Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Gespräch über Schnee. Eine Einleitung.

Russ­land ist ohne Schnee und Schnee­stürme undenkbar: der lange Winter, rie­sige weisse Flä­chen, Schnee­stürme und viele ver­schie­dene Schnee­sturm­wörter: метель, буран, вьюга, пурга, снежная буря unter­scheiden die Stärke des Sturmes und die Rich­tungen der Verwirbelung.
Die rus­si­sche Lite­ratur hat den Schnee und den Schnee­sturm nicht nur beschrieben, son­dern ganze Schnee­sturm­nar­ra­tive und ‑meta­pho­riken ent­wi­ckelt, die sich im Laufe der Zeit immer wieder ver­än­dert haben. In der rus­si­schen Romantik, bei Petr Vja­zemskij und Alek­sandr Puškin ist das Auf­kommen eines Schnee­sturms meist mit der Lei­den­schaft­lich­keit der Liebe und dem unsi­cheren Schicksal der Prot­ago­nisten ver­knüpft. Schnee­sturm beschreibt das Chaos, eine Stö­rung, in Puškins Erzäh­lung Schnee­sturm (Metel’ 1830) die Unter­bre­chung einer Fahrt, eines bio­gra­phi­schen Weges, die ganz am Ende der Erzäh­lung, wie in einem Schnee­sturm, noch einmal umge­dreht wird. Der Schnee­sturm unter­bricht das Gewohnte, wir­belt es umher, stellt die Prot­ago­nisten vor eine Wahl, bringt sie in eine kon­tin­gente Situa­tion. Man könnte den Schnee­sturm mit Bachtin in der Romantik als einen Chro­no­topos des ver­wir­belten, unter­bro­chenen Weges lesen.
In Tol­s­tojs Schnee­sturm (Metel’ 1856) wird dann viel stärker auf den Schnee­sturm als ais­the­ti­sches Expe­ri­ment, als Wahr­neh­mungs­expe­ri­ment ange­spielt. Tol­stoj stellt die sin­nes­phy­sio­lo­gi­sche Stö­rung, die durch den Schnee­sturm her­vor­ge­rufen wird, in den Vor­der­grund. Der Prot­ago­nist kann sich auf seinen Seh­sinn nicht mehr ver­lassen, er ist blind, seine Umwelt nimmt er nur noch durch Geräu­sche und andere Sin­nes­ein­drücke wahr. Schliess­lich beginnt er zu träumen und zu hal­lu­zi­nieren. Man könnte sagen, dass Tol­stoj mit dem Schnee­sturm so etwas wie eine Urszene des Lite­ra­ri­schen erschafft. Die Blind­heit im Schnee­sturm, das Whiteout, wird durch das Sehen der Ein­bil­dungs­kraft ersetzt, das Weisse rings­herum erscheint als weisse Seite, die durch die Erzäh­lung beschriftet wird. Als Whiteout bezeichnet man das Phä­nomen der Derea­li­sie­rung durch Schnee (Blen­dung) oder durch Schnee­sturm (Ver­lust der Ver­läss­lich­keit des Sehsinns).
Zwei wei­tere Schnee­sturm­kon­zepte kommen bei Alek­sandr Blok hinzu, eine davon unter­streicht die Idee des Schrei­bens auf dem weissen Papier. Blok ver­bindet in Schnee­maske (Snežnaja maska, 1906/07) die Ver­wir­be­lung beim Schnee­sturm mit dem Weben des Textes: «вить, взвиться, вяз» als Flechten, d.h. als Bezeich­nung für die Pro­duk­tion des Textes; «вить, виться» als Wir­beln des Schnees. Die Ver­wir­be­lung geht bei Blok bis auf die Wort­ebene, die Buch­staben werden in Ana­grammen regel­recht durch­ge­wir­belt. Jurij Tyn­janov nennt Bloks Schreib­weise des­halb auch einen „sti­lis­ti­schen Schneesturm“.
Eine andere, vor allem im frühen 20. Jahr­hun­dert stra­pa­zierte Meta­pho­ri­sie­rung des Schnee­sturms beginnt eben­falls bei Blok, in Bloks Die Zwölf (Dven­adcat’, 1917/18). Dort wird der Schnee­sturm mit der Revo­lu­tion asso­zi­iert. Revo­lu­tion erscheint als ein Moment des abso­luten Jetzt: Die Ver­gan­gen­heit zählt nicht mehr, die Zukunft ist völlig offen, Geschichte wird von Kon­tin­genz bestimmt. Man könnte das mit Lot­mans Begriff der „Explo­sion“ beschreiben. Explo­sion wird bei Lotman defi­niert als Ereignis, als ein „Moment der Unvor­her­sag­bar­keit“, in dem „sich die Wei­chen­stel­lung für die Zukunft als Zufall rea­li­siert“. Oder aber mit Gilles Deleuze‘ Vor­stel­lung vom „glatten Raum“, dem man aus­ge­lie­fert ist, den man nicht über­bli­cken kann und der des­halb jeden ein­zelnen in die Nah­sich­tig­keit zwingt.
Die Anspie­lungen auf Schnee­sturm und Revo­lu­tion bzw. Bür­ger­krieg finden sich auch in Bul­ga­kovs Schnee­sturm (V’juga, 1926), Bul­ga­kovs Weisser Garde (Belaja Gvar­dija, 1924) Piln­jaks Drama Schnee­sturm (Metel’, 1922), seinem Roman Nacktes Jahr (Golyj god, 1920) und seiner Erzäh­lung Vor der Tür (Pri dver­jach, 1920) und Pas­ter­naks Doktor Živago (1954). Bei Pil’njak heisst es: „Hörst du, wie die Revo­lu­tion heult – wie eine Hexe im Schnee­sturm!“ („Слышишь, как революция воет — как ведьма в метель!“)

Die Poli­ti­sie­rung des Schnee­sturm­textes wird wei­ter­ge­führt mit Nikolaj Zabo­lo­ckijs Gedicht Ottepel’(Tau­wetter), geschrieben 1948, ver­öf­fent­licht 1953 kurz nach Sta­lins Tod. Die erste Zeile: „Ottepel’ posle meteli“ („Tau­wetter nach dem Schnee­sturm“) wird fortan als poli­ti­sche Allu­sion auf die Sta­lin­zeit gelesen, obwohl Zabo­lo­ckij das Ende seines Schnee­sturms bereits 1948, nach der Ent­las­sung aus dem Lager gekommen sah. Die poli­ti­sche Meta­pho­ri­sie­rung des Schnee­sturms wird in der ganzen Tau­wet­ter­zeit fort­ge­setzt. Als schliess­lich Bella Ach­ma­du­linas Gedicht­zy­klus (Metel’, 1965) erscheint, zu einem Zeit­punkt, als das Tau­wetter auch poli­tisch wieder beendet wird, kann man die eigent­lich apo­li­ti­schen Gedichte ohne die poten­ti­elle poli­ti­sche Semantik kaum noch lesen. Auch nach 1990, in den Gesprä­chen zwi­schen Boris Groys und Ilya Kabakov, taucht der Schnee­sturm im Rück­blick als Meta­pher für die Sta­lin­zeit auf: „Die Sowjet­macht wurde hin­ge­nommen wie ein Schnee­sturm, wie eine Klimakatastrophe“.

Dabei gab es gerade im sowje­ti­schen Under­ground, im Mos­kauer Kon­zep­tua­lismus, ein ent­po­li­ti­siertes Inter­esse für Schnee und Schnee­sturm, das viel eher an Tol­stoj oder auch an Kasimir Male­vičs weisse supre­ma­tis­ti­sche Qua­drate anschliesst. Andrej Monastyr­skij hat einmal in einem Gespräch mit Sabine Hänsgen gesagt, dass Schnee­felder schon immer unge­wöhn­lich auf ihn gewirkt hätten. Dort spüre man „einen Mangel des Anfangs, das stän­dige Novum, eine offene Mög­lich­keit“. Daher stamme, so Monastyr­skij weiter, „anschei­nend auch die Liebe zur weißen leeren Fläche von Kabakov, die Liebe zu Heid­egger mit seinen Mög­lich­keiten“ (Hänsgen/Monastyrskij 1999). Als Prä­texte dienten den Kon­zep­tua­listen aller­dings weniger die vielen rus­si­schen Schnee­texte, son­dern Thomas Manns Zau­ber­berg (der lange Ski­aus­flug Hans Cas­torps im Schnee) oder alte chi­ne­si­sche Romane, die Reise in den Westen und ein­zelne Epi­soden aus Der Traum der roten Kammer, wo zwei Mönche über das Schnee­feld ver­schleppt werden.

Dass es mit dem Fahren durch den Schnee­sturm in der rus­si­schen Lite­ratur kein Ende nehmen wird, hat schon der Schnee­sturm als Figur bei Bul­gakov gewusst. In der gleich­na­migen Erzäh­lung ant­wortet er auf die Ableh­nung des Prot­ago­nisten, jemals wieder bei einem Schnee­sturm los­zu­fahren: „Du fährst, und ob du fährst“.
Den vor­erst letzten Schnee­sturm­text hat Vla­dimir Sor­okin 2009 ver­öf­fent­licht. Es ist ein typi­scher Sor­okin, ein Roman, der fast die gesamte rus­si­sche Schnee­sturm­li­te­ratur latent, manchmal auch kon­kret andeutet und den­noch gegen diese auf­be­gehrt. In keinem der bis­he­rigen Schnee­sturm­texte wurde der Weg so häufig ver­weht, ver­loren und wie­der­ge­funden, in keinem der bis­he­rigen Texte wird der Schnee­sturm­text und seine lite­ra­ri­schen Mög­lich­keiten so deut­lich parodiert.
Novinki führte mit Vla­dimir Sor­okin ein Gespräch über seinen Metel’ und den Schnee­sturm­text der rus­si­schen Literatur.

von Sylvia Sasse

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