Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Gespräch über Schnee

Durch die rus­si­sche Lite­ratur fegen immer wieder Schnee­stürme, die Prot­ago­nisten und Buch­staben durch­ein­an­der­wir­beln, und dem Helden – aber auch dem Leser – Sicht und Ori­en­tie­rung rauben. Vla­dimir Sor­okin lässt in seinem 2010 erschie­nenen “Metel‘” dieses Natur- und Lite­ra­tur­phä­nomen wieder auf­leben und dichtet es unver­hohlen fan­tas­tisch um. Novinki hat mit Sor­okin ein Gespräch über Schnee, Schnee­stürme und Schnee­sturm­texte geführt, zu dem Sylvia Sasse eine Ein­lei­tung ver­fasst hat.

 

sorokin_gespräch_ueber_schnee

 

novinki: Vla­dimir, die rus­si­sche Lite­ratur ist voll von Schnee- und Schnee­sturm­texten: Vja­zemskij, Puškin, Tol­stoj, Blok, Esenin, Bul­gakov, Pil’njak, Zabo­lo­ckij, Ach­ma­du­lina – um nur einige zu nennen. Hat­test Du die alle im Blick, als Du mit “Metel’” begonnen hast?

 

Vla­dimir Sor­okin: Das ist natür­lich ein rie­siges Thema. Wie so ein Schnee­ball war es, der einen plötz­lich am Kopf trifft. Hinter mir in meinem Büro habe ich alle Klas­siker stehen, und sie sind mir daher sehr nahe. Beim Schreiben lehne ich mich oft phy­sisch an sie an. Im Prinzip reicht mir das, aber natür­lich lese ich sie auch immer wieder.

 

n.: Und kon­kret bei “Metel‘”?

 

V.S.: Ich habe viele Sachen ange­fangen zu schreiben, als der erste Schnee fiel. Ende Oktober 2009, eben­falls bei leichtem Schnee­fall, begann ich an Metel‘ zu arbeiten. Grund­sätz­lich lässt es sich im Winter am besten schreiben. Schnee ist für mich etwas Magi­sches, er kommt vom Himmel, ver­än­dert das Design der ganzen Land­schaft und ver­schwindet dann ein­fach wieder. Im Sommer kann ich dafür über­haupt nicht arbeiten, weil mein Hirn unter dem Wär­me­druck und der unge­hin­derten Sicht zu einer arbeits­un­fä­higen Sub­stanz mutiert. Wahr­schein­lich habe ich meine besten Werke im Winter verfasst.

 

n.: Woher kommt Deine Fas­zi­na­tion für Winter und Schneesturm?

 

V.S.: Diese Sub­stanz ‚Schnee‘ hat mich rein exis­ten­ziell und phä­no­me­no­lo­gisch schon immer fas­zi­niert. Vieles in meinem Leben ist mit dem Wald und der Jagd ver­bunden. Mein Groß­vater war Förster im Bezirk von Kaluga. Und der Schnee­sturm spielte in den Jagd­ge­schichten, die ich von meinen Ver­wandten hörte, immer eine beson­dere Rolle. Mein Groß­vater, er ist jetzt 92, kannte den Wald aus­ge­zeichnet und erzählte mir von einem Ereignis: Bei starken Schnee­sturm fuhr er einmal von einem Dorf ins andere. Das sind drei Werst, nicht weit, es hat keinen dichten Wald, son­dern ein Feld mit ein­zelnen Wald­stü­cken. Trotzdem konnten er und sein Begleiter irgend­wann nicht mehr wei­ter­fahren, weil sie sich ver­irrt hatten und den Weg nicht mehr fanden. Zum Glück war es nicht sehr kalt und sie über­lebten, weil sie ein Beil hatten und den Schlitten damit zer­hackten und sich auf diese Weise wärmten. Gegen Morgen ließ der Schnee­sturm nach. Er begriff auf einmal, wo er sich befand und sie fuhren nach Hause. Das ist eigent­lich das Phä­nomen dieser Erscheinung.

 

n.: Eine Erzäh­lung vom totalen Ver­lust der Orientierung?

 

V.S.: Ja, aber es gibt noch andere: Wer von euch war schon einmal in Norilsk? Nein? Ich emp­fehle es sehr! An Norilsk wird man sich immer erin­nern. Dort befanden sich auch die größten sta­li­nis­ti­schen Lager, die vor allem auch wegen des Klimas schreck­lich waren. Es gibt dort auch eine Art Natur­phä­nomen, das die Ein­hei­mi­schen Schwarzer Schnee­sturm nennen.

 

n.: Ein Oxy­moron, das wofür steht? Für den Tod?

 

V.S.: Ja, ein Schnee­sturm ist nor­ma­ler­weise weiß! Das ist seine eigent­liche Farbe. Die Bevöl­ke­rung von Norilsk nennt diese Erschei­nung trotzdem so; viel­leicht weil es ein absolut töd­li­ches Ding ist! Im Winter, wenn es dort wirk­lich kalt ist, min­des­tens minus 20 Grad, wird diese Stadt, die bereits in der Zone des ewigen Frostes liegt, von einem äußerst starken Wind samt Schnee ange­griffen. Der Wind ist so stark, dass der Mensch nicht einmal mehr auf seinen Beinen stehen kann. Und wenn der Schwarze Schnee­sturm tobt, wagt sich nie­mand auf die Straße. Einmal hat ein Bus mit Arbei­tern die Fabrik ver­lassen, als plötz­lich dieser Schnee­sturm aus­brach, der Motor gab den Geist auf und das mitten auf dem Lenin­pro­spekt. Die Arbeiter ver­brachten ganze acht Stunden im Bus. Durch den starken Schnee­fall ver­wan­delte sich das Fahr­zeug nach und nach in einen rie­sigen Schnee­haufen. Der Schwarze Schnee­sturm bläst auch gerne einmal einen Men­schen ein­fach aus der Stadt hinaus. Wie gesagt, ein absolut töd­li­ches Ding, dieser Schwarze Schneesturm.

 

n.: Was hat Dich am Schnee­sturm­text am meisten gereizt? Der Ver­lust der Ori­en­tie­rung, das Abkommen vom Weg?

 

V.S.: Der Schnee­sturm in der rus­si­schen Lite­ratur war anfangs in der Tat eine unan­ge­nehme Erschei­nung, die den Men­schen daran hin­derte, den Weg zu finden. Aber mit der Zeit änderte sich das Bild des Schnee­sturms: Metel‘ war nicht mehr nur ein Fehler im Raum, son­dern ver­wan­delte sich all­mäh­lich zu einem voll­wer­tigen Prot­ago­nisten. Und ich hatte ein­fach Lust, im 21. Jahr­hun­dert ein Werk mit Metel‘ als einer von drei Haupt­fi­guren zu verfassen.

 

n.: Welche Schnee­sturm­texte magst Du besonders?

 

V.S.: Nun, die meisten habt Ihr in der Ein­füh­rung schon erwähnt. Außer viel­leicht noch Esenin mit seinem Gedicht über Spatzen, die sich bei einem Schnee­sturm an ein Haus drü­cken, der fehlt noch: „Авьюга с ревом бешеным / Стучит по ставням свешенным / И злится всё сильней.“ („Schnee­sturm mit rasendem Gebrüll / Häm­mert an die hän­genden Fens­ter­läden / Und zürnt mehr und mehr.“) Das ist eine meiner ersten Kindheitserinnerungen.

 

n.: Und aus der erzäh­lenden Literatur?

 

V.S.: Viel­leicht Thomas Manns Zau­ber­berg: Ich kann mich gut an die Szene erin­nern, in der sich Hans Cas­torp auf Skiern ver­irrt. Er ist nicht ganz so warm ange­zogen. Ich habe aber, ehr­lich gesagt, Thomas Mann nie ganz geglaubt, dass Cas­torp durch die Liebe zu Madam Chauchat wieder zu Kräften findet und des­wegen nicht erfriert. Trotzdem bleibt es eine äußerst ein­drucks­volle Beschrei­bung, die ich gut in meinem Gedächtnis auf­be­wahre. Man sollte aber auch über die Schrift­steller spre­chen, und nicht nur über die Schnee­stürme in ihren Werken.

n.: An wen denkst Du dabei?

 

V.S.: Bei­spiels­weise an Šalamov, einer der gewal­tigsten Schrift­steller über­haupt. Bei ihm ist der Schnee all­ge­gen­wär­tige Kulisse; Schnee und dieser absolut mör­de­ri­sche Raum. Oder an Blok: Seine Snežnaja Maska (Schnee­maske) raubt einem den Atem, denn Buch­staben und Wörter ver­schwinden vor einem ganz unmit­telbar. Irgendwie erin­nert mich das Ganze immer an die Gemälde von Klimt mit ihrer flie­ßenden Schön­heit. Aber ja, eigent­lich habe ich keine Lieb­lings­dar­stel­lung des Schnee­sturms. Falls es tat­säch­lich so eine gäbe, hätte ich meinen Metel‘ wahr­schein­lich nicht geschrieben. Abge­sehen von der Dich­tung hat nie­mand den Schnee­sturm wirk­lich als voll­wer­tigen Prot­ago­nisten dar­ge­stellt. Genau das hat bis jetzt in der rus­si­schen Lite­ratur gefehlt – ich bitte um Ver­zei­hung für meine Bescheidenheit.

n.: Der sprin­gende Punkt war also, dass Du diese Lücke schließen woll­test, in dem Du “Metel‘” als Helden auf­treten lässt?

 

V.S.: Die Novelle dreht sich vor allem um drei Figuren: Den Aka­de­miker, den Bauern und den Schnee­sturm. Das ist die Grund­idee des Werkes. Und warum heißt es eigent­lich Metel‘? Weil der Schnee­sturm die anderen beiden Prot­ago­nisten über­ragt. Schließ­lich siegt der Sturm ja auch, da er auf eine radi­kale Weise das Leben der beiden anderen ver­än­dert: Einer stirbt und dem anderen frieren die Beine ab. Die Chi­nesen retten ihn zwar, aber sein Leben hat sich durchaus verändert.

 

n.: Könn­test Du dieses Ver­hältnis zwi­schen den drei Haupt­fi­guren noch etwas ausführen?

 

V.S.: Es gibt ein stän­diges Gespräch zwi­schen ihnen: Der Doktor und der Krächz unter­halten sich auf Rus­sisch, aber auch der Schnee­sturm kom­mu­ni­ziert, und zwar mit der Sprache des Sturms oder, wenn man so will, auf Schneestürmisch.

 

n.: Der Doktor und sein Kut­scher durch­queren einen unwirk­li­chen, durch den Sturm ver­wir­belten Raum. Was ist das eigent­lich für ein Raum? Wann und wo spielt diese Erzählung?

 

V.S.: Wie kann man die rus­si­sche Pro­vinz über­haupt beschreiben? Der Schnee­sturm hilft dabei. Stellt euch vor, die Hand­lung würde im Sommer spielen… Das wäre eine ganz andere Geschichte. Wenn man aber im Winter die Stadt ver­lässt und sich nur ein paar Kilo­meter ent­fernt, dann ist es, als ob man eine Zeit­reise unter­nimmt. Man könnte im 19., auch im 16. oder im 20. Jahr­hun­dert sein. Des­wegen ist es schwierig zu ver­stehen, wann diese Geschichte spielt. Ich lebe bei­spiel­weise in Vnu­kovo, dort gibt es ein Geschäft und eine Post aus der sowje­ti­schen Zeit. Ich habe manchmal das Gefühl, ich befände mich im Jahre 1975. In der rus­si­schen Pro­vinz läuft die Zeit anders und mein Buch erzählt davon.

 

n.: Auch die Sprache Deines “Metel’” stammt nicht aus der Gegenwart…

 

V.S.: Eigent­lich, und so ist es immer wenn ich schreibe, ver­traue ich auf mein Gehör. Beim Schreiben eines Textes geht es vor allem darum, eine gute Into­na­tion zu finden, sozu­sagen die rich­tige Melodie zu erwi­schen. Ich denke, dass das über­haupt das Wich­tigste in der Lite­ratur ist. Dies ist übri­gens auch die Ant­wort darauf, wes­halb diese Erzäh­lung in einer Sprache, die für das Ende des 19. Jahr­hun­derts typisch ist, ver­fasst wurde. Ich habe das gemacht, weil keine andere Sprache oder Into­na­tion zum Schnee­sturm passen würde. Ver­sucht doch mal, mit der modernen oder nicht mehr so modernen Sprache des strengen Rea­lismus den Schnee­sturm dar­zu­stellen. Wie bei Jack London. Es kommt nicht das­selbe heraus: Der Schnee­sturm wird nicht lebendig.

 

n.: Du meinst, dass der Schnee­sturm am besten zum aus­ge­henden 19. Jahr­hun­dert passt?

 

V.S.: Nur im Raum der klas­si­schen Lite­ratur kann der Schnee­sturm zum Leben erwa­chen. Jedes Sujet, jede Idee benö­tigt eine ori­gi­nelle Melodie. Das ist wie mit der Klei­dung: Man kann Nataša Ros­tova nicht in Lager­klei­dung ste­cken oder umge­kehrt die Figuren Šala­movs nicht in Zivil. Und über­haupt? Der­je­nige, der Schach spielt, wird mich ver­stehen: Fischer sagte, dass er nur einem Prinzip folgt, näm­lich jenem, dass es für eine Posi­tion einen Zug, nur einen ein­zigen rich­tigen Zug gibt und genau diesen gilt es zu finden. Das ist die Wahl der Melodie. Nehmt bei­spiels­weise Lolita. Ver­sucht das gleiche Thema mit der Sprache Faul­k­ners zu beschreiben. Was würde dabei her­aus­kommen? Nabokov hat diese ein­zig­ar­tige, nervös flim­mernde, stets vor den Augen aus­ein­an­der­fal­lende Sprache. Des­halb hat das Ganze funk­tio­niert: Die Bombe ist explodiert!

 

n.: Hast Du auch bei der Titel­wahl auf die Melodie geachtet? Warum nicht Buran, V’juga, Pozëmka oder Purga?

 

V.S.: Von der Melodie her ist Metel‘ die beste Wahl. Die Namens­fin­dung ist über­haupt in der Lite­ratur eine deli­kate Ange­le­gen­heit. Lest nur die Namen der Helden und ihr begreift, was für ein Schrift­steller dahin­ter­steckt. Buran, V’juga, Pozëmka oder Purga sind ledig­lich par­ti­elle Varia­tionen zu diesem Thema. Metel‘ ist eben Metel‘. Dieses Wort beinhaltet alle anderen Aus­drücke für den Schnee­sturm in sich; wie Nataša Ros­tova alle adligen Mäd­chen in sich verkörpert.

 

n.: Nochmal zurück zu Deinem Metel’: Ein Riese, Minipferde, wach­sende Zelte, pyra­mi­den­för­mige Hor­ror­drogen usw. Was hat es mit dieser Fan­tastik in Deinem Schnee­sturm auf sich? Führen Schnee­stürme zwangs­läufig zu Fan­tastik, weil man nichts mehr sieht und die Ein­bil­dungs­kraft auf den Plan tritt?

 

V.S.: Man könnte viel­leicht alles auf die rus­si­sche Meta­physik abschieben, im Sinne von: Sie ist eben an solch einer Welt schuld. Diese Ele­mente erfüllen ver­schie­dene Funk­tionen. Nehmen wir die ver­schie­denen Größen von Wesen und Gegen­ständen: Russ­land, dieses rie­sige Schnee­feld, in dem von einem Gedanken zum anderen Tau­send Werst zu reiten sind, ist eben ein Ort, der von einer eigenen Wer­te­skala bestimmt wird. Dort ist alles etwas anders als in Europa. Die Idee für die Klein­pferde, die das Mobil durch den Sturm ziehen, ent­stammt dem Auto­jargon. Ich habe schon oft solche Ver­fahren ver­wendet, eine Rea­li­sie­rung von Rede­weisen: Mann und Frau sitzen im Auto, Frau fragt: Schatz, warum stinkt es hier so? Mann: Lieb­ling, was erwar­test du, wir haben 150 Pferde unter der Haube.

 

n.: Wie ist in Deinen Augen die Ver­bin­dung zwi­schen Traum und Metel‘ zu sehen? Schon bei Tol­stoj spielt das Träumen beim Schnee­sturm eine wich­tige Rolle.

 

V.S.: Der Schnee­sturm ist selber eine Art fan­tas­ti­sches Ele­ment. Seine größte Gefahr liegt darin, dass er wie ein Schlaf­mittel wirkt.Er lässt die Rei­senden langsam ein­schlum­mern, so dass sie nie mehr auf­wa­chen. Die Fahrt, diese Bewe­gung durch den Raum, ver­schmilzt mit dem Träu­me­ri­schen, in dem es nur so von komi­schen Wesen und Geschöpfen wim­melt. So etwas pas­siert eigent­lich nur in Russ­land, ein Land der Gro­teske, für uns ist das normal.

 

n.: Bei Tol­stoj träumt der Prot­ago­nist wäh­rend des Schnee­sturms aus­ge­rechnet von einer warmen Idylle.

 

V.S.: Das ist typisch. Einige Male im Winter war es so kalt, dass ich leb­hafte Träume hatte. Einmal träumte ich, dass meine Beine brannten, sie glühten wie Kohle, und es war sehr schön im Traum, dabei fror ich… Und umge­kehrt, als ich im Jahre 1992 mit meiner Frau in Berlin gelebt habe, war es ein sehr heißer Sommer, unge­fähr 40 Grad. Einmal, als wir in der Nähe von der Tau­ent­zi­en­straße eine Kreu­zung über­querten, fiel meine Frau vor Hitze in Ohn­macht. Sie erträgt die Hitze nicht. Und auf dem Heimweg erzählte sie mir, dass sie in diesen Sekunden, als ich ihr half, wieder zu sich zu kommen, einen fan­tas­ti­schen Traum hatte: Sie sah sich, im Winter, in der Klei­dung des 19. Jahr­hun­derts, mit einem Pelz­muff, auf Schlitt­schuhen auf einem Eis­feld, wo Musik ertönte und schöne Men­schen Schlitt­schuh liefen. Ich erin­nere mich, dass ich sie um diesen Traum benei­dete. (lacht) Übli­cher­weise haben alle Erfrie­renden sehr schöne, far­ben­frohe Träume.

 

n.: Woher holst Du die gro­tesken traum­ar­tigen Wesen in Metel’? Erschaffst Du sie neu oder kom­po­nierst Du sie aus Bestehendem zusammen?

 

V.S.: Hinter mir die Klas­siker, erin­nert ihr euch? Ich lehne mich ein­fach an sie an, schließe die Augen und sage: Gebt mir Kraft! Nein, jetzt einmal im Ernst: Ich bin eine Art Lite­ra­tur­tier, das ständig von fremden Romanen umgeben ist. Mein Arbeits­zimmer ist aber kein Museum, wo man vor Ehr­furcht auf die Knie fallen muss, son­dern ein leben­diger Raum. Es ist wie in einer Werk­statt, wo das Werk­zeug an den Wänden hängt. Ich erneuere mein Werk­zeug stetig, über­nehme aber auch viel von den rus­si­schen Klassikern.

 

n.: Über­nehmen?

 

V.S.: Eigent­lich brauche ich gar nichts mehr zu lesen, es ist alles schon in mir drin. Ich muss mich ein­fach in einen Schrift­steller des 19. Jahr­hun­derts hin­ein­ver­setzen. Das ist das Schwie­rigste an der Sache, nicht bloß etwas zu erfinden, son­dern wirk­lich zu einer anderen Person zu werden. Wenn mir das nicht gelingt, kann ich auch nicht schreiben. Wenn es mir aber gelingt in diese lite­ra­ri­sche Haut zu schlüpfen, dann ist es wie Bobby Fischer gesagt hat: Man muss die Figuren richtig plat­zieren und der Rest kommt von allein.

 

n.: Schnee, Schnee­sturm, Tau­wetter ist im 20. Jahr­hun­dert zur poli­ti­schen Meta­pher geworden. Bei Blok deutet der Schnee­sturm auf die Revo­lu­tion hin, Zabo­lo­ckij beginnt sein Tau­wet­ter­ge­dicht mit: „Tau­wetter nach dem Schnee­sturm“, Kabakov spricht davon, dass die sowje­ti­sche Regie­rung von den Men­schen hin­ge­nommen würde wie ein Schnee­sturm. Kann man über Schnee­stürme schreiben, ohne die poli­ti­sche Meta­phorik mitzudenken?

 

V.S.: Ich stimme der Aus­sage von Kabakov voll­kommen zu. Es ist eine bekannte Meta­pher, dass das Land unter Stalin poli­tisch ein­fror und danach ein Tau­wetter ein­trat, so wie der Früh­ling, der auf den Winter folgt. Auch mein Metel’ wurde im Aus­land oft poli­tisch gelesen, beson­ders in Deutschland.Es gibt eben bestimmte Scha­blonen, die immer zum Zug kommen, wenn über Russ­land geschrieben wird. Russ­land als Land des Schre­ckens, wo alle euro­päi­schen Wert­vor­stel­lungen sterben. Mich hat das über­rascht, denn meiner Mei­nung nach geht es im Buch vor allem um die Meta­physik, um den Men­schen und um den beson­deren Raum. Man muss sich schon einige Mühe geben, um hier die Politik hineinzubringen.

 

n.: Stört Dich diese Politisierung?

 

V.S.: Natür­lich gibt es ober­fläch­liche Inter­pre­ta­tionen. Als Profi schreibe ich aber für all jene Men­schen, die nicht erst seit ges­tern lesen. Men­schen die eine echte Liebe zur Lite­ratur haben und bei denen schon ein gewisser Back­ground vor­handen ist.

 

n.: Vielen herz­li­chen Dank für das Gespräch!

 

V.S.: Ich erin­nere mich nicht, mich so lange und ernst­haft über meine Lieb­lings­sub­stanz, den Schnee, unter­halten zu haben. Danke.

 

Das Gespräch führten:

Gianna Fröli­cher, Simon Gerber, Irina Huber, Raphael Jost, Tat­jana Kel­len­berger, Tajona Kirch­gessner, Csilla Kovacs, Anna Möhl, Ilma Rakuša, Sylvia Sasse, Anita Vasić.