Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Lost in Altpapier.

Wir wir­beln in den langen Sätzen von Boh­umil Hra­bals allzu lauter Einsamkeit.
Eine Wür­di­gung zum hun­dertsten Geburtstag.

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Prager Fens­ter­sturz IV: Tod durch Taubenfüttern

I am stuck with little paper cuts | On each of my fingers.
(Fujiya & Miyagi, „Light­bulbs“)

Bücher sind lang­mütig. Sie stehen still in den Regalen und wuchern lautlos in Sta­peln auf Schreib­ti­schen und Fens­ter­bänken und in ihnen wuchert die Welt mit all dem, was „das grö­ßere Glück und das grö­ßere Unglück des Men­schen“ (B. Hrabal) aus­macht. Manchmal stehen wir mit einem Satz von Isaak Babel im Kopf vor den Büchern und strei­chen mit den Fin­gern über die Rücken, die heute nicht mehr aus Saf­fian sind, und dann denken wir seinen Satz über die Bücher zu Ende: „dieses wun­der­schöne Grab des mensch­li­chen Her­zens“. Dass die Ein­sam­keit inmitten der stillen Bücher eine allzu laute sein kann – diese Ein­sicht ver­dankt sich Haňťa, jenem eigen­ar­tigen Prot­ago­nisten der Erzäh­lung Allzu laute Ein­sam­keit von Boh­umil Hrabal, der in end­losen Sätzen durch die unru­higen Wasser der euro­päi­schen (Geistes-)Geschichte treibt.

Hrabal, der als einer der bedeu­tendsten tsche­chi­schen Schrift­steller gilt, wurde am 28. März 1914 geboren und erlebte somit die Wirren des 20. Jahr­hun­derts am eigenen Leib – die letzten Jahre der Habs­bur­ger­mon­ar­chie, danach den tsche­cho­slo­wa­ki­schen Natio­nal­staat in der Zeit zwi­schen den beiden Welt­kriegen, die Beset­zung durch das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Deutsch­land, den Sta­li­nismus, den Prager Früh­ling und seine Nie­der­schla­gung mit der dar­auf­fol­genden Phase der Läh­mung, schließ­lich die „Sam­tene Revo­lu­tion“ mit dem Auf­bruch in eine Art Frei­heit (B. Müller). Frag­men­tiert wie der Lauf des letzten Jahr­hun­derts ist auch die Erwerbs­bio­gra­phie des pro­mo­vierten Juristen Hrabal, der immer wieder mit Publi­ka­ti­ons­schwie­rig­keiten zu kämpfen hatte. Er arbei­tete einige Jahre bei der Bahn als Fahr­dienst­leiter, sein Lebens­lauf ver­zeich­nete unter anderem auch Epi­soden als Han­dels­rei­sender, Arbeiter in einem Stahl­werk und Alt­pa­pier­pa­cker in Prag. Hrabal starb 1997 nach einem Fens­ter­sturz beim Tau­ben­füt­tern aus dem 5. Stock eines Prager Krankenhauses.

Auch Haňťa ist Alt­pa­pier­pa­cker, aber anders als Hrabal es war, ist er das mit beträcht­li­cher Kon­ti­nuität, näm­lich seit 35 Jahren. Die Arbeit in einem schmud­de­ligen Prager Kel­ler­loch ist banal und besteht in der Bedie­nung einer Alt­pa­pier­presse – grüner Knopf, roter Knopf –, die Papier jed­weder Pro­ve­nienz zu Paketen presst. Das Kel­ler­loch ist zugleich Habitat einer Mäu­se­po­pu­la­tion, und wenn es wie so oft vor­kommt, dass Haňťa ganze Nester blinder Mäu­se­jungen zusammen mit dem Alt­pa­pier in die Maschine schippt, dann springt die Mäu­se­mutter in den Press­trog hin­terher und stellen sich die anderen Mäuse auf die Hin­ter­pföt­chen und lau­schen den Todes­klagen derer, die zer­presst werden, um dann gleich wieder zu ver­gessen und weiter zu tollen, „wie junge Katzen“. Manchmal springen sie in der Kneipe aus Haňťas Hose, wenn er das Bier bezahlt, er hat dann, tief in den Gedanken an das nächste Papier­paket die Kon­trolle über die Mäuse ver­loren, und die Kell­ne­rinnen kreischen.

Es ist ein beschei­denes Leben, das Haňťa führt, aber seine Liebe zu den Büchern ist über­bor­dend und hap­tisch. Sein Beruf – die Zer­stö­rung von Büchern mit Gold­schnitt und Saf­fi­an­rü­cken genauso wie die Zer­stö­rung von blu­tigen Papier­resten aus den Prager Flei­sche­reien, an denen sich Trauben rasender Schmeiß­fliegen sam­meln – hat sich gewis­ser­maßen in ihn ein­ge­schrieben: In den Jahr­zehnten als Alt­pa­pier­pa­cker hat er Aber­tau­sende Bücher vor der Press­ma­schine bewahrt und er hat sie „in der törichten Hoff­nung gelesen, einmal darin etwas zu finden, was [ihn] qua­li­tativ ver­än­dert hätte.“ Haňťa, siffig und ver­soffen, ist ein pro­le­ta­ri­scher poeta doctus, „gebildet gegen meinen Willen“. Er ist von einer schmerz­lich klaren Ein­sicht in den Wahn der Welt und er hat auch einigen, rus­ti­kalen Humor; jeden­falls ist er von mons­tröser Bele­sen­heit und jemand, für dessen Denken das Feuil­leton den Begriff der „Welt­hal­tig­keit“ geprägt hat.

Seine Stimme, die in einem wilden Strom durch end­lose Satz­kas­kaden drängt und die Erzäh­lung bestreitet, streift voller Härte und Herz­lich­keit die uni­ver­salen Themen der Mensch­heit und Mensch­lich­keit. Hin­ge­bungs­voll erzählt sie auch von den so hei­teren wie grau­samen Bana­li­täten des Daseins: Schuld und Scheiße sind die Ingre­di­en­zien der schmäh­li­chen Mischung, die das Pech der schönen Mančinka in die bunten Haar­bänder webt. Mit Leich­tig­keit wir­belt Haňťa aber nicht nur die Beschis­sene Manča über die Tanz­fläche, son­dern auch durch die Werke von Kant und Hegel und Goethe, von Rim­baud und Nietz­sche. Vom bis­weilen naiv anmu­tenden Duktus sollte man sich frei­lich nicht täu­schen lassen. Es ist kein mit­tel­eu­ro­päi­scher For­rest Gump, der sich da mit put­zigen Gemein­plätzen her­vor­täte – es ist einer, der den bizarren Wahn­sinn des Daseins in sich auf­ge­sogen und mit einem düs­teren, anteil­neh­menden Herzen in die Sterne und die Kloaken geschaut hat. Letzt­lich erhält Haňťas auf­wal­lende, uner­schöpf­liche Emphase ihre exis­ten­zi­elle Dring­lich­keit vom Ende her, denn sie treibt seinem Suizid in der Press­ma­schine ent­gegen, den kein noch so mäan­dernder Satz suspendiert.

Allzu laute Ein­sam­keit ist eine furiose Erzäh­lung, üppig und uni­versal, voller Humor und mehr noch Schmerz, und alles ver­wir­belt sich im Fluss der langen Sätze. Manchmal glit­zert der Gold­staub ver­nich­teter Pre­ziosen auf dem Wasser: „Heute war ein schöner Tag.“

von Janika Rüter

Boh­umil Hrabal: Allzu laute Ein­sam­keit . In: ders.: Die Romane. Über­setzt von Peter Sacher. Mit einem Nach­wort von Werner Fritsch. Frank­furt am Main: Suhr­kamp Verlag, 2008.

Boh­umil Hra­bals Allzu laute Ein­sam­keit in Rezensionen:
Müller, Burk­hard: Leo­nardo von der Müll­presse. Rezen­sion in der Süd­deut­schen Zei­tung, 11.7.2003.
Bir­kerts, Sven: Books into Trash. Rezen­sion in The New York Times, 9.12.1990.

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