Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Zum Tee um fünf

Ein Inter­view mit Dmitri Dragilew

 

Der let­ti­sche Dichter Dmitri Dra­gilew ist Ver­treter des Met­area­lism, einer lite­ra­ri­schen Strö­mung, die in den 70er Jahren in Russ­land ent­standen ist. Dra­gilew, der in Riga geboren und auf­ge­wachsen ist, hat an der Rigaer Uni­ver­sität Geschichte und Phi­lo­so­phie stu­diert. Später, 1994, folgten ein Sla­wis­tik­stu­dium an der Uni­ver­sität Jena und ein Musik­stu­dium an der Wei­marer Musik­hoch­schule. Dra­gilew arbei­tete meh­rere Jahre als Redak­teur der Zeit­schrift VIA REGIA in Erfurt und als Mode­rator bei der Erfurter Leser­reihe EXi­LI­BRIS. Seit 2005 lebt der 35-jäh­rige Autor in Berlin, wo er im ver­gan­genen Jahr einen Son­der­preis des IV. von „Hochkul!tura“ aus­ge­rich­teten Poetry Slam gewann. Bei Novoe lite­ra­turnoe oboz­re­nije erschienen 2004 seine Gedichte in der Antho­logie Rus­si­sche Poesie außer­halb Russ­lands. Der Gedicht­band Zum Tee um fünf wurde 2003 im ukrai­ni­schen Verlag Globus-Press, Vin­nica, herausgegeben.

 

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novinki: Wir treffen uns ganz pro­gram­ma­tisch – so wie es im Titel Ihres letzten Gedicht­bandes heißt – „K čaju v pjat´“ zum Tee um fünf. Was hat es mit diesem Titel eigent­lich auf sich?

 

Dmitri Dra­gilew: Die Ent­ste­hungs­ge­schichte des Gedicht­bandes ist sehr aben­teu­er­lich. Zunächst sollte er bei einem anderen Verlag und unter einem anderen Titel her­aus­ge­geben werden. Aber es hat sich so ergeben, dass ein­zelne Vor­drucke meiner Gedichte zu einem anderen Verlag gelangt sind. Als die Frage nach der Titel­ge­bung aufkam, hatte ich den Titel

K čaju v pjat´“ im Sinn. Warum? Einer­seits muss man sich das so vor­stellen: In einem breiten Asso­zia­ti­ons­feld, das sich aus unter­schied­li­chen Infor­ma­ti­ons­strömen ergibt, greift man sich bestimmte Ele­mente heraus, die an Tee­blätter aus dem Tee­auf­guss zu erin­nern scheinen. Meine Lyrik ist die Summe dieser Tee­blätter. Ande­rer­seits hat die fol­gende Strophe meines Gedichts, das aus dem ersten Gedicht­band im Jahr 2001 stammt, die Titel­wahl beeinflusst:

„Der gest­rige Ver­druss wird Tee auf­ko­chen, / Auf Wie­der­sehen Wort, in der Pro­jek­tion ver­zeih! / Das Tour­nier der Tee­blätter sinkt auf den Boden / Doch der Grund ist für sie unerreichbar.”

So unge­fähr ist die Vorgeschichte!

 

n.: Sie zählen sich selbst zu den so genannten „Met­area­listen“, einer lite­ra­ri­schen Strö­mung, zu der auch Ivan Ždanov, Arkadij Dra­go­moščenko, Aleksej Parščikov, Olga Seda­kova und Ilja Kutik gehören. Diese Strö­mung exis­tiert offi­ziell seit 1982. Michail Epš­teijn hat den Met­area­lism in seinem 1995 erschie­nenen Buch After The Future: The Para­doxes of Post­mo­der­nism and Con­tem­po­rary Rus­sian Cul­ture als expan­sio­nis­tisch beschrieben, als Rea­lismus, der die Rea­lität nicht negiert, son­dern erwei­tert um das Unge­se­hene. Wie würden Sie die Strö­mung charakterisieren?

 

D.: Dies zu erläu­tern, ist eine sehr schwie­rige Auf­gabe, da nur wenige Autoren und Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler sich mit den Met­area­listen beschäf­tigt haben. Die Ästhetik des Met­area­lism wurde bis­lang vor allem im rus­si­schen Kon­text dis­ku­tiert. Aller­dings leben wich­tige Ver­treter der “met­area­lis­ti­schen Schule“ wie Aleksej Parščikov in Deutsch­land. Nichts desto trotz lässt sich bis­lang kei­nes­falls von einem Durch­bruch bei der Erfor­schung der Poesie der Met­area­listen spre­chen, auch die Met­area­listen selbst, d. h. jeder, der sich zu dieser Strö­mung zählt, inter­pre­tiert den Met­area­lism auf seine Weise. Ich werde des­halb ver­su­chen, ver­schie­dene Ideen zu erläu­tern, die die Met­area­listen ver­treten. Zunächst sollte man von der ver­schach­telten, laby­rin­thi­schen Meta­pher spre­chen, die als wich­tigstes lite­ra­ri­sches Mittel ver­wendet wird.

 

n.: Kann man denn solch eine Meta­pher als eine Meta­bole bezeichnen? Auf solch eine Defi­ni­tion bin ich in den Texten der Met­area­listen gestoßen. Auch Michail Eps­teijn spricht bei seiner Cha­rak­te­ri­sie­rung der met­area­lis­ti­schen Poetik davon: “The meta­bole is an image that cannot be divided into the two halves of literal and figu­ra­tive meaning”.

 

D.: Ja, das kann man. Kon­stantin Kedrov hat dieses grund­le­gende Moment als Meta­me­ta­pher bezeichnet und Michail Ėpš­tejn als Meta­bole. In jedem Fall ist die Meta­bole oder Meta­me­ta­pher ein Instru­ment, das als Ver­bin­dungs­mo­ment fun­giert, das Dinge ver­eint, die auf den ersten Blick zusam­men­hangslos erscheinen. Man kann auch von einer Suche nach Zusam­men­hängen spre­chen, die zu einer eigen­artig meta­phy­si­schen Reise von einer Rea­lität in eine andere führt. Dabei gelangen wir zu neuen Ent­de­ckungen, denn wir leben in einer mehr­di­men­sio­nalen, viel­schich­tigen Welt, in der eine Viel­falt von Rea­li­täten neben­ein­ander besteht. Met­area­listen ver­su­chen, den Zusam­men­hang dieser Rea­li­täten, ihren Über­gang von einer zur anderen dar­zu­stellen, ohne dabei eine Hier­ar­chie der einen oder der anderen festzulegen.

 

n.: Damit das nicht zu abs­trakt klingt, lassen Sie uns den Met­area­lism doch an einem kon­kreten Bei­spiel Ihrer Lyrik anschauen. Ich würde gerne ein paar Zeilen aus einem Ihrer Gedichte zitieren:

„aus­drucks­voller als ein Absatz / west­li­cher in der Breite / und viel­schich­tiger als Polar­lichter / Jalou­sien oder der / Klang in der Sparbüchse…“

 

D.: Zunächst kann man die vor­han­denen Ver­gleiche her­vor­heben. Ich, oder genauer gesagt, das lyri­sche-Ich, ver­gleicht Dinge aus ver­schie­denen Sphären und Gebieten, die auf den ersten Blick gar nichts mit­ein­ander gemein haben. Doch wenn man tiefer ‚gräbt’, dann kann man Ähn­lich­keiten finden. Wie ich bereits erläu­tert habe, ist das Grund­prinzip des Met­area­lism die Viel­schich­tig­keit der Meta­pher, und in diesem Fall ist diese Viel­schich­tig­keit fol­gen­der­maßen dar­ge­stellt: Das Polar­licht, die Jalou­sien, der Klang in der Spar­büchse, sie alle weisen ein gemein­sames Merkmal auf – sie sind phy­si­ka­lisch viel­schichtig. Ich muss jedoch gestehen, dass ich zu dieser Über­le­gung erst kam, nachdem ich das Gedicht ver­fasst hatte. D. h., dass meine Lyrik keine künst­liche Kon­struk­tion ist, deren Ziel nur darin besteht, dem Pos­tulat der met­area­lis­ti­schen Ästhetik zu folgen. Arran­ge­ment und Impro­vi­sa­tion ver­laufen par­allel zueinander.

 

n.: Sergej Bir­jukov schreibt im Vor­wort zu Ihrem Gedicht­band, dass Sie das Prinzip der Jazz­im­pro­vi­sa­tion auf Ihre Lyrik über­tragen, womit er Ihre Musik­hoch­schul­aus­bil­dung unter­streicht. Auf welche Art wird Ihre Dich­tung durch die Musik inspiriert?

 

D.: Ich fange mal damit an, dass die Syntax, die Meta­pher und der Klang die drei „Säulen“ sind, auf denen wirk­liche Poesie beruht. Jeder Dichter ist zumin­dest ein kleiner Musiker, weil die Alli­te­ra­tion sehr bedeutsam ist, sie ist der Klang. Was meine Erfah­rung im Jazz anbe­langt, so hat er einen bestimmten Ein­fluss auf meine Lyrik. Meine Texte wurden sogar „jazz­artig“ bezeichnet.

 

n.: Lassen Sie uns wieder zu den Met­area­listen zurück­kehren. Sie haben zu Beginn des Inter­views darauf hin­ge­wiesen, dass diese Strö­mung durch rus­si­sche Autoren ver­treten wird. Gibt es denn ein ähn­li­ches Phä­nomen in der west­eu­ro­päi­schen Literatur?

 

D.: Um diese Frage zu beant­worten, muss man sich augen­blick­lich von diesem „Eti­kett“ oder wie man in Deutsch­land sagt, vom „Schub­la­den­denken“, los­lösen, d.h. ein biss­chen weiter schauen. Die Meta­pher ist eine der wich­tigsten Kom­po­nenten in der Poesie und nicht nur in der zeit­ge­nös­si­schen. Sie folgt ihrer eigenen Dynamik, sie kann wie eine Laby­rinth­land­schaft sein. Sich ent­fal­tend kann sie Ein­fluss auf die Syntax aus­üben, d. h. sie kann diese durch­bre­chen oder sie neu gestalten. Des­halb sollte man die Dichter her­vor­heben, die solch eine Umgangs­weise mit der Meta­pher betrieben haben. In der Lyrik Paul Celans z. B. kann man eine Reihe von ver­schach­telten Meta­phern ent­de­cken. Doch ich hüte mich vor Ver­all­ge­mei­ne­rungen, denn das ist ris­kant. Die Met­area­listen in Russ­land hatten auch ihre Vor­reiter. Da wären z.B. Andrej Voz­ne­senskij, Viktor Sos­nora, Iosif Brod­skij, teil­weise auch Leonid Gubanov. Und sogar in der Lyrik des späten Ossip Mandel’štam und der späten Marina Cve­taeva kann man Vor­gänger des Met­area­lism ent­de­cken. Da es sich hier um grund­le­gende Dinge han­delt, sollten wir uns hier nicht in Zuschrei­bungen ver­stri­cken, son­dern eher sys­te­ma­tisch an Hand des einen oder anderen Merk­mals, die eine oder die andere Lite­ratur erforschen.

 

n.: Bei der Infor­ma­ti­ons­suche zu diesem Thema bin ich auf eine Reihe von Arbeiten ame­ri­ka­ni­scher Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler gestoßen, die sich mit der For­schung der met­area­lis­ti­schen Strö­mung beschäf­tigen. War das Ihnen bekannt?

 

D.: Ja! In den USA gibt es sogar eine so genannte Lan­guage School, die von Michael Pal­mers ver­treten wird und sich Mitte der 70-er Jahre als eine anti­kom­mer­zi­elle poe­ti­sche Grup­pie­rung her­aus­kris­tal­li­siert hat. Zu ihren Ver­tre­tern gehören Lin Chi­dži­nian, Berrot Watten, Lesley Shala­pino. Dort kann man gewisse Merk­male auf­finden, die auf den Met­area­lismus ver­weisen. Nicht umsonst hat der schon genannte Aleksej Parščikov Pal­mers ins Rus­si­sche übersetzt.

 

n.: Wenn wir schon ange­fangen haben, von modernen Schulen zu spre­chen, so inter­es­siert mich doch Ihre Mei­nung über die Mos­kauer Kon­zep­tua­listen, zu denen sich Dmitrij Prigov, Vla­dimir Sor­okin und Lev Rubin­s­tejn zählen. Sie führen eine aktive Polemik unter­ein­ander. Worin lassen sich die Gegen­sätze ausmachen?

 

D.: Eigent­lich gibt es keine Gegen­sätze. Es ist eine Art Koexis­tenz, die vorherrscht.

 

n.: Den­noch, in irgend­einer Weise sind die Kon­zep­tua­listen doch ein Gegen­satz zu den Met­area­listen, oder habe ich Unrecht?

 

D.: In einem gewissen Punkt schon! Der Kon­zep­tua­lismus stellt alles in Frage, er zwei­felt alles an, d.h. dort ist ein etwas anderes Para­digma vor­handen. Wäh­rend die Met­area­listen vor­schlagen, sich in die Form zu ver­tiefen und nach zusätz­li­chen Schichten, neuen Rea­li­täten zu suchen, so arbeiten die Kon­zep­tua­listen mit Simu­la­kren, mit Kli­schees, Masken und Zitaten, mit­tels iro­ni­scher und kar­ne­valesk-par­odis­ti­scher, manchmal absurder Ver­fahren. Sie stellen die Rea­lität als solche in Frage. Diese Strö­mung hat sich in den 80-er Jahren als Oppo­si­tion zum Sozia­lis­ti­schen Rea­lismus her­aus­ge­bildet und wider­legte alle lite­ra­ri­schen Kanons. Die Arbeit, die die Kon­zep­tua­listen machen, ist sicher­lich not­wendig. Den­noch fragt man sich heut zu Tage nach ihrer Aktua­lität. Denn den Ursprung, den Soz­rea­lismus, der dazu diente, Affekte zu setzen, den gibt es nicht mehr. Nichts desto trotz führen die Kon­zep­tua­listen ihre Arbeit fort und finden Mög­lich­keiten und neues Mate­rial für den zukünf­tigen Schaffensprozess.

 

n.: Sie haben gerade gesagt, dass die Zukunft des Kon­zep­tua­lismus in Frage steht. Wie bewerten Sie denn Ihre Chancen bezüg­lich des Über­le­bens der met­area­lis­ti­schen Schule?

 

D.: Ich ver­stehe, worauf Sie anspielen! Es ist richtig, dass manche die Schule schon „begraben“ sehen und man schreibt, dass die Strö­mung schon in der Sack­gasse steckt, dass sie sich aus­ge­schöpft hat. Aber schon Pas­ternak sagte, dass man nur irgend­etwas tun muss, und alles wird sich fort­be­wegen. Zudem ist der Met­area­lism wegen seiner Fixie­rung auf die Meta­pher tra­di­tio­neller als manch eine andere post­mo­derne Strö­mung. Die heu­tige Ent­wick­lung der Welt, beson­ders das Leben in den Groß­städten, führt uns zu man­cherlei neuen Ebenen und eröffnet uns ständig neue, unbe­kannte Räume. Wir beschäf­tigen uns mit der Suche nach Zusam­men­hängen zwi­schen bereits erforschten und neuen Rea­li­täten und wir ver­su­chen, sie zu ver­glei­chen und zu beschreiben, indem wir uns der Meta­pher bedienen. Und solange wir uns damit beschäf­tigen, wird die Mög­lich­keit met­area­lis­ti­schen Schaf­fens bestehen.

 

n.: Zum Abschluss noch eine Frage, die in die Gegen­wart und Zukunft weist: Woran arbeiten Sie momentan? Welche Pro­jekte planen Sie?

 

D.: Ich arbeite gerade an einem essay­is­ti­schen Buch, schreibe auch Artikel für Zeit­schriften. Was meine Gedichte betrifft, es gab es im Dezember eine neue große Ver­öf­fent­li­chung in der Mos­kauer Lite­ra­tur­zeit­schrift Deti Ra. Im Früh­jahr hat die Redak­tion dieser Zeit­schrift ihre jähr­liche Preis­trä­ger­liste bekannt gemacht. Ich war unter den Preis­trä­gern des Jahres 2006. Gerade heute kam diese Infor­ma­tion an mich heran. Was meine zukünf­tigen Pläne anbe­langt, so sind diese teil­weise mit dem Pro­jekt „HochKul!tura„ ( Vyso­kaja Kul­tura) ver­bunden. Im Rahmen dieses Pro­jekts finden bei­spiels­weise die Poetry Slams in Berlin statt.

 

Das Gespräch führten Maria San­kina und Larissa Tschaja.

Dra­gilev, Dmitrij [Драгилев, Дмитрий]: K čaju v pjat’. Vin­nica 2003.

www.magazines.russ.ru/ra/2006/12/dr.3.html

www.guelman.ru/slava/texts/drag.htm

www.geocities.com/dragilew