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Leichenberge, wohin man auch schaut

Posted on 26. Januar 2015 by Tatjana Schmalz
Viel Zeit hatte die Litauerin Dalia Grinkevičiūtė nicht, um ihre Erinnerungen an die Deportation und das Leben in der Arktis niederzuschreiben. In knappen Worten beschreibt sie den Hunger, die Kälte, ihre Hoffnungen und Ängste. Vor allem aber gibt sie eindringlich Zeugnis vom menschlichen Überlebenswillen. "Aber der Himmel – grandios", längst Pflichtlektüre an litauischen Schulen, ist im Jahr 2014 endlich auch auf Deutsch erschienen.

Ein autobiografischer Bericht von der Verbannung ans Ende der Welt

Viel Zeit hatte die Litauerin Dalia Grinkevičiūtė nicht, um ihre Erinnerungen an die Deportation und das Leben in der Arktis niederzuschreiben. In knappen Worten beschreibt sie den Hunger, die Kälte, ihre Hoffnungen und Ängste. Vor allem aber gibt sie eindringlich Zeugnis vom menschlichen Überlebenswillen. „Aber der Himmel – grandios“, längst Pflichtlektüre an litauischen Schulen, ist im Jahr 2014 endlich auch auf Deutsch erschienen.


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„Das Leben, Dalia, besteht nicht nur aus angenehmen Dingen. Das Leben ist ein Kampf. Bereite dich auf diesen Kampf vor, damit du nicht vom ersten Sturm umgeworfen wirst.“

 

An diese Worte ihres Vaters erinnert sich Dalia Grinkevičiūtė nach den beschwerlichsten Monaten ihres Lebens. Anfang der 1940er Jahre findet die Deportation zahlloser Litauer durch die Sowjetmacht statt. Ziel der Reise, die viele Opfer unter den Deportierten fordert, ist die Arktis, der äußerste Norden Russlands. Als Dalia die Arktis erreicht, ist sie 15 Jahre alt. Ihre Zeit im Gulag unterbricht sie erst 1949 im Alter von 22 Jahren durch eine kurzzeitige Flucht nach Litauen. Sie erfüllt den Wunsch ihrer kranken Mutter, die in ihrer Heimat sterben und beigesetzt werden will. Ohne Reisepässe und einen Plan erreichen sie ihr Ziel. Die Mutter stirbt und noch während Dalia sich in Litauen aufhält, schreibt sie ihre Erinnerungen an ihr erstes Jahr in der Verbannung auf vielen losen Blättern auf und verscharrt diese dann in einem Einweckglas im Garten des Elternhauses. Kurz darauf macht der KGB die Geflohene ausfindig – und schickt sie zurück in die Verbannung.

 

Erst 1991, etwa vierzig Jahre später tauchen die originalen Aufzeichnungen zufällig wieder auf. Das Grundstück hatte längst andere Besitzer und sollte zwecks Umgestaltung umgegraben werden. Da stieß man auf das schmutzige Einweckglas, dessen Inhalt zügig unter dem Titel Lietuviai prie Laptevų jūros (Litauer an der Laptewsee) veröffentlicht wurde.
Die autobiografische Erzählung über das (Über-)Leben im sowjetischen Gulag fügt sich in eine Reihe von Verbannungsberichten ein. Einer der bekanntesten ist zweifelsohne Der Archipel Gulag des Literaturnobelpreisträgers Aleksandr Solženicyn. Verbannungsberichte sind Zeugnisse der Grausamkeiten und Demütigungen, die Deportierte über Jahre und Jahrzehnte erleiden mussten. Die Autoren vereint nicht selten ihr unbezwingbarer Überlebenswille, ohne den die Nachwelt nie von ihren Leiden erfahren hätte. Doch die unter dem deutschen Titel Aber der Himmel – grandios erschienenen Aufzeichnungen schildern nicht nur den Kampf eines Mädchens um ihr Leben (vor dem ihr Vater sie einst gewarnt hatte), sondern zugleich eine Rebellion gegen zwei Gewalten, die sie um jeden Preis beugen wollen, den sowjetischen Staat und die Natur.

 

1949 befand sich die 22-jährige Dalia auf der Flucht vor dem KGB, weshalb sie ihre Erinnerungen an ihr Jahr im Gulag niederschrieb. In der Eile blieb keine Zeit für Ausschmückungen, rhetorische Mittel oder gar lange, kunstvoll verschachtelte Sätze. Die Sprache der Aufzeichnungen verharrt daher auf einem sehr einfachen, alltäglichen, manchmal sogar derben Niveau und nimmt gerade dadurch mitunter bissige Züge an. So schildert Dalia beispielsweise, wie sie gemeinsam mit Hunderten anderer Verbannter eingepfercht auf engstem Raum in einem stickigen Waggon in Richtung Russland reist: „Die Reise dehnt sich ins Unendliche. Plötzlich beherrscht mich der Wunsch, der Zug möge entgleisen und die Waggons auseinanderbrechen, damit ich endlich frische Luft bekomme. Ich werde wahnsinnig.“ Solche Einsichten in die innere, verzweifelte Welt der Deportierten, die Offenheit, mit der Dalia erzählt, machen das Werk überzeugend und lebendig.

 

Dalias Bericht stellt einen Fluss von Erinnerungen dar. Chronologisch geordnet und ohne eine künstliche Einteilung in Kapitel, ist er von Dalias Emotionen durchzogen und enthält immer wiederkehrende Erinnerungen an ihr früheres Leben in Litauen. Es sind selbstverständliche, alltägliche Dinge wie Satt-Sein, Körperpflege und saubere Kleidung, die ihr rückblickend als unerreichbarer Luxus erscheinen. Dalia und die anderen Verbannten beherrscht nur noch der Gedanke ans Essen. Es sind zwei Gewalten, die sowjetische Staatsgewalt und die Naturgewalt, die den Menschen zu einer Gratwanderung zwischen Tier-Sein und Tot-Sein zwingen. Alle fühlen sich zu Tieren degradiert, sind befallen von Läusen und verdammt dazu, die immer gleiche nach Schweiß und Exkrementen stinkende Kleidung am Leib zu tragen. Ausnahmslos alle leiden an Schmerzen und oft qualvollen Krankheiten. Um in der klirrenden Kälte eine kleine Überlebenschance zu haben, stehlen die Bewohner der selbstgebauten ärmlichen Baracken Feuerholz für die winzigen Öfen. Wer keine Kraft für den Überlebenskampf hat, stirbt, und zwar oft unbemerkt oder unbeachtet. Trotz des Elends, das sie umgibt, realisiert Dalia in einem Moment der Nachdenklichkeit die tanzenden Nordlichter am nachtdunklen Himmel. „Aber der Himmel – grandios“, denkt sie.

 

Dieser Schlüsselmoment in dem autobiografischen Text steht für den starken Überlebenswillen, den diese junge Frau in sich trägt. Dalia ist längst kein Kind mehr, sondern eine starke, selbstsichere Rebellin. Selbst im Angesicht des möglichen Todes bewahrt sie ihren Willen, ihre Kraft und ihre menschliche Würde, indem sie das „Tier“ besiegt, den Zustand der anima, nur noch atmendes und essendes Lebewesen zu sein, welcher Besitz von ihr ergreifen will. Reste von vorhandener Menschlichkeit und von Hoffnung blitzen immer wieder auf. Das geht nicht nur Dalia so, sondern auch anderen Verbannten, zumeist, wenn Musik erklingt oder Gesang angestimmt wird.

 

Dalia Grinkevičiūtės Aufzeichnungen enden mit dem Beginn des zweimonatigen Sommers im Jahre 1943. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 16 Jahre alt. Sie verbringt weitere Jahre im Gulag, schafft kurzzeitig die Flucht nach Litauen und wird erneut verschickt. In ihr altes Leben sollte sie nie wieder zurückkehren.

 

Grinkevičiūtė, Dalia: Aber der Himmel – grandios. Aus dem Litauischen von Vytenė Muschick. Berlin: Matthes & Seitz 2014.
Grinkevičiūtė, Dalia: Lietuviai prie Laptevᶙ jūros. Vilnius: Lietuvos rašytojų sąjungos leidykla 2005.

Leichenberge, wohin man auch schaut - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Lei­chen­berge, wohin man auch schaut

Ein auto­bio­gra­fi­scher Bericht von der Ver­ban­nung ans Ende der Welt

Viel Zeit hatte die Litauerin Dalia Grin­ke­vičiūtė nicht, um ihre Erin­ne­rungen an die Depor­ta­tion und das Leben in der Arktis nie­der­zu­schreiben. In knappen Worten beschreibt sie den Hunger, die Kälte, ihre Hoff­nungen und Ängste. Vor allem aber gibt sie ein­dring­lich Zeugnis vom mensch­li­chen Über­le­bens­willen. „Aber der Himmel – gran­dios“, längst Pflicht­lek­türe an litaui­schen Schulen, ist im Jahr 2014 end­lich auch auf Deutsch erschienen.


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„Das Leben, Dalia, besteht nicht nur aus ange­nehmen Dingen. Das Leben ist ein Kampf. Bereite dich auf diesen Kampf vor, damit du nicht vom ersten Sturm umge­worfen wirst.“

 

An diese Worte ihres Vaters erin­nert sich Dalia Grin­ke­vičiūtė nach den beschwer­lichsten Monaten ihres Lebens. Anfang der 1940er Jahre findet die Depor­ta­tion zahl­loser Litauer durch die Sowjet­macht statt. Ziel der Reise, die viele Opfer unter den Depor­tierten for­dert, ist die Arktis, der äußerste Norden Russ­lands. Als Dalia die Arktis erreicht, ist sie 15 Jahre alt. Ihre Zeit im Gulag unter­bricht sie erst 1949 im Alter von 22 Jahren durch eine kurz­zei­tige Flucht nach Litauen. Sie erfüllt den Wunsch ihrer kranken Mutter, die in ihrer Heimat sterben und bei­gesetzt werden will. Ohne Rei­se­pässe und einen Plan errei­chen sie ihr Ziel. Die Mutter stirbt und noch wäh­rend Dalia sich in Litauen auf­hält, schreibt sie ihre Erin­ne­rungen an ihr erstes Jahr in der Ver­ban­nung auf vielen losen Blät­tern auf und ver­scharrt diese dann in einem Ein­weck­glas im Garten des Eltern­hauses. Kurz darauf macht der KGB die Geflo­hene aus­findig – und schickt sie zurück in die Verbannung.

 

Erst 1991, etwa vierzig Jahre später tau­chen die ori­gi­nalen Auf­zeich­nungen zufällig wieder auf. Das Grund­stück hatte längst andere Besitzer und sollte zwecks Umge­stal­tung umge­graben werden. Da stieß man auf das schmut­zige Ein­weck­glas, dessen Inhalt zügig unter dem Titel Lie­tu­viai prie Laptevų jūros (Litauer an der Lap­tewsee) ver­öf­fent­licht wurde.
Die auto­bio­gra­fi­sche Erzäh­lung über das (Über-)Leben im sowje­ti­schen Gulag fügt sich in eine Reihe von Ver­ban­nungs­be­richten ein. Einer der bekann­testen ist zwei­fels­ohne Der Archipel Gulag des Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gers Alek­sandr Solže­nicyn. Ver­ban­nungs­be­richte sind Zeug­nisse der Grau­sam­keiten und Demü­ti­gungen, die Depor­tierte über Jahre und Jahr­zehnte erleiden mussten. Die Autoren ver­eint nicht selten ihr unbe­zwing­barer Über­le­bens­wille, ohne den die Nach­welt nie von ihren Leiden erfahren hätte. Doch die unter dem deut­schen Titel Aber der Himmel – gran­dios erschie­nenen Auf­zeich­nungen schil­dern nicht nur den Kampf eines Mäd­chens um ihr Leben (vor dem ihr Vater sie einst gewarnt hatte), son­dern zugleich eine Rebel­lion gegen zwei Gewalten, die sie um jeden Preis beugen wollen, den sowje­ti­schen Staat und die Natur.

 

1949 befand sich die 22-jäh­rige Dalia auf der Flucht vor dem KGB, wes­halb sie ihre Erin­ne­rungen an ihr Jahr im Gulag nie­der­schrieb. In der Eile blieb keine Zeit für Aus­schmü­ckungen, rhe­to­ri­sche Mittel oder gar lange, kunst­voll ver­schach­telte Sätze. Die Sprache der Auf­zeich­nungen ver­harrt daher auf einem sehr ein­fa­chen, all­täg­li­chen, manchmal sogar derben Niveau und nimmt gerade dadurch mit­unter bis­sige Züge an. So schil­dert Dalia bei­spiels­weise, wie sie gemeinsam mit Hun­derten anderer Ver­bannter ein­ge­pfercht auf engstem Raum in einem sti­ckigen Waggon in Rich­tung Russ­land reist: „Die Reise dehnt sich ins Unend­liche. Plötz­lich beherrscht mich der Wunsch, der Zug möge ent­gleisen und die Wag­gons aus­ein­an­der­bre­chen, damit ich end­lich fri­sche Luft bekomme. Ich werde wahn­sinnig.“ Solche Ein­sichten in die innere, ver­zwei­felte Welt der Depor­tierten, die Offen­heit, mit der Dalia erzählt, machen das Werk über­zeu­gend und lebendig.

 

Dalias Bericht stellt einen Fluss von Erin­ne­rungen dar. Chro­no­lo­gisch geordnet und ohne eine künst­liche Ein­tei­lung in Kapitel, ist er von Dalias Emo­tionen durch­zogen und ent­hält immer wie­der­keh­rende Erin­ne­rungen an ihr frü­heres Leben in Litauen. Es sind selbst­ver­ständ­liche, all­täg­liche Dinge wie Satt-Sein, Kör­per­pflege und sau­bere Klei­dung, die ihr rück­bli­ckend als uner­reich­barer Luxus erscheinen. Dalia und die anderen Ver­bannten beherrscht nur noch der Gedanke ans Essen. Es sind zwei Gewalten, die sowje­ti­sche Staats­ge­walt und die Natur­ge­walt, die den Men­schen zu einer Grat­wan­de­rung zwi­schen Tier-Sein und Tot-Sein zwingen. Alle fühlen sich zu Tieren degra­diert, sind befallen von Läusen und ver­dammt dazu, die immer gleiche nach Schweiß und Exkre­menten stin­kende Klei­dung am Leib zu tragen. Aus­nahmslos alle leiden an Schmerzen und oft qual­vollen Krank­heiten. Um in der klir­renden Kälte eine kleine Über­le­bens­chance zu haben, stehlen die Bewohner der selbst­ge­bauten ärm­li­chen Bara­cken Feu­er­holz für die win­zigen Öfen. Wer keine Kraft für den Über­le­bens­kampf hat, stirbt, und zwar oft unbe­merkt oder unbe­achtet. Trotz des Elends, das sie umgibt, rea­li­siert Dalia in einem Moment der Nach­denk­lich­keit die tan­zenden Nord­lichter am nacht­dunklen Himmel. „Aber der Himmel – gran­dios“, denkt sie.

 

Dieser Schlüs­sel­mo­ment in dem auto­bio­gra­fi­schen Text steht für den starken Über­le­bens­willen, den diese junge Frau in sich trägt. Dalia ist längst kein Kind mehr, son­dern eine starke, selbst­si­chere Rebellin. Selbst im Ange­sicht des mög­li­chen Todes bewahrt sie ihren Willen, ihre Kraft und ihre mensch­liche Würde, indem sie das „Tier“ besiegt, den Zustand der anima, nur noch atmendes und essendes Lebe­wesen zu sein, wel­cher Besitz von ihr ergreifen will. Reste von vor­han­dener Mensch­lich­keit und von Hoff­nung blitzen immer wieder auf. Das geht nicht nur Dalia so, son­dern auch anderen Ver­bannten, zumeist, wenn Musik erklingt oder Gesang ange­stimmt wird.

 

Dalia Grin­ke­vičiūtės Auf­zeich­nungen enden mit dem Beginn des zwei­mo­na­tigen Som­mers im Jahre 1943. Zu diesem Zeit­punkt ist sie 16 Jahre alt. Sie ver­bringt wei­tere Jahre im Gulag, schafft kurz­zeitig die Flucht nach Litauen und wird erneut ver­schickt. In ihr altes Leben sollte sie nie wieder zurückkehren.

 

Grin­ke­vičiūtė, Dalia: Aber der Himmel – gran­dios. Aus dem Litaui­schen von Vytenė Muschick. Berlin: Matthes & Seitz 2014.
Grin­ke­vičiūtė, Dalia: Lie­tu­viai prie Laptevᶙ jūros. Vil­nius: Lie­tuvos rašy­tojų sąjungos lei­dykla 2005.