Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Die große Form liegt mir nicht”

Inter­view mit Ilma Rakusa

 

Ilma Rakusa, Lyri­kerin, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin, Über­set­zerin, Kri­ti­kerin – es gibt kaum einen Bereich des inter­na­tio­nalen Lite­ra­tur­be­triebes, in dem sie nicht zuhause ist. Als pro­mo­vierte Sla­vistin lehrt sie an der Uni­ver­sität Zürich rus­si­sche und süd­sla­vi­sche Lite­ratur und gibt Sprach­un­ter­richt in unga­ri­scher Sprache, als Lite­ra­tur­kri­ti­kerin bereist sie Lite­ra­tur­fes­ti­vals, ins­be­son­dere in Ost­eu­ropa, immer auf der Suche nach neuen lite­ra­ri­schen Ent­de­ckungen. Als Über­set­zerin aus dem Rus­si­schen, Unga­ri­schen, Ser­bo­kroa­ti­schen und Fran­zö­si­schen hat sie u.a. Autoren wie Marina Cve­taeva, Aleksej Remizov, Danilo Kiš, Imre Ker­tész oder Mar­gue­rite Duras ins Deut­sche übersetzt.

 

Rakusa

Als Lyri­kerin debü­tierte sie  1977 mit Wie Winter, es folgten zwölf Bücher mit Gedichten, Erzäh­lungen, Pros­ami­nia­turen, Dra­mo­letten, Essays. Die kurze Form hat sie auch in der  2009 erschie­nenen Auto­bio­gra­phie Mehr Meer beibehalten.Die 69 Minia­turen sind nicht nur auto­bio­gra­phi­sche Refle­xionen auf eine Kind­heit in der Slo­wakei, Ungarn, Slo­we­nien, Ita­lien und der Schweiz in den 1950 und 1960er Jahren, sie sind auch ein ver­dich­tetes Mit­tel­eu­ropa, das in Farben, Gerü­chen, Land­schaften, Dingen und Worten erin­nert wird. Für Mehr Meer hat Ilma Rakusa 2009 den Schweizer Buch­preis erhalten.

 

novinki: Liebe Frau Rakusa, zuerst möchten wir gra­tu­lieren zum Schweizer Buch­preis, den Sie für Mehr Meer bekommen haben. Das Buch beginnt mit einer Reise an die Orte Ihrer Kind­heit – nach Rima­s­zombat bzw. Rimavská Sobota in die heute Slo­wa­ki­sche Repu­blik, nach Buda­pest und dann nach Ljubljana und Triest, ans Meer. Sie reisen aber nicht nur in der Erin­ne­rung zurück. Wann haben Sie die Orte Ihrer Kind­heit wieder aufgesucht?

 

Ilma Rakusa: In Slo­we­nien war ich sehr oft, denn dort lebt meine ganze Ver­wandt­schaft väter­li­cher­seits, zu der ich ein herz­li­ches Ver­hältnis habe. Auch mag ich Ljubljana und Maribor, die Wein­berge um Jer­u­z­alem, die Karst­land­schaft Rich­tung Meer. Mitten im Karst findet seit 1986 das bekannte slo­we­ni­sche Lite­ra­tur­fes­tival „Vile­nica“ statt; ich habe regel­mässig daran teil­ge­nommen und wurde 2005 sogar Preis­trä­gerin, was die schöne Folge hatte, dass ein Gedicht­band ins Slo­we­ni­sche über­setzt wurde. Und vom Karst ist es nur ein Kat­zen­sprung nach Triest; diese Gele­gen­heit habe ich mir nie ent­gehen lassen. Sehe ich die Bucht von Triest, den Leucht­turm, das weisse Schloss Miramar, bin ich augen­blick­lich glücklich.Nach Buda­pest führten mich die Wege eher selten. Und meine Geburts­stadt Rima­s­zombat habe ich erst 2004 wie­der­ge­sehen, nach sechs­und­fünfzig Jahren. Es war ein berüh­render Moment. Müt­ter­liche Ver­wandte gibt es dort keine mehr, ich kam offi­ziell wegen einer Lesung nach Rimavská Sobota – und wurde mit einem Emp­fang im Rat­haus über­rascht. Gesang, Reden, Geschenke, als wäre die ver­lo­rene Tochter in den Schoss der Heimat zurück­ge­kehrt. Sehr bewe­gend. Zum ersten Mal sah ich bewusst mein Geburts­haus, die Apo­theke meiner Mutter, alles, wovon sie mir so oft erzählt hatte. Ich kann mir ihre Klein­stadt­kind­heit seither viel besser vorstellen.

 

n.: Sie ver­flechten die Erin­ne­rungen an die Kind­heit in Ihrem Buch mit Refle­xionen aus der Gegen­wart, mit klei­neren Exkursen, Versen und Still­leben. Ins­ge­samt sind es 69 Minia­turen, aus denen sich Ver­gan­genes und Gegen­wär­tiges zusam­men­setzen. Sie sind also der kleinen Form auch beim Schreiben der Auto­bio­gra­phie treu geblieben?

 

R.: Die grosse Form liegt mir nicht. Ich bin im Innersten Lyri­kerin, mir fehlt der Atem für epi­sches Erzählen. Indem ich mich für kür­zere, vignet­ten­hafte Kapitel ent­schieden habe, konnte ich mir sprach­liche Inten­sität erlauben, was mir sehr wichtig ist. Für Zusam­men­hänge sorgen Leit­mo­tive, wie­der­keh­rende ‚Muster‘. Ent­standen ist ein Gebilde, das – wie ich hoffe – gleich­zeitig kohä­rent und durch­lässig ist, d.h. dem Leser genug Spiel­raum für eigene Phan­ta­sien (und Erin­ne­rungen) gewährt.

 

n.: Sie beschreiben sich in Ihrem Buch als lei­den­schaft­liche Leserin, „hungrig nach Lek­türe“: „Lesend ent­decke ich mich selbst. Lesend ent­decke ich das Andere.“ Lässt sich auch so etwas wie eine Lese­bio­gra­phie erzählen? Sie erwähnen u.a. Dostoevskij, wer gehört noch in diese Reihe?

 

R.: Ich erwähne meh­rere prä­gende Lese­ein­drücke, aber bei weitem nicht alles, was ich zwi­schen sechs und sech­zehn an Büchern ver­schlungen habe. Im Zusam­men­hang mit meinem kind­li­chen Wunsch, ‚Welt­for­scherin‘ zu werden, steht die Lek­türe von Thor Heyer­dahls Kon-Tiki, Hein­rich Har­rers Sieben Jahre in Tibet und anderen Berichten über Ent­de­ckungs­reisen. Dann las ich begeis­tert India­ner­bü­cher – Coo­pers Leder­strumpf-Romane, Karl Mays Win­netou –, aber auch Selma Lager­löfs Wun­der­bare Reise des Nils Hol­gersson. Mit Dostoevs­kijs Roman Schuld und Sühne, den ich unge­wöhn­lich früh und klamm­heim­lich las, ver­la­gerte sich mein Inter­esse auf die Ent­de­ckung innerer Welten. Der Ein­druck war gewaltig, nicht umsonst widme ich Dostoevskij ein ganzes Kapitel in meinem Buch. Dostoevskij liess mich nie mehr los. Und dass ich später Sla­vistik stu­diert habe, hat unmit­telbar mit diesem Lese­er­lebnis zu tun.

Wäh­rend der Gym­na­si­ums­zeit beschäf­tigten mich u.a. T.S. Eliot (Four Quar­tets), Martin Buber (Chas­si­di­sche Geschichten), Gershom Sholem

(Kab­bala), die Fran­zosen Ber­nanos und Valéry, die eng­li­schen meta­phy­sical poets, neben Dostoevskij auch Tol­stoj, Tur­genev, Gončarov, Leskov, Čechov. Wäh­rend meines Stu­di­en­jahrs in Lenin­grad ent­deckte ich – dank Freunden – Mandel‘štam und Cve­taeva, von denen es in den Buch­läden nichts zu kaufen gab.

Die Idee gefällt mir, einmal eine reine Lese­bio­gra­phie zu schreiben.

 

n.: Über Triest kommen Sie 1951, noch vor der Ein­schu­lung, mit Ihrer Familie in die Schweiz, nach Zürich. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Ein halbes Leben hin­term Eisernen Vor­hang, was hätte es aus mir gemacht.“ Der Satz hat mich sehr berührt, zumal ich selbst, zum gegen­wär­tigen Zeit­punkt, mein halbes Leben hin­term Eisernen Vor­hang ver­bracht habe. Sie sind zwar nicht in Ost­eu­ropa geblieben, haben aber Ost­eu­ropa zu Ihrem Beruf gemacht. Woher rührt diese Entscheidung?

 

R.: Für das Sla­vistik-Stu­dium war Dostoevskij aus­schlag­ge­bend. Doch spielte auch meine halb-slo­we­ni­sche Her­kunft eine Rolle. Die sla­vi­sche Welt übte eine starke Anzie­hung auf mich aus. Jah­re­lang konnte ich diese Länder nicht bereisen, da es der Staa­ten­lo­sen­pass nicht erlaubte. Kaum war ich im Besitz eines Schweizer Passes, fuhr ich nach Prag. Danach gab es kein Halten mehr. Ich bin froh, dass ich meinen Drang nach Osten beruf­lich fruchtbar machen konnte. Blicke ich auf meine Akti­vi­täten zurück, bin ich so etwas wie eine Brü­cken­bauerin zwi­schen Ost und West. Diese Rolle scheint auf mich zuge­schnitten zu sein, und ich fühle mich unver­min­dert wohl darin.

 

n.: Sla­vistik haben Sie Ende der 60er Jahre in der Schweiz und in Lenin­grad stu­diert und 1971 mit einer Pro­mo­tion zum Motiv der Ein­sam­keit in der rus­si­schen Lite­ratur, u.a. beim roman­ti­schen Dichter Evgenij Bar­a­tynskij, abge­schlossen. Ein Sla­vis­tik­stu­dium zur Zeit des Kalten Krieges hatte, wie ich mir vor­stellen kann, sicher­lich auch etwas Aben­teu­er­li­ches. Es war poli­tisch bri­sant, die Lite­ratur hatte einen anderen Stel­len­wert… Lässt sich das Stu­dium der sla­vi­schen Lite­ra­turen damals über­haupt noch mit dem Stu­dium heute vergleichen?

 

R.: Kaum. Wir waren eine kleine Gruppe von Begeis­terten. Nie­mand dachte an kon­krete Berufs­aus­sichten. Aber alle suchten wir Tuch­füh­lung mit dem Osten, wollten in der Sowjet­union, in Polen oder der Tsche­cho­slo­wakei ein Stu­di­en­jahr ver­bringen. Das war aben­teu­er­lich und fas­zi­nie­rend zugleich. Was mich anbe­langt: mein Lenin­grader Jahr war das inten­sivste in meinem ganzen Leben. In näch­te­langen Küchen­ge­sprä­chen erfuhr ich, was Freund­schaft heisst, bei pri­vaten Lesungen, wie exis­ten­ziell Lite­ratur sein kann. Hier das repres­sive Regime – dort die Gegen­welt der Kunst, mächtig auf ihre Art. Diese Span­nung hatte etwas Elektrisierendes.

Ich werde auch nie ver­gessen, wie ich in der Sal­tykov-Šče­drin-Biblio­thek mona­te­lang Bücher exzer­pierte. Foto­ko­pier­au­to­maten gab es ja nicht, ich schrieb alles eigen­händig ab. Dadurch prägte es sich anders ein.

Ebenso unver­gess­lich sind die Begeg­nungen mit Efim Ėtkind, Dmitrij Lichačev, Lidija Ginz­burg, Jurij Lotman und mit meinem Mentor Viktor Manu­jlov, der mir in seinem Kom­mu­nalka-Zimmer Briefe von Sergej Esenin und Aqua­relle von Mak­si­mi­lian Vološin zeigte. Das war Stu­dium live, unmit­telbar und zutiefst berührend.

 

n.: Wie war es damals mög­lich, Kon­takte zu Künst­lern und/oder Dis­si­denten zu knüpfen?

 

R.: Da spielten Zufälle mit. Jemand hatte mir die Adresse eines Thea­ter­wis­sen­schaft­lers gegeben, dieser machte mich mit einer Kol­legin bekannt, die ihrer­seits Kon­takte zu Künst­lern und Lite­raten hatte. Plötz­lich befand ich mich in einem grossen Freundeskreis.

Beson­ders inter­es­sant war der Kreis um Efim Etkind. Er bestand aus Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lern ebenso wie aus Lite­raten, und zwar mehr­heit­lich dis­si­denten Schrift­stel­lern. Auch Etkind lernte ich über eine Dritt­person kennen. Unsere Freund­schaft dau­erte bis zu seinem Tod.

 

n.: In Ihrem Buch schil­dern Sie eine Begeg­nung mit Iosif Brod­skij im März 1972 in Lenin­grad, kurz vor dessen Aus­bür­ge­rung am 5. Juni im selben Jahr. Brod­skij wurde damals von den sowje­ti­schen Behörden in ein Flug­zeug nach Wien gesetzt, nachdem man ihm alle Manu­skripte abge­nommen hatte. Haben Sie mit ihm auch über seine poli­ti­sche Situa­tion gespro­chen? Oder war das nicht mög­lich bzw. nicht angebracht?

 

R.: Nein, wir unter­hielten uns nicht über Politik und seine Situa­tion. Ich sass in seinem Zimmer, das ich durch einen Schrank hin­durch betreten hatte, und sprach mit ihm über Bar­a­tynskij, Ach­ma­tova, John Donne, W.H. Auden – seine Lieb­lings­dichter. Aller­dings erregte die kleine ame­ri­ka­ni­sche Flagge, die auf dem Schrank stand, meine Auf­merk­sam­keit, doch wagte ich nicht zu fragen, was sie zu bedeuten hatte. Später wurde mir dann einiges klar.

Im März 1972 traf ich Brod­skij ein zweites Mal – bei Etkind. Er las uns das neu ent­stan­dene Gedicht Sre­tenie (Dar­stel­lung im Tempel) vor und bat mich, eine Kopie in die Schweiz mit­zu­nehmen und einer fran­zö­si­schen Freundin zu über­geben. Ich habe meine Boten­pflicht erfüllt, mehr noch, ich habe das Gedicht ins Deut­sche übersetzt.

 

n.: Haben Sie ihn nach der Aus­bür­ge­rung im Westen wieder getroffen?

 

R.: Ja. Bei einem Lite­ra­tur­sym­po­sium in Graz, mehr­mals zufällig im win­ter­li­chen Venedig, zweimal in Zürich. Bei seinem ersten Besuch schenkte ich ihm meine rus­si­sche Hermes-Baby, eine prak­ti­sche kleine Rei­se­schreib­ma­schine. Er war über­glück­lich. Bei seinem letzten Besuch legte er sich im Garten untern Apfel­baum und machte – müde von einem Vor­trag, den er am Eng­li­schen Seminar gehalten hatte – ein Nicker­chen. Ich bat meinen Sohn, ihn zu foto­gra­fieren. Wie sich hin­terher her­aus­stellte, war kein Film im Apparat. Danach sind wir uns nie mehr begegnet.

 

n.: Sre­tenie war das letzte von Brod­skij in Russ­land geschrie­bene Gedicht und bezieht sich auf das jüdi­sche Ritual „Dar­stel­lung des Herrn“. Brod­skij widmet es Anna Ach­ma­tova. Hat mit Sre­tenie das Über­setzen bei Ihnen begonnen?

 

R.: Sre­tenie war gewis­ser­massen die Initi­al­zün­dung. Ich fand es fas­zi­nie­rend, etwas aus dem Manu­skript zu über­setzen. Auch passte das Gedicht per­fekt in die Antho­logie „Gott in der neu­esten sowje­ti­schen Poesie“, die ich mit Felix Philipp Ingold im Arche Verlag herausgab.

 

n.: Sie spre­chen sieben Spra­chen – Unga­risch, Slo­we­nisch, Ser­bo­kroa­tisch, Deutsch, Fran­zö­sisch, Eng­lisch und Rus­sisch. Damit sind Ihre Über­set­zungs­mög­lich­keiten schier unbe­grenzt. Und den­noch haben Sie sich für einige wenige AutorInnen ent­schieden, denen Sie ‘treu‘ sind, dar­unter Marina Cve­taeva, Mar­gue­rite Duras und Danilo Kiš. Wie kam es zu diesem Ver­hältnis von AutorIn und Über­set­zerin bzw. Über­set­zerin und AutorIn?

 

R.: Als ich 1972 die poe­ti­sche Prosa von Marina Cve­taeva ent­deckte, war ich völlig hin­ge­rissen. Ihre Lyrik zu über­setzen, hätte ich mich damals nicht getraut, aber die Prosa reizte mich spontan. Und so stürzte ich mich ins Aben­teuer und ver­öf­fent­lichte 1973 im Ben­ziger Verlag eine kleine Aus­wahl von auto­bio­gra­phi­schen Erzäh­lungen, Essays und Briefen der Cve­taeva, die im deut­schen Sprach­raum noch völlig unbe­kannt war. Heute weiss ich, dass ich mich über­nommen hatte, auch ging alles zu schnell. Doch habe ich mich im Lauf der Zeit immer mehr ein­ge­ar­beitet, habe die viel­fäl­tigen Ver­äs­te­lungen von Cve­taevas Werk gründ­lich stu­diert und ihre Sprache – mit all ihren Eigen­heiten – quasi ver­in­ner­licht. Es war nur kon­se­quent, dass ich immer weiter über­setzt habe. Irgend­wann kam ich mir fast wie ein Medium vor.

Cve­taeva habe ich min­des­tens zehn Jahre meines Lebens gewidmet und bin an kein Ende gekommen – ihre aus dem Nach­lass ver­öf­fent­lichten Notiz­bü­cher locken mich sehr –, mit Mar­gue­rite Duras aber glaube ich abge­schlossen zu haben. Es war eine Lie­bes­ge­schichte der beson­deren Art, Sommer 1980, Der Lieb­haber, Das täg­liche Leben u.a. zu über­setzen, daneben einen Mate­ria­li­en­band über Duras her­aus­zu­geben. Ich bin in dieses lite­ra­ri­sche Uni­versum tief ein­ge­taucht, fühlte mich aber von den letzten Büchern nicht mehr angesprochen.

Bei Danilo Kiš bedaure ich unend­lich, dass es nichts mehr zu über­setzen gibt. Seine lite­ra­ri­sche Welt war für mich eine der Fremd­nähe und über­set­ze­risch die grösste Her­aus­for­de­rung über­haupt. Kiš‘ gesto­chen scharfe Sprache, die so gran­dios die Laby­rinthe des Sta­li­nismus und die Tra­gö­dien des jüdi­schen Mit­tel­eu­ropa evo­ziert, hat mit dem poe­tisch-ellip­ti­schen Stil der Cve­tavea oder der Duras nichts gemein. Auch nicht mit meiner eigenen lite­ra­ri­schen Dik­tion. Ich musste mir diese andere Sprache zu eigen machen, und das war hartes Exer­zi­tium. Von Buch zu Buch fühlte ich mich sicherer. Viel­leicht ist Sanduhr das Beste, was mir als Über­set­zerin gelungen ist.

 

n.: Von Kiš haben Sie neben Sanduhr auch Ein Grabmal für Boris Davi­dović (1983), Der Hei­mat­lose (1996) und zuletzt, 2007, gemeinsam mit Peter Urban, vier Stücke über­setzt. Wann haben Sie ihn kennengelernt?

 

R.: Ich lernte ihn kennen, als ich das Grabmal über­setzte. Im Februar 1983 schrieb ich ihm nach Paris, wenig später trafen wir uns dort. Er lud mich in sein Lieb­lings­re­stau­rant, die „Rotonde“ in Mont­par­nasse, ein, wo sich seit je die revo­lu­tio­näre Boheme traf. Wir ver­standen uns auf Anhieb, unter­hielten uns drei­spra­chig (unga­risch, ser­bo­kroa­tisch, fran­zö­sisch) über Lite­ratur und Leben, Poesie und Politik. Er war gross, schlank, hatte dichtes, lockiges Haar: ein tem­pe­ra­ment­voller Erz­engel, der nach einigen Glä­sern Wein zu thea­tra­li­scher Form auf­lief und mir – und der ver­sam­melten Kell­ner­schar – vor­führte, wie Krleža den Frauen die Hände zu küssen pflegte. – Auf die erste Begeg­nung folgten viele wei­tere: in Paris, Frank­furt, Ljubljana, zuletzt in Zürich. Im Januar 1989 kam er, bereits schwer­krank, zu einer Lesung ins Theater am Hecht­platz und besuchte mich zu Hause. Im Oktober starb er an Lun­gen­krebs. – Kiš gehört zu den Men­schen, die ich am meisten ver­misse. Es ver­band uns eine Freund­schaft, die – durch den Fokus auf sein Werk – ebenso kon­zen­triert wie innig war. Als Über­setzer wird man ja unfrei­willig zum Ver­trauten, und Kiš war sich dessen sehr bewusst. Zugleich war er voll Respekt und Dank­bar­keit für meine Arbeit. – Unsere Kor­re­spon­denz ist inzwi­schen (in der Zeit­schrift Sara­jevske sveske) ver­öf­fent­licht. Und wenn ich an all die Auf­sätze denke, die ich über ihn geschrieben habe, an das Über­setzte und Edierte, merke ich, dass Kiš in meiner Lebens­to­po­gra­phie ein eigener Kon­ti­nent ist.

 

n.: Sie haben wie keine andere einen Über­blick über die lite­ra­ri­schen Ent­wick­lungen der letzten vierzig/fünfzig Jahre in Ost­eu­ropa. Das ist ein schier end­loses Feld von Autoren und lite­ra­ri­schen Ent­de­ckungen. Welche lite­ra­ri­schen Ereig­nisse sind Ihnen – neben Kiš – beson­ders in Erin­ne­rung geblieben?

 

R.: Sehr wichtig war für mich Gen­nadij Ajgi. Ich habe sein Werk über zwanzig Jahre hinweg ver­folgt und finde es nach wie vor ein­zig­artig. Ajgi war Tschu­wa­sche, schrieb aber auf Rus­sisch. Seine Lyrik lässt sich nicht ein­ordnen, folgt eigenen Gesetzen, Ima­gi­na­tionen und Into­na­tionen. Der Ajgi-Sound ist schlicht unwi­der­steh­lich, wobei ich noch im Ohr habe, wie Ajgi selbst seine Gedichte las – nicht pathe­tisch, aber irgendwie scha­ma­nisch. Ein betö­render Sing­sang. Ich habe ihn noch wenige Monate vor seinem Tod lesen gehört, anläss­lich einer gemein­samen Ver­an­stal­tung in Bremen. Wir waren befreundet, haben Briefe und Bücher getauscht, über­setzt habe ich ihn aller­dings nicht, es blieb bei einigen Auf­sätzen, die ich ihm gewidmet habe.

Was die rus­si­sche Szene betrifft, muss ich auch die Mos­kauer Kon­zep­tua­listen erwähnen. Ich habe die Dichter-Künstler-Gruppe in Moskau ken­nen­ge­lernt – unver­gess­lich die Besuche in den Ate­liers von Ilja Kabakov und Andrej Monastyr­skij – und ihre Akti­vi­täten mit Inter­esse wei­ter­ver­folgt. Lev Rubinš­tejn, Dmitrij Prigov, der frühe Sor­okin waren Ent­de­ckungen, später Pavel Pep­perš­tejn, der mit seiner „Medi­zi­ni­schen Her­me­neutik“ eine neue Spielart des Kon­zep­tua­lismus schuf. Mit einer gewissen Wehmut denke ich an die Zeit zurück, als sie bei mir zu Hause vor­lasen: Rubinš­tejn, Prigov (der nicht mehr lebt), Pep­perš­tejn (der kein Flug­zeug mehr besteigt). Es war Anfang der neun­ziger Jahre.

 

n.: Und außer­halb Russlands?

 

R.: In Ungarn hat sich das grosse Trio Péter Ester­házy, Péter Nádas, Imre Ker­tész als resis­tent gegen Moden und Trends erwiesen. Ihre Werke füllen inzwi­schen meine Bücher­re­gale, Nádas‘ drei­bän­diges opus magnum Par­al­lel­ge­schichten (2005) hat Musil­sche Qua­li­täten. Daneben gibt es hoch­be­gabte jün­gere Autoren wie Attila Bartis (Die Ruhe) oder György Dra­gomán (Der weisse König).

A propos Jugend: Zu den fas­zi­nie­rendsten lite­ra­ri­schen Ent­de­ckungen der letzten Jahre gehören für mich die jungen Ukrainer Serhij Žadan und Ljubko Dereš. Soviel Rasanz, gepaart mit Fein­ge­fühl, ist ziem­lich ein­malig. Und mit welch abgrün­digem Humor die post­kom­mu­nis­ti­sche Trans­for­ma­ti­ons­zeit geschil­dert wird, Chapeau!

Natür­lich bewun­dere ich auch die (geo­poe­ti­schen) Essays von Jurij Andruchovyč und seinem pol­ni­schen Kol­legen Andrzej Sta­siuk. Nicht zuletzt wegen ihrer sub­jek­tiven Sicht und ihrer starken Sprache.

In Sachen ex-jugo­sla­vi­scher Lite­ratur halte ich mich mit Gewinn an die Bücher von Bora Ćosić, David Alba­hari, Dževad Karahasan und Dubravka Ugrešić. Vier Namen, vier unter­schied­liche poe­ti­sche Uni­versen. Alba­hari kehrt immer wieder zur The­matik des Holo­caust zurück, Karahasan umkreist bos­ni­sche Befind­lich­keiten (mit Rekurs auf isla­mi­sche Phi­lo­so­phie), Ćosić schil­dert die jugo­sla­wi­sche Geschichte seit dem Zweiten Welt­krieg – und darin die eigene Lebens­ge­schichte – als absurdes Theater, Dubravka Ugrešić arbeitet sich inge­niös am Thema der Emi­gra­tion ab, nachdem sie sich in furiosen Essays von ihrer kriegs­ver­seuchten Heimat los­ge­sagt hat.

Und fast hätte ich die Slo­wenen ver­gessen: den wun­der­baren Lyriker und Essay­isten Aleš Šteger. Sein Gedicht­band Buch der Dinge macht aus all­täg­li­chen Gegen­ständen poe­ti­sche Epiphanien.

 

n.: Sie haben gerade die boo­mende ukrai­ni­sche Lite­ratur erwähnt. Um die rus­si­sche Gegen­warts­li­te­ratur ist es gerade etwas still geworden. Wie schätzen Sie die ‚lite­ra­ri­sche‘ Lage in Russ­land ein?

 

R.: Eine schwie­rige Frage. Russ­land ist ein rie­siges Land, wie soll man da – aus der Distanz – einen Über­blick über das poli­ti­sche oder kul­tu­relle Geschehen gewinnen. Ich fühle mich ziem­lich ratlos. Es genügt heute ja nicht mehr, lite­ra­ri­sche Zeit­schriften durch­zu­blät­tern, man müsste auch im Internet ständig auf Suche sein, zumal junge Autoren ihre Arbeiten direkt ins Netz stellen.

Wahr­schein­lich tut sich einiges, ohne dass wir davon wissen. Der lite­ra­ri­sche Main­stream aller­dings wirkt nicht umwer­fend. Seit Jahren bemühe ich mich, etwas Brauch­bares für den Suhr­kamp Verlag zu ent­de­cken. Ausser kleinen Funden – wie dem Kurz­roman Durst von Andrej Gel­asimov – war die Aus­beute mehr als dürftig. Die Bücher, die uns über Agen­turen errei­chen, sind lite­ra­risch oft wenig über­zeu­gend, haben eine pro­ble­ma­ti­sche ideo­lo­gi­sche Ten­denz oder eine so aus­schliess­lich rus­si­sche Aus­rich­tung, dass sie in West­eu­ropa kaum Leser finden würden.

Besser bestellt ist es um die Lyrik und Essay­istik, aber gerade an diesen Genres sind west­liche Ver­lage kaum interessiert.

 

n.: Vor kurzem hat die Staats­an­walt­schaft in Moskau Ermitt­lungen auf­ge­nommen gegen Viktor Ero­feev wegen „Rus­so­phobie“ und „Schüren natio­nalen Hasses“, im Pro­zess gegen den Kurator der Aus­stel­lung über „Ver­bo­tene Kunst“, Ero­feevs Bruder Andrej, gibt es noch kein Urteil. Mir scheint, was früher die Zensur ver­hin­derte, erle­digen nun die aus dem Boden schies­senden Kläger und die Staatsanwaltschaft…

 

R.: Ja, die Lage ist dies­be­züg­lich schlimm. Wer im Wohl­stand lebt, zeigt sich poli­tisch des­in­ter­es­siert. Doch ein nicht unwe­sent­li­cher Teil der Bevöl­ke­rung driftet nach rechts, kul­ti­viert einen rabiaten Natio­na­lismus und Chau­vi­nismus, der mit Frem­den­feind­lich­keit und Anti­se­mi­tismus ein­her­geht. Russ­land soll wieder erstarken, soll zur angst­ein­flös­senden Mili­tär­macht werden usw. Leider spielt die ortho­doxe Kirche zum Teil mit, gefällt sich in ihrer Rolle als Staats­kirche, statt demo­kra­ti­sche Prin­zi­pien hoch­zu­halten. Und die Regie­rung ist zen­tra­lis­tisch, kon­trol­liert die Medien. Eine durch­grei­fende Demo­kra­ti­sie­rung des Landes hat nicht nur nicht statt­ge­funden, son­dern wirkt nach­ge­rade illusorisch.

 

n.: Haben Sie den Ein­druck, dass die Autoren aus Ost­eu­ropa inzwi­schen im euro­päi­schen Lite­ra­tur­be­trieb ange­kommen sind? Oder werden sie – in öffent­li­chen Ver­an­stal­tungen und För­der­pro­grammen – immer noch auf ‚ter­ri­to­riale‘ Fragen oder Themen eingeschränkt?

 

R.: Unter­schied­lich. Autoren wie Imre Ker­tész, Péter Nádas oder Péter Ester­házy gelten längst als euro­päi­sche Schrift­steller, um nicht zu sagen als Schrift­steller von Welt­rang. In anderen Fällen aber folgt die Rezep­tion einem lan­des­kund­lich-poli­ti­schen Inter­esse. Der Boom der ukrai­ni­schen Lite­ratur in Deutsch­land ist ein typi­sches Bei­spiel: Jurij Andruchovyč oder Serhij Žadan werden nicht in erster Linie wegen ihrer lite­ra­ri­schen Qua­li­täten gelesen, son­dern weil man aus ihren Werken Näheres über die Ukraine erfahren möchte. Nur fol­ge­richtig ist dann, dass Andruchovyč vor dem Europa-Par­la­ment in Strass­burg über die Orange Revo­lu­tion reden muss. Vom ost­eu­ro­päi­schen Schrift­steller erwartet man nach wie vor, dass er die Rolle des homo poli­ticus über­nimmt.

Ich finde diese Erwar­tungs­hal­tung ziem­lich fatal, ebenso die ste­reo­type Fest­le­gung ost­eu­ro­päi­scher Lite­ratur auf ‘ter­ri­to­riale‘ Fragen. Leider hat sie Tra­di­tion. Doch sollte es im Zeit­alter der Glo­ba­li­sie­rung, des Inter­nets usw. gelingen, diese Sicht­weise zu sprengen und die ost­eu­ro­päi­schen Schrift­steller aus der Exo­ten­ecke zu befreien, um sie als Künstler zu würdigen.

 

n.: Ja, da findet eine absurde Ver­wechs­lung statt. Weil sich ost­eu­ro­päi­sche Autoren seit den 90er Jahren für den Zusam­men­hang von Geo­gra­phie und Poetik inter­es­sieren (Stich­wort Geo­poetik), werden sie immer mehr als ‚Hei­mat­be­richt­erstatter‘ wahr­ge­nommen. Der an den Uni­ver­si­täten leider zu beob­ach­tende Trend in Rich­tung Area Stu­dies tut dazu sein Übriges.

Geo­gra­phie spielt auch in Ihrem Buch eine wich­tige Rolle, das Meer, Aka­zi­en­al­leen, tuch­för­mige Plätze, Tief­land, Wind. Sie schreiben, dass Ihre innere Kom­pass­nadel immer nach Osten zeige. Welche Rolle spielen diese geo­gra­phi­schen Bilder beim Schreiben?

 

R.: Sie sind Kon­stanten der Erin­ne­rung und zugleich Sehn­suchts­me­ta­phern. Ihre Evo­ka­tion ist für den Text zen­tral: in diesen Bil­dern wird Bio­gra­phi­sches ver­ortet und sinn­fällig gemacht. Es geht nicht zuletzt um Atmo­sphäre. Wo nötig – wie im Falle von Triest – habe ich die Geo­gra­phie durch die His­torie ergänzt, um dem Ort mehr Tie­fen­schärfe zu geben.

 

n.: Mit dem Wind endet auch Ihr Buch. Der Unbe­re­chen­bar­keit des Meeres und des Windes setzen Sie als letzten Satz „Staune und ver­traue“ ent­gegen. Ist das auch Ihr Lebensmotto?

 

R.: So könnte man sagen. Ich habe in meiner Kind­heit viele Umzüge und Wechsel erlebt, bin durch viele Fähr­nisse gegangen. Aber nichts konnte mich in meinem Grund­ver­trauen und in meiner stau­nenden Hal­tung erschüt­tern. Das ist ein grosses Glück. Zum einen ver­danke ich es meinen Eltern, zum andern meinem neu­gie­rigen Natu­rell. Und wenn ich mir – im Leben und in der Kunst – etwas erhalten möchte, dann genau dies: Offen­heit, Kind­lich­keit, mit anderen Worten das Staunen und das Vertrauen.