so ist es tröstlich, dass auf den letzten Seiten des Buches dann doch ein einziges Mal Ordnung und Mensch zusammen kommen, als er auf zehn Seiten minutiös beschreibt wie die ineinandergreifenden Verwesungsvorgänge eine Leiche im Sarg zersetzen. Daran ist nicht zu rütteln.

 

Ausgewählte Bibliographie
Die Melancholie des Widerstands. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011.
Seiobo auf Erden. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2010.
Satanstango. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2010.
Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2007.
Krieg und Krieg. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2006.

 

Nur in englischer Sprache
Animal Inside. New York: New directions, 2011.

In Ordnung. László Krasznahorkais Melancholie des Widerstands - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

In Ord­nung. László Kraszn­ahor­kais Melan­cholie des Widerstands

Eng­land 10.09.2011, Hun­derte teils mas­kierte Jugend­liche laufen in der Nacht durch das Stadt­zen­trum Man­ches­ters, werfen Schau­fens­ter­scheiben ein und plün­dern Schuh- und Klei­dungs­ge­schäfte sowie einen Elek­tro­markt. Ein Poli­zei­ver­treter spricht von den schwersten Kra­wallen in Man­chester in den ver­gan­genen 30 Jahren. „Das ist sinn­lose Gewalt und sinn­lose Kri­mi­na­lität in einer Grö­ßen­ord­nung, wie ich sie nie zuvor gesehen habe.“ äußert sich ein rang­hoher Polizeioffizier.
Ungarn 1989. László Kraszn­ahor­kais Roman Die Melan­cholie des Wider­stands erscheint. Darin die Geschichte eines Zirkus, dessen Gefolg­schaft eines Nachts plötz­lich über die kleine unga­ri­sche Stadt her­fällt, in der sie gas­tiert. In nur einer Nacht brennt der Mob vom Kino bis zum Wasch­salon alles nieder, was er zu fassen bekommt. Am nächsten Morgen greift das Militär ein, dem Spuk wird ein Ende gemacht und die Ver­ant­wort­li­chen werden zur Rechen­schaft gezogen. Über die Gründe für den Gewalt­aus­bruch kann am Ende nur spe­ku­liert werden.
Zwar ist die unga­ri­sche Pro­vinz nicht London, und der Aus­löser für die meh­rere Tage andau­ernden Kra­walle war auch sicher kein Zirkus, trotzdem aber lie­fert uns Kraszn­ahorkai mit seiner Geschichte, wenn auch nicht Ant­worten, so zumin­dest Impulse zum Ver­ständnis der Ereig­nisse in London und viel­leicht sogar dar­über hinaus zu einem wei­teren Ver­ständnis unserer Zeit. Gerade in seiner Über­trag­bar­keit auf das Hier und Jetzt liegt die Stärke des Buches, das eine Bestands­auf­nahme von Werten und Ord­nung leistet, die trotz ihrer zeit­li­chen Ent­fer­nung für Leser heute wert­volle Ein­sichten eröffnet.

 

Das Leben Valuskas, eines schüch­ternen und ein wenig zurück­ge­blie­benen Ster­ne­gu­ckers, und seines ein­zigen Freundes Herrn Esz­ters, eines ver­bit­terten alten Musik­wis­sen­schaft­lers, der sich die Suche nach reinen Tönen zur Auf­gabe gemacht hat, ändert sich schlag­artig, als in der im Müll ersti­ckenden Stadt ein Zirkus ein­kehrt. Dessen Haupt­at­trak­tion stellt der Kadaver eines Wals dar. Schon bald ver­sam­melt sich um den Zirkus eine stumme Gefolg­schaft, die mit dem Zirkus durch das Land zieht. Nach der Ansprache eines mys­te­riösen Fürsten, der zu den Dar­stel­lern des Zirkus zu gehören scheint, wütet der auf­ge­sta­chelte Mob durch die Stadt. Das Chaos endet erst mit dem Ein­marsch des Mili­tärs. Valuskas Mutter wird in dieser Nacht ermordet, er selbst muss fliehen. Herr Eszter ver­bar­ri­ka­diert sich in seiner Woh­nung, seine getrennt lebende Frau hat, durch allerlei Intrigen, beträcht­liche Macht an sich gerissen.
Warum die Gefolg­schaft des Zirkus, die, wie man später erfährt, wohl mehr dem Fürsten als dem Zirkus folgt, zu zer­stören und plün­dern begann, erklärt Kraszn­ahorkai nicht. Ebenso verrät er dem Leser nicht, was der Fürst bei seiner Ansprache den Anhän­gern eigent­lich sagt. Der Leser wird damit allein gelassen, eine Ant­wort auf die Frage des Warum zu finden.
Viel­leicht lässt sich diese, um zum anfäng­li­chen Ver­gleich zurück­zu­kommen, in den Worten eines Lon­doner Poli­zisten finden: „Sie haben nichts mehr zu ver­lieren“. Dieser Satz lässt sich zwei­fels­frei auf den Mob in Kraszn­ahor­kais Die Melan­cholie des Wider­stands anwenden und zeigt, dass die soziale Ord­nung, unsere Selbst­kul­ti­vie­rung durch Sitte und Gesetz in Anbe­tracht des Nichts zer­fällt. Regeln und Ord­nung scheinen nur  Sinn zu machen, wenn ihr Ein­halten einen Vor­teil in der Zukunft ver­spricht. Wenn jedoch keine Zukunft exis­tiert, machen dann Regeln noch Sinn? Wenn die Zukunft durch Ein­halten der Regeln ebenso mise­rabel zu werden scheint wie ohne, ist es dann nicht sehr leicht sich von allen Maß­set­zungen und den ihnen die­nenden Regel zu lösen? Die Ant­wort in Kraszn­ahor­kais Roman fällt ein­deutig aus.

 

Kraszn­ahorkai bleibt aber nicht dabei stehen gesell­schaft­liche Fragen zu dis­ku­tieren. Der fragt außerdem auch nach dem all­ge­meinen Prinzip der Ord­nung: Ihn inter­es­siert, ob es Ord­nung über­haupt gibt, wie sie aus­sieht, wo sie sich mani­fes­tiert und wo ihre Grenzen liegen.
Für den Fürsten in Die Melan­cholie des Wider­stands exis­tiert keine Ord­nung. Chaos und Zer­stö­rung sind der Null­zu­stand und das einzig Mög­liche. Für ihn ist die Form­bar­keit der Außen- und Innen­welt bloßer Schein und Aus­druck des Ver­suchs, unsere mensch­liche Natur und die Natur die Dinge mit einer Ord­nung zu über­de­cken, die uns ein Gefühl von Sicher­heit ver­mit­telt. Eine Sicher­heit, die frei­lich täuscht, und deren Fra­gi­lität sich jedes Mal aufs Neue zeigt, wenn Kata­stro­phen und Kriege über Länder hinweg ziehen. Für den Fürsten sind solche Zustände keine Aus­nah­me­zu­stände, wie sie oft in den Nach­richten beti­telt werden, son­dern die Nor­ma­lität einer abge­schminkten Maske der Ord­nung. Und diese Nor­ma­lität gilt es her­zu­stellen. Der Pro­zess der Zer­stö­rung wird also als Auf­bau­ar­beit verstanden.
Und auch die Figur des Valuska gibt eine Ant­wort darauf, was sich unter Ord­nung ver­stehen lässt, denn mit seinem unun­ter­bro­chen in den Himmel gerich­teten Blick und seiner Erzäh­lung von Sonne, Erde und Mond, die sich umein­ander bewegen, scheint er an eine tran­szen­dente Ord­nung zu glauben, die sich in den regel­mä­ßigen Kreis­be­we­gung der Pla­neten manifestiert.
Das Militär hin­gegen sieht allein sich selbst als maß­ge­bend zur Wie­der­her­stel­lung der Ord­nung. Für sie und das Gericht exis­tieren nur Gewalt und schließ­lich Beweise und Urteile, mit denen sie den Auf­gaben als Ord­nungs­hüter nachkommen.

 

Die erwähnten Figuren stellen nur einen kleinen Auszug aus dem Kanon der mög­li­chen Ord­nungs­ideen dar, die uns Kraszn­ahorkai vor­stellt. Wäh­rend der Fürst sich seiner These sicher ist, dass die Ord­nung an sich nicht exis­tiert und dafür auch keine Beweise zu finden sucht, müssen sich Valuska und Herr Eszter ihre Ord­nungs­theo­rien jeden Tag aufs neue beweisen, indem sie Kla­vier spielen oder in den Himmel bli­cken. Trotzdem bleiben ihnen bis zum Schluss Zweifel. Gerade die Zweifel machen wie­derum die Aktua­lität von Die Melan­cholie des Wider­stands aus. Wir selbst leben in einer Zeit, deren Ver­suche sie zu ordnen und zu ver­ein­fa­chen das Gegen­teil bewirkt zu haben scheinen. Bei­spiele dafür lassen sich viel­fach aus­ma­chen. Wer etwa hat nicht an die Bestän­dig­keit des Euro geglaubt, der unser Wirt­schafts­system in eine supra­na­tio­nale Ord­nung der Zukunft trans­for­mieren sollte. Wie viele Wirt­schafts­theo­re­tiker haben jah­re­lang von den selbst­re­gu­lie­renden Kräften des Finanz­marktes geredet? Eine Ord­nung aber, die aus sich selbst heraus die Unord­nung, die Dere­gu­lie­rung ver­hin­dert, scheint es nun viel­leicht doch nicht zu geben. Ebenso wenig wie eine gemein­same Wäh­rung die Markt­pro­zesse zu ver­ein­fa­chen oder zu regu­lieren scheint, son­dern nur eine kom­plexe Ver­flech­tung von Geld­ge­schäften erzeugt und somit das Ent­stehen von Chaos, nicht aber von Ord­nung vereinfacht.
Sowohl der Blick in die Geschichte als auch in die Gegen­wart zeigt, dass die Momente, in denen das Chaos aus seinem Schat­ten­da­sein her­vor­tritt, oft auch Momente für radi­kale Kräfte sind. Sie pro­pa­gieren meist die Vor­stel­lung einer tota­li­tären Ord­nung, die vielen ange­sichts der eigenen Lage und dem Wunsch nach Bestän­dig­keit viel­ver­spre­chend erscheint.

 

Auch die Leser dürften sich daher mit­unter wie die melan­cho­lisch umher­ge­trie­benen Figuren des Romans fühlen und sich beim Lesen dabei ertappen, wie auch sie selbst ihr Leben an Ord­nungs­prin­zi­pien zu knüpfen ver­su­chen, die imma­nenten Sinn ver­heißen oder einen prak­ti­ka­blen Lebensweg aufzeigen.
Auf welch einem wacke­ligen Gerüst wir jedoch eigent­lich stehen, zeigt uns das Aus­fallen der S‑Bahn genauso wie Ter­ror­an­schläge oder Natur­ka­ta­stro­phen und eben Die Melan­cholie des Wider­stands. Durch unseren Glauben an die Sor­tier­bar­keit und Bere­chen­bar­keit des Lebens machen wir uns zu Sklaven der Ord­nung, ohne die wir nicht mehr zu leben wissen. Die Figuren des Romans führen uns in Anbe­tracht der vom Zer­fall bedrohten Ord­nung unsere  eigene Hilf­lo­sig­keit vor. Nie­mand scheint sich zu wehren und selbst im Ange­sicht der Kata­strophe ver­su­chen viele, eine unmög­lich gewor­dene Rou­tine am Leben zu erhalten, sei es nun aus Phlegma oder aus Angst.
Über all die Katak­lysmen des Romans legt Kraszn­ahorkai die Erha­ben­heit seiner rhyth­misch feinen Sprache und eröffnet uns somit eine wei­tere Per­spek­tive auf Ord­nung und deren Auf­lö­sung: die der Schön­heit. Mit glet­scher­ar­tiger Lang­sam­keit ziehen sich Kraszn­ahor­kais Sätze über Seiten und ent­schleu­nigen somit Pro­zesse, die im wahren Leben oft viel schneller von sich gehen. Jeder Satz liest sich wie ein in Slow Motion abge­spieltes Kapitel einer DVD über unser Leben im 21. Jahr­hun­dert, in Worten gefilmt, mit einer iro­ni­schen Distanz, die zeigt, dass der Autor sich bewusst ist, dass auch er ein kleines Stein­chen in dieser scheinbar so ordent­li­chen Welt ist. Die Unord­nung nach der Auf­lö­sung der Ost-West-Ord­nung scheint ledig­lich für ein paar Jahre das Gewand der fein säu­ber­li­chen Sor­tier­bar­keit eines supra­na­tio­nalen Europa ange­zogen zu haben, um dann wieder ans Licht zu treten und daran zu erin­nern, dass wir uns auch diesmal getäuscht haben, als wir dachten, für Sicher­heit und Ord­nung gesorgt zu haben.

 

Am Ende von Kraszn­ahor­kais Roman über­nimmt Frau Eszter mit Hilfe des Mili­tärs die Macht, doch schon die kleinen Patzer und Pannen bei einer von ihr insze­nierten Beer­di­gung zeigen, dass auch sie, die sich nun so sicher fühlt, nicht von der umstür­zenden Macht der Unord­nung befreit sein wird.
So bleibt die Erkenntnis, dass wir letzt­end­lich doch alle nur pas­sive Akteure eines viel grö­ßeren Ganzen sind, das die Mäch­tigen zu beherr­schen glauben, letzt­end­lich aber selbst nicht ver­stehen.  Wie der Fürst so lässt uns auch Kraszn­ahorkai mit dieser Erkenntnis, die viel­leicht 23 Jahre nach der Wende wieder wich­tiger denn je ist, alleine. Und so ist es tröst­lich, dass auf den letzten Seiten des Buches dann doch ein ein­ziges Mal Ord­nung und Mensch zusammen kommen, als er auf zehn Seiten minu­tiös beschreibt wie die inein­an­der­grei­fenden Ver­we­sungs­vor­gänge eine Leiche im Sarg zer­setzen. Daran ist nicht zu rütteln.

 

Aus­ge­wählte Bibliographie
Die Melan­cholie des Wider­stands. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2011.
Seiobo auf Erden. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2010.
Satans­tango. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2010.
Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2007.
Krieg und Krieg. Frank­furt am Main: S. Fischer Verlag, 2006.

 

Nur in eng­li­scher Sprache
Animal Inside. New York: New direc­tions, 2011.