Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„… das Blut schreit und rast“: DJ Sta­lin­grad, Exodus

DJ Sta­lin­grad, Exodus, erster Satz: „Die Sonne brennt.“ Es ist ein schmales, selt­sames Buch, das soeben in deut­scher Über­set­zung bei Matthes & Seitz erschienen ist. Bereits die Vor­ge­schichte ist von Legenden umwit­tert. Erste Spuren DJ Sta­lin­grads bahnen sich im April 2011 den Weg ins deut­sche Feuil­leton: Kerstin Holm berichtet in der FAZ von einem Prot­ago­nisten des Unter­grunds, der wegen ver­schie­dener Aktionen gegen die rus­si­sche Staats­macht mit Haft­be­fehl gesucht werde und sich auf der Flucht (und der Suche nach der nächsten Revo­lu­tion) quer durch Europa befinde. Seinen wahren Namen aus Sicher­heits­gründen geheim hal­tend, sei DJ Sta­lin­grad seinem Selbst­ver­ständnis nach radi­kaler Anar­chist, Anti­fa­schist und „roter Skinhead“.

 

Gegen­stand des FAZ-Arti­kels ist auch der zunächst im Internet, dann in der Zeit­schrift Znamja (Aus­gabe 9/2010) publi­zierte Text Ischod, der ein Milieu beschreibt, das von Gewalt und Bru­ta­lität geprägt ist und in dem (phy­si­scher) Schmerz „über­flüs­sigen Män­nern“ als Medium der Wahr­neh­mung und Selbst­er­fah­rung gilt. Es ist eine Gene­ra­tion, die ihre Sozia­li­sie­rung in den 1990er Jahren erfahren hat und die den nächsten großen Ader­lass her­bei­sehnt: einen Krieg näm­lich, der die Welt von über­schüs­sigem männ­li­chen Blut befreit. Bis dahin fressen sie – eher düs­tere Ver­treter dieser Gene­ra­tion – Drogen und Asphalt, üben sich in Stra­ßen­schlachten gegen ver­fein­dete Unter­grund­grup­pie­rungen, prü­geln sich bis aufs Blut.

 

Dem DJ springen Ikonen des rus­si­schen Lite­ra­tur­be­triebs wie der Ver­leger Alex­ander Ivanov bei, der in ihm einen „intel­lek­tu­ellen Stra­ßen­par­ti­sanen“ aus­macht. Es sind krude Ein­blicke in den rus­si­schen Unter­grund, die Holms Artikel gewährt: die Pas­sagen aus Exodus klingen mar­tia­lisch, die Prot­ago­nisten frönen einem eigen­tüm­li­chen Ideal von Schmerz und Krieg, die bei­gege­bene Foto­grafie zeigt den DJ „in Unord­nung“, näm­lich nur mit einer Unter­hose bekleidet inmitten von Chaos, die Pose unruhig, das Gesicht abge­wandt – eine Ohr­feige dem bür­ger­li­chen Geschmack.

 

Sze­nen­wechsel. Zur Buch­pre­miere der deut­schen Über­set­zung in Berlin zwei Jahre später ist der Name des Autors kein Geheimnis mehr: Petr Silaev, Jahr­gang 1985, geboren und auf­ge­wachsen in Moskau. Seine Geschichte liest sich ähn­lich wie die seines Alter Egos DJ Sta­lin­grad und doch ganz anders: Aus dem Anar­chisten in Unter­hose ist ein Mann mit Gesicht geworden, den man nicht mehr als obskuren Schläger wahr­nimmt, son­dern als poli­ti­schen Akti­visten, der wegen seiner Unter­stüt­zung für die Umwelt­schutz­be­we­gung in Chimki ins Aus­land flüchten musste. Der dor­tige zivile Pro­test gegen die Abhol­zung eines Wald­ge­ländes sah sich mas­siven Ein­schüch­te­rungs­ver­su­chen und gewalt­tä­tigen Über­griffen aus­ge­setzt – DJ Sta­lin­grad und Gleich­ge­sinnte kon­terten mit Steinen und Fla­schen und demons­trierten damit, dass Gewalt kein Pri­vileg von Macht­ha­bern und Militär sei. Eine tra­gi­sche Aktua­li­sie­rung erfuhren die Vor­gänge in Chimki kürz­lich mit dem Tod des Lokal­jour­na­listen Michail Beketov, der sich für die Pro­test­be­we­gung ein­ge­setzt hatte, 2008 brutal zusam­men­ge­schlagen wurde und im April dieses Jahres den Spät­folgen des Über­falls erlag.

 

Die Sehn­sucht nach dem nächsten Krieg, die den DJ ins Aus­land getrieben hatte, erweist sich für Silaev als Odyssee durch Europa, dessen Gefäng­nisse und Gerichte. In Russ­land wirft man ihm Hoo­li­ga­nismus vor und damit einen jener Straf­tat­be­stände, die sich wie unlängst im Falle der Punk-Band Pussy Riot wieder als pro­bates Mittel erwiesen haben, miss­lie­bige Stimmen in Straf­la­gern ruhig zu stellen. Silaev, der nach einer Art riot hop­ping schließ­lich in Finn­land poli­ti­sches Asyl erhält, wird im August 2012 auf der Grund­lage eines Interpol-Gesuchs in Spa­nien ver­haftet, nach einigen Tagen aber wieder frei­ge­lassen. Seine Aus­lie­fe­rung nach Russ­land wird in Aner­ken­nung der Tat­sache, dass seine Ver­fol­gung poli­tisch moti­viert sei, von spa­ni­schen Gerichten ver­hin­dert. Die miss­bräuch­liche Instru­men­ta­li­sie­rung von Interpol durch Russ­land wird von der Orga­ni­sa­tion Fair Trials Inter­na­tional ange­pran­gert, die sich mitt­ler­weile für den Fall Petr Silaevs einsetzt.

 

Indes, der Text Exodus bleibt auch in einer ver­än­derten para­tex­tu­ellen Posi­tio­nie­rung erst einmal gleich. Ob man ihn nun als authen­ti­sches Zeugnis aus dem Unter­grund lesen mag oder als wütenden Pro­test­schrei einer hoff­nungs­losen Jugend in post­so­wje­ti­scher Sze­nerie: Es geht darin vor allen Dingen um Gewalt, die sich als buch­stäb­lich blut­roter Faden durch die Seiten zieht, eine eksta­ti­sche und rück­sichts­lose Gewalt, die die Prot­ago­nisten aus­üben oder an anderen bewun­dern. Der Text schlag­lich­tert durch wüste Schlä­ge­reien in Mos­kauer Vor­orten und den inter­na­tio­nalen Hot­spots der kör­per­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Links und Rechts, die mit Lust am Blut und bru­taler Härte, gleich­wohl kon­zen­triert geplant und voll­zogen werden. Beschrieben werden irre Stra­ßen­schlachten, Dro­gen­ex­zesse und Aus­nah­me­bru­ta­listen wie der Punk­ro­cker GG Allin, der regel­mäßig sein Publikum atta­ckierte, bei seinen Auf­tritten mas­tur­bierte oder sich selbst ver­stüm­melte, seine eigenen Exkre­mente aß oder Frauen vor den Augen anderer vergewaltigte.

 

Dass man dem Erzähler durch die Anein­an­der­rei­hung dieser grellen, oft bru­talen Szenen trotzdem folgt, ist neben einer gewissen Freude am dras­ti­schen Anarcho-Sound der Fas­zi­na­tion geschuldet, die der Exzess her­vor­ruft. Der öffent­liche Geschmack wird hier nicht mit der futu­ris­ti­schen Ohr­feige, son­dern mit ent­fes­selten Fäusten, Mes­sern, Gum­mi­ge­schossen trak­tiert. Die Gewalt­aus­brüche sind dabei aus dem Text heraus oft bis zu einem bestimmten Grade nach­voll­ziehbar. Groß­artig ist etwa die Schil­de­rung der düs­teren Epi­phanie zu Beginn der Erzäh­lung: Jemand, der wohl Gott sein müsse, wie der Erzähler später beschließt, ver­heißt dem Kind Elend und Leid, wenn es IHM nicht folge, am Ende wird trotzdem die Ver­nich­tung stehen. Dieser bedroh­liche ER, das wird sogleich prä­zi­siert, ist ein attrak­tiver Lebe­mann, fest in einem guten, gerechten Leben ste­hend. Einer, der das Glücks­spiel und die Frauen liebt, einer, der sich, seine Nächsten und seine ehren­werten Prin­zi­pien gegen Unbill ver­tei­digen kann. Es ist dieser mensch­ge­wor­dene Gott eines gelin­genden Lebens, der abends an der Kasse vor dem Erzähler (aus­ge­lei­erter Pull­over, schmut­zige Turn­schuhe, Teen­ager-Schnauz­bärt­chen, Akne und ver­faulte Zähne) steht und dessen furiose „Fleisch­wer­dung“ der Text mit Genuss beschreibt: „Und inner­halb einer Sekunde ver­wan­delt sich dieser super Typ in ein Stück Scheiße. Ein Eisen­rohr macht aus seinem Kopf blu­tiges Hack­fleisch. Zähne, Haut­fetzen, Blut fliegen in alle Rich­tungen.“ Der Erzähler ist einer, der nichts hat und dem nichts gelingt, und der sich des­halb an „dieser Schwuchtel“ für all die ver­lo­renen Jahre, für sein ganzes ver­lo­renes Leben, für alle, denen es wie ihm selbst ergeht, rächt und darin „etwas von Hei­lig­keit“ erkennt.

 

„Etwas von Hei­lig­keit“? Bereits im Titel klingt eine reli­giöse Dimen­sion an, die sich im Buch fort­setzt, der Autor hat ein reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­ches Stu­dium abge­schlossen. Helle Heils­er­war­tungen ergeben sich daraus frei­lich nicht. Der düs­tere ER vom Anfang, dessen Odem eher Pest­hauch ist, gebietet über eine irre Welt, über „Betrun­kene, Halb­wahn­sin­nige, kos­tü­mierte Hei­lige, Fromme mit Stali­ni­konen und andere phan­tas­ti­sche Figuren“ (Holm). All seiner Uner­bitt­lich­keit zum Trotz hat aber selbst ER den Eisen­stangen seiner wild­ge­wor­denen Schäf­chen nichts ent­ge­gen­zu­setzen, wenn sie ihn an der Kasse erkennen. Das Ver­hältnis zur reli­giösen Praxis ist ambi­va­lent. Der Erzähler ver­höhnt die Ortho­doxie als gesell­schaft­liche Resi­du­al­ka­te­gorie, in der sich Fana­tiker und Ver­rückte sam­meln und jene, die unter den Anfor­de­rungen post­so­wje­ti­scher Zeiten zer­bre­chen – aber immerhin sind es Ortho­doxe, mit denen er die (Halb-)Leichen von Obdach­losen in der Stadt zusam­men­sucht, bis das Geld aus­geht. Die Begeg­nung mit einem Mönch in einem Bet­tel­kloster bleibt son­derbar sprachlos. Und doch bildet die Reli­gion eine der wenigen Grenzen, die der Erzähler emp­finden kann – einen Priester zu ent­führen, das ist selbst ihm zu viel.

 

Von Fragen des Geschmacks einmal abge­sehen, bleibt das Ver­hältnis des Textes zu der darin aus­ge­stellten Gewalt pro­ble­ma­tisch. Das ideo­lo­gi­sche Bekenntnis der Schlä­ger­truppe, das kaum aus­ge­führt wird, scheint merk­würdig beliebig. Ohnehin könnte es keine Legi­ti­ma­tion her­stellen für die Bru­ta­lität des Schlä­ger­trupps. Der Text koket­tiert bald mit den poli­ti­schen Bezugs­größen links und rechts, der in der deut­schen Aus­gabe ent­hal­tene Kom­mentar, wel­cher die Abgren­zung von neo­na­zis­ti­schen Grup­pie­rungen zwei­fels­frei ermög­licht, solle, so der Autor in Berlin, unbe­dingt erst nach der Lek­türe des Textes gelesen werden.

 

Eine Rezen­sion im rus­si­schen Internet-Journal rabkor ver­weist denn auch auf die der­ge­stalt struk­tu­relle Nähe linker und neo­na­zis­ti­scher Extre­misten, die in den Tiefen des Hasses und der Gewalt zusam­men­finden und eigent­lich aus­tauschbar werden. In der Rezen­sion heißt es: „Diese für beide Seiten uner­freu­liche Ähn­lich­keit zeigt sich bei­spiels­weise darin, dass ein­zelne Absätze aus Exodus wie Pas­sagen des bekannten Romans ‚Skins: Russ­land erwacht‘ klingen, dessen Autor [Dmitrij Nes­terov] letztes Jahr Selbst­mord beging.“ Ange­sichts der Tat­sache, dass der genannte Roman Nes­terovs „der aggres­siven urbanen Sub­kultur der Glatz­köpfe“ gewidmet ist, „die sich den Ideen der Säu­be­rung der ari­schen Rasse und der Wie­der­be­le­bung des impe­rialen Stolzes ver­schrieben hat“, bringt das Spiel mit dem Ver­zicht auf eine klare poli­ti­sche Ver­or­tung, das Exodus betreibt, keine Hal­tung für oder gegen etwas hervor, son­dern bleibt den Abgründen einer Gewalt ver­haftet, die jede erklärte ideo­lo­gi­sche Aus­rich­tung ad absurdum führt. In diesem Milieu extremer Gewalt ver­schwimmen die Grenzen zwi­schen den poli­ti­schen Lagern, werden viel­mehr bewusst ver­wischt. Deut­lich zeigt sich dies in einer der letzten Szenen der Erzäh­lung, als es um die Täto­wie­rungen des nie­der­ge­sto­chenen Fedja geht. Die Poli­zisten erzählen sich, Fedja habe überall Hakenkreuz‑, Toten­kopf- und Adler-Tat­toos gehabt. Der Ich-Erzähler weiß es besser – Fedja trug keine neo­na­zis­ti­schen Tat­toos, son­dern ein Herz, einen Vogel, eine Klinge und den Schriftzug Liebe deinen Nächsten. Er denkt dies bei sich, ohne den Irrtum der Poli­zisten auf­zu­klären. Damit bleibt der Anti­fa­schist Fedja in den Augen der Poli­zisten ein Neo­nazi. Viel­leicht ist es bezeich­nend genug, dass Milieu und Gebaren der Prot­ago­nisten eine solche Fest­le­gung durch den ober­fläch­li­chen Blick von außen nahelegen.

 

Exodus ist ein bru­taler Text, der die Ver­lo­ren­heit jener arti­ku­liert, die Ori­en­tie­rung nur noch im Blut­ver­gießen suchen. Gewalt ist für die Prot­ago­nisten DJ Sta­lin­grads weniger Mittel zum Zweck als viel­mehr letztes Aus­drucks­mittel einer Gene­ra­tion, die sich nur noch im Schmerz und in einer Art Krieg (be-)findet. Es ist ein Text, dem man die wütend gereckte Faust und die Emphase des Asphalts anmerkt und dem man manchmal etwas mehr Auf­sicht gewünscht hätte. Es ist schließ­lich ein Text, der eine Schau­er­lich­keit nach der anderen anein­an­der­reiht und dabei in vielen Momenten über das bloße Vor­führen und Aus­stellen von Bru­ta­lität und Härte nicht hin­aus­geht. Gleich­wohl gerinnt in den Blut­la­chen eine erschüt­ternde Ahnung davon, wie das aus­sehen kann: eine Jugend im Stra­ßen­krieg, in den Ruinen der sowje­ti­schen Gesell­schafts­ord­nung, aus denen sich ein „neues Russ­land“ erhebt. Viel­leicht ist der Text auch des­wegen erschüt­ternd, weil er von einer rohen gesell­schaft­li­chen Gewalt dieses neuen Russ­lands zeugt, die sich für manche nur in die Aus­übung phy­si­scher Gewalt über­setzen lässt. DJ Sta­lin­grad, Exodus, letzter Satz: „Wir sind jetzt Hobbits.“

 

DJ Sta­lin­grad: Exodus. Aus dem Rus­si­schen von Frie­de­rike Mel­ten­dorf.  Berlin: Matthes & Seitz,  2013.
DJ Sta­lin­grad, „Ischod“. In: Znamja, Nr. 9/2010. URL: http://magazines.russ.ru/znamia/2010/9/d9.html

 

Wei­ter­füh­rende Links:
Holm, Kerstin: DJ Sta­lin­grad. Im Rausch der Gefahr. FAZ, 3. April 2011