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„Und dann vergiftet mein violettes Blut die Menschheit mit heroischem Blödsinn!“

Posted on 31. August 2017 by Tatjana Schmalz
In ihrem leicht daherkommenden neuen Roman erzählt Julia Kissina mit selbstironischem Pathos von den Erfahrungen der romantisch komplizierten, jungen Elephantina aus Kiev in der Künstlerbohème des Moskauer Underground der 1980er Jahre. Er lässt sich auch als Schlüsselroman lesen.

In ihrem leicht daherkommenden neuen Roman erzählt Julia Kissina mit selbstironischem Pathos von den Erfahrungen der romantisch komplizierten, jungen Elephantina aus Kiev in der Künstlerbohème des Moskauer Underground der 1980er Jahre. Er lässt sich auch als Schlüsselroman lesen.

 

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Eine sowjetische Lady Gaga?

Aufsehenerregend und unvergessen ist das Fleischkleid, das Lady Gaga bei den MTV Video Music Awards 2010 in Los Angeles trug. Ihr Auftritt war ein fleischgewordener Einsatz für Menschenrechte: „If we don’t stand up for what we believe in and if we don’t fight for our rights, pretty soon we’re going to have as much rights as the meat on our bones.” Ein sinnverwandtes Bild lieferte die russische Künstlerin Julia Kissina schon 1997/98 mit ihrem Fotoprojekt Fairies. Darin verhüllt sie das Haupthaar weiblicher Modelle mit rohem Fleisch, um gängige Schönheitsideale unserer Gesellschaft zu kritisieren. In ihrer Thematisierung von Geschlechterrollen und Körperlichkeit bezieht sich Kissinas Konzeptkunst intertextuell auf das Werk der berühmten Fotokünstlerin Cindy Sherman.

Auf Fleischlichkeit reduzierte Frauenbilder sind für Julia Kissina noch fast zwanzig Jahre später von ungebrochener Aktualität, so auch in ihrem 2016 erschienenen autobiografischen Roman Elephantinas Moskauer Jahre. Darin benennt sie die Geburt der Popikone Lady Gaga als eines der prägenden zeitgeschichtlichen Ereignisse des Jahres 1986, und stellt so eine Assoziation zwischen drei exzentrischen Künstlerinnen unterschiedlicher Epochen und Nationalitäten her: Lady Gaga, Julia Kissina und Kissinas Alter Ego Elephantina. Die jugendliche Romanheldin und Nachwuchsdichterin mit dem Künstlernamen Elephantina setzt sich bereits im Moskauer Underground der 1980er Jahre mit zwischenmenschlichen Hierarchien und Geschlechterrollen auseinander.

 

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Fotos aus: Julia Kissina, Fairies (1997/98)

 

Von Luft und Liebe allein kann man durchaus leben

Nonnenhafte Kleidung, beharrliche Jungfräulichkeit und Verzicht auf Alkoholkonsum – Elephantinas asketische Lebensführung stellt für ihre Aufnahme in die männlich dominierte, sexuell enthemmte und alkoholgetränkte Moskauer Künstlerszene ein elefantengroßes Hindernis dar. Selbst ihre platonische Liebe zum aufstrebenden Dichter Andrjuša bleibt unerwidert. Da sein Gesicht vom jahrelangen exzessiven Alkoholkonsum Farbe und Form einer Tomate angenommen hat, gibt Elephantina, die ihm in der Hoffnung auf literarische Inspiration nach Moskau folgt, insgeheim den liebevollen Spitznamen „Tomaten-Guru“. Die Moskauer Künstlerszene wird aus der Perspektive einer „zarten Kiever Provinzschönheit“ geschildert, die in der Großstadt zunehmend Künstler-Allüren entwickelt und die Höhen und Tiefen einer ersten Liebe erlebt.

Diesen Weg ist die Autorin Julia Kissina tatsächlich gegangen, den Figuren und der Handlung ihres autobiografischen Romans liegen reale Personen und Ereignisse zugrunde. So verbirgt sich hinter der Figur Andrjuša der metarealistische Lyriker Aleksej Parščikov, der Kopf einer mit den Konzeptualisten konkurrierenden Gruppierung. In einem Interview erklärt Kissina, dass sie ihren Roman nicht veröffentlicht hätte, wenn er noch am Leben wäre. Auch andere Verstorbene sind im Roman verewigt, wie etwa der Literaturwissenschaftler Viktor Šklovskij. Dass Kissina ihn mit Bekannten kurz vor seinem damals schon absehbaren Tod besucht hat, belegt ein Foto aus dem Privatbesitz der Künstlerin. Andere Begegnungen, wie etwa die Dichterlesung mit dem US-Amerikaner Allen Ginsberg, werden überwiegend durch mündliche Zeugnisse ehemaliger Teilnehmer verbürgt. Somit kann Kissinas Buch von Zeitzeugen und Eingeweihten als Schlüsselroman für den Moskauer Underground der 1980er Jahre gelesen werden. Der Roman besitzt die nur auf den ersten Blick exkludierende Dimension des Insider-Wissens, das bei erfolgreicher Dechiffrierung von Pseudonymen eine nostalgische Lesereise erlaubt. Die Stärke des Romans liegt jedoch darin, dass man ihn auch ohne jegliches Vorwissen und nostalgische Empfindungen lesen kann.

Die seltenen und unschuldigen Zusammenkünfte mit dem gönnerhaft-herablassenden „Tomaten-Guru“ sind Elephantina jede Mühe wert. Für eine Aufenthaltsgenehmigung in der Stadt studiert sie, ihren immensen Widerwillen überwindend, Bühnenbildnerei und Theatertechnik und schließt später eine Scheinehe mit einem Moskauer Bekannten. Für ein Leben als freie Künstlerin ohne familiäre Bevormundung zieht sie auf der Suche nach einem Obdach bis in die Vororte der Stadt zu flüchtigen und flüchtigsten Bekannten. Ihr einziger permanenter Besitz, den die abgemagerte Elephantina auf ihrem Weg durch die sowjetische Hauptstadt stets bei sich trägt, ist eine wuchtige Schreibmaschine. Auf ihr schreibt sie ihr erstes literarisches Werk: Die sieben Stufen des Todes, dessen Titel nicht nur auf den „Geisterseher“ Emanuel Swedenborg und auf Julian Semjonovs Roman Siebzehn Augenblicke des Frühlings anspielt, sondern auch ein Akronym beinhaltet: SSSR (dt. UdSSR) ergibt sich aus den Anfangsbuchstaben des Originaltitels Sem‘ stupenej smerti. Die gegenläufige Korrelation von körperlichem sowie geistigem Reifungsprozess und staatlichem Zerfall hält Elephantina pointiert fest: „Während das Land zerfiel, wurden wir erwachsen“. So besitzt Julia Kissinas Buch ferner die Qualität eines coming-of-age-Romans mit folkloristischen Elementen. Denn eine entbehrungsreiche Reise und der für die Initiation notwendige symbolische Tod sind Bestandteile von Volksmärchen, deren Helden jedoch meist männlichen Geschlechts sind.

 

Sprachspielereien und kindliche Albernheiten

Formal und inhaltlich finden sich im Text nicht sieben, sondern gar vierzehn Stufen des Todes. Es sind nämlich genau 14 von insgesamt 41 Kapiteln, die zu Beginn das Zeitgeschehen der fortschreitenden 1980er Jahre in Form überwiegend katastrophischer Schlagzeilen festhalten. Prozesse wie der internationale Terrorismus und die Perestrojka werden im Moskauer Underground weitestgehend ausgeblendet und haben kaum Einfluss auf Elephantinas individuelles Schicksal. Nur einmal erhält sie eine Vorladung zum KGB, nachdem ihre Zeichnungen bei einem in Moskau ermordeten und zerhackten Pariser Kunst- und Autohändler gefunden wurden. Ansonsten bestreitet sie ihr Leben und das Hochschulstudium mit der Leichtigkeit eines Elefanten im Porzellanladen. Mit selbstironischem Pathos schildert sie, wie sie für die Befreiung vom verhassten Unterricht allerlei Lasten auf sich nimmt, darunter auch eine Blutspende: „Endlich wurde ich aufgerufen. Ich hielt meine Vene hin und überließ mich angenehmen Träumen. Ich dachte, jetzt verbreitet sich mein violettes Blut durch unzählige Adern und vergiftet die Menschheit mit heroischem Blödsinn. Die Krankenschwester drückte eine Fontäne aus der Kanüle, ich spürte einen Stich im Arm, und dann ‚hing ich an der Nadel.‘“ In ihrem zynischen Hass auf die allmächtigen Hochschullehrer wähnt sich die einsame Elephantina als neuer Prometheus: „Hier, im Kreise der Dämonen, war niemand in der Lage, mir zu helfen. Man hackte mir in die Leber, riss ganze Fleischstücke aus mir heraus, brandmarkte mich mit Stumpfsinn und Gleichgültigkeit“.

Die intelligenten Anspielungen auf die klassische Mythologie bestechen bei der Lektüre ebenso wie die von anatomischen Bildern und Metaphern durchwachsene Sprache. Humorvoll und stilistisch ansprechend vermengen sich Hochsprache und jugendlicher Soziolekt, sowohl im russischen Original als auch in der deutschen Übersetzung von Ingolf Hoppmann und Olga Kouvchinnikova. Beim direkten Vergleich beider Fassungen finden sich in der Übersetzung jedoch gelegentliche Aussparungen, von denen eine sogar die psychoanalytische Lesart des Romans verschleiert. Darin bekennt Elephantina sich offen zu ihrer Enthaltsamkeit: „Zweifellos hatte meine Keuschheit etwas Abscheuliches und Widernatürliches. Sie war das Resultat asiatischer Bigotterie“. „… i zatjanuvšejsja anal’noj fazy“ – „sowie einer verschleppten analen Phase“, ergänzt da der russische Text. Hier wird das vierstufige Entwicklungsmodell der kindlichen Sexualität auf die Szene sowjetischer Nachwuchskünstler übertragen. Denn während die Verteidigung ihrer Jungfräulichkeit bei Elephantina durchaus als Zeichen einer verschleppten analen Phase verstanden werden kann, sind die deutlich narzisstischen und exhibitionistischen Züge von „Tomaten-Guru“ Andrjuša Symptome der phallischen Phase. So fordert die durchgehende Thematisierung von Fleischlichkeit neben einer feministischen auch eine psychoanalytische Lesart des Texts.

 

Was die Zukunft bereithält

Ungeachtet der unzähligen Stolpersteine arbeitet die exzentrische Elephantina auf ein klares Ziel hin, das sich zu einer romantischen Obsession entwickelt: sie möchte „postmortal“ Künstler werden. Dass sie jedoch schon zu Lebzeiten als erfolgreiche Künstlerin bekannt wurde, könnte durchaus Teil des Nachfolgewerks werden. Kissina, die unmittelbar nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung in München studiert hat, hat in der globalen Szene der performativen Foto-Kunst fast schon jenen Ikonenstatus erreicht, den Lady Gaga in der Populärkultur innehat. Denn nach den Kindheitserinnerungen in Frühling auf dem Mond ist Elephantinas Moskauer Jahre der bislang zweite autobiografische Prosaband von Julia Kissinas Trilogie. Ob im dritten Band neben Details zu Kissinas beeindruckendem Werdegang womöglich auch die Entstehung des Fleisch-Fotoprojekts Fairies thematisiert werden wird, bleibt abzuwarten.

 

Kissina, Julia: Elephantinas Moskauer Jahre. Aus dem Russischen von Ingolf Hoppmann und Olga Kouvchinnikova. Berlin: Suhrkamp, 2016.
Kisina, Julija: Ėlefantina, ili Korablekrušencija Dostoevceva. In: Zvezda 2015/3.

 

Weiterführende Links:

Fotostory zu Elephantinas Moskauer Jahre beim Suhrkamp Verlag

Interview mit Julia Kissina zu Elephantinas Moskauer Jahre im Onlinemagazin Aviva vom 05.06.2016

Russischsprachige Website zum Gedenken an den verstorbenen Poeten Alexej Parščikov.

Weitere Bilder aus Julia Kissinas Fotoprojekt Fairies, veröffentlicht auf collabcubed.com

„Und dann vergiftet mein violettes Blut die Menschheit mit heroischem Blödsinn!“ - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Und dann ver­giftet mein vio­lettes Blut die Mensch­heit mit heroi­schem Blödsinn!“

In ihrem leicht daher­kom­menden neuen Roman erzählt Julia Kis­sina mit selbst­iro­ni­schem Pathos von den Erfah­rungen der roman­tisch kom­pli­zierten, jungen Ele­phan­tina aus Kiev in der Künst­ler­bo­hème des Mos­kauer Under­ground der 1980er Jahre. Er lässt sich auch als Schlüs­sel­roman lesen.

 

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Eine sowje­ti­sche Lady Gaga?

Auf­se­hen­er­re­gend und unver­gessen ist das Fleisch­kleid, das Lady Gaga bei den MTV Video Music Awards 2010 in Los Angeles trug. Ihr Auf­tritt war ein fleisch­ge­wor­dener Ein­satz für Men­schen­rechte: „If we don’t stand up for what we believe in and if we don’t fight for our rights, pretty soon we’re going to have as much rights as the meat on our bones.” Ein sinn­ver­wandtes Bild lie­ferte die rus­si­sche Künst­lerin Julia Kis­sina schon 1997/98 mit ihrem Foto­pro­jekt Fai­ries. Darin ver­hüllt sie das Haupt­haar weib­li­cher Modelle mit rohem Fleisch, um gän­gige Schön­heits­ideale unserer Gesell­schaft zu kri­ti­sieren. In ihrer The­ma­ti­sie­rung von Geschlech­ter­rollen und Kör­per­lich­keit bezieht sich Kis­sinas Kon­zept­kunst inter­tex­tuell auf das Werk der berühmten Foto­künst­lerin Cindy Sherman.

Auf Fleisch­lich­keit redu­zierte Frau­en­bilder sind für Julia Kis­sina noch fast zwanzig Jahre später von unge­bro­chener Aktua­lität, so auch in ihrem 2016 erschie­nenen auto­bio­gra­fi­schen Roman Ele­phan­tinas Mos­kauer Jahre. Darin benennt sie die Geburt der Pop­ikone Lady Gaga als eines der prä­genden zeit­ge­schicht­li­chen Ereig­nisse des Jahres 1986, und stellt so eine Asso­zia­tion zwi­schen drei exzen­tri­schen Künst­le­rinnen unter­schied­li­cher Epo­chen und Natio­na­li­täten her: Lady Gaga, Julia Kis­sina und Kis­sinas Alter Ego Ele­phan­tina. Die jugend­liche Roman­heldin und Nach­wuchs­dich­terin mit dem Künst­ler­namen Ele­phan­tina setzt sich bereits im Mos­kauer Under­ground der 1980er Jahre mit zwi­schen­mensch­li­chen Hier­ar­chien und Geschlech­ter­rollen auseinander.

 

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Fotos aus: Julia Kis­sina, Fai­ries (1997/98)

 

Von Luft und Liebe allein kann man durchaus leben

Non­nen­hafte Klei­dung, beharr­liche Jung­fräu­lich­keit und Ver­zicht auf Alko­hol­konsum – Ele­phan­tinas aske­ti­sche Lebens­füh­rung stellt für ihre Auf­nahme in die männ­lich domi­nierte, sexuell ent­hemmte und alko­hol­ge­tränkte Mos­kauer Künst­ler­szene ein ele­fan­ten­großes Hin­dernis dar. Selbst ihre pla­to­ni­sche Liebe zum auf­stre­benden Dichter Andrjuša bleibt uner­wi­dert. Da sein Gesicht vom jah­re­langen exzes­siven Alko­hol­konsum Farbe und Form einer Tomate ange­nommen hat, gibt Ele­phan­tina, die ihm in der Hoff­nung auf lite­ra­ri­sche Inspi­ra­tion nach Moskau folgt, ins­ge­heim den lie­be­vollen Spitz­namen „Tomaten-Guru“. Die Mos­kauer Künst­ler­szene wird aus der Per­spek­tive einer „zarten Kiever Pro­vin­zschön­heit“ geschil­dert, die in der Groß­stadt zuneh­mend Künstler-Allüren ent­wi­ckelt und die Höhen und Tiefen einer ersten Liebe erlebt.

Diesen Weg ist die Autorin Julia Kis­sina tat­säch­lich gegangen, den Figuren und der Hand­lung ihres auto­bio­gra­fi­schen Romans liegen reale Per­sonen und Ereig­nisse zugrunde. So ver­birgt sich hinter der Figur Andrjuša der met­area­lis­ti­sche Lyriker Aleksej Parščikov, der Kopf einer mit den Kon­zep­tua­listen kon­kur­rie­renden Grup­pie­rung. In einem Inter­view erklärt Kis­sina, dass sie ihren Roman nicht ver­öf­fent­licht hätte, wenn er noch am Leben wäre. Auch andere Ver­stor­bene sind im Roman ver­ewigt, wie etwa der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Viktor Šklovskij. Dass Kis­sina ihn mit Bekannten kurz vor seinem damals schon abseh­baren Tod besucht hat, belegt ein Foto aus dem Pri­vat­be­sitz der Künst­lerin. Andere Begeg­nungen, wie etwa die Dich­ter­le­sung mit dem US-Ame­ri­kaner Allen Gins­berg, werden über­wie­gend durch münd­liche Zeug­nisse ehe­ma­liger Teil­nehmer ver­bürgt. Somit kann Kis­sinas Buch von Zeit­zeugen und Ein­ge­weihten als Schlüs­sel­roman für den Mos­kauer Under­ground der 1980er Jahre gelesen werden. Der Roman besitzt die nur auf den ersten Blick exklu­die­rende Dimen­sion des Insider-Wis­sens, das bei erfolg­rei­cher Dechif­frie­rung von Pseud­onymen eine nost­al­gi­sche Lese­reise erlaubt. Die Stärke des Romans liegt jedoch darin, dass man ihn auch ohne jeg­li­ches Vor­wissen und nost­al­gi­sche Emp­fin­dungen lesen kann.

Die sel­tenen und unschul­digen Zusam­men­künfte mit dem gön­ner­haft-her­ab­las­senden „Tomaten-Guru“ sind Ele­phan­tina jede Mühe wert. Für eine Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung in der Stadt stu­diert sie, ihren immensen Wider­willen über­win­dend, Büh­nen­bild­nerei und Thea­ter­technik und schließt später eine Scheinehe mit einem Mos­kauer Bekannten. Für ein Leben als freie Künst­lerin ohne fami­liäre Bevor­mun­dung zieht sie auf der Suche nach einem Obdach bis in die Vor­orte der Stadt zu flüch­tigen und flüch­tigsten Bekannten. Ihr ein­ziger per­ma­nenter Besitz, den die abge­ma­gerte Ele­phan­tina auf ihrem Weg durch die sowje­ti­sche Haupt­stadt stets bei sich trägt, ist eine wuch­tige Schreib­ma­schine. Auf ihr schreibt sie ihr erstes lite­ra­ri­sches Werk: Die sieben Stufen des Todes, dessen Titel nicht nur auf den „Geis­ter­seher“ Ema­nuel Swe­den­borg und auf Julian Sem­jo­novs Roman Sieb­zehn Augen­blicke des Früh­lings anspielt, son­dern auch ein Akronym beinhaltet: SSSR (dt. UdSSR) ergibt sich aus den Anfangs­buch­staben des Ori­gi­nal­ti­tels Sem‘ stu­penej smerti. Die gegen­läu­fige Kor­re­la­tion von kör­per­li­chem sowie geis­tigem Rei­fungs­pro­zess und staat­li­chem Zer­fall hält Ele­phan­tina poin­tiert fest: „Wäh­rend das Land zer­fiel, wurden wir erwachsen“. So besitzt Julia Kis­sinas Buch ferner die Qua­lität eines coming-of-age-Romans mit folk­lo­ris­ti­schen Ele­menten. Denn eine ent­beh­rungs­reiche Reise und der für die Initia­tion not­wen­dige sym­bo­li­sche Tod sind Bestand­teile von Volks­mär­chen, deren Helden jedoch meist männ­li­chen Geschlechts sind.

 

Sprach­spie­le­reien und kind­liche Albernheiten

Formal und inhalt­lich finden sich im Text nicht sieben, son­dern gar vier­zehn Stufen des Todes. Es sind näm­lich genau 14 von ins­ge­samt 41 Kapi­teln, die zu Beginn das Zeit­ge­schehen der fort­schrei­tenden 1980er Jahre in Form über­wie­gend kata­stro­phi­scher Schlag­zeilen fest­halten. Pro­zesse wie der inter­na­tio­nale Ter­ro­rismus und die Pere­strojka werden im Mos­kauer Under­ground wei­test­ge­hend aus­ge­blendet und haben kaum Ein­fluss auf Ele­phan­tinas indi­vi­du­elles Schicksal. Nur einmal erhält sie eine Vor­la­dung zum KGB, nachdem ihre Zeich­nungen bei einem in Moskau ermor­deten und zer­hackten Pariser Kunst- und Auto­händler gefunden wurden. Ansonsten bestreitet sie ihr Leben und das Hoch­schul­stu­dium mit der Leich­tig­keit eines Ele­fanten im Por­zel­lan­laden. Mit selbst­iro­ni­schem Pathos schil­dert sie, wie sie für die Befreiung vom ver­hassten Unter­richt allerlei Lasten auf sich nimmt, dar­unter auch eine Blut­spende: „End­lich wurde ich auf­ge­rufen. Ich hielt meine Vene hin und über­ließ mich ange­nehmen Träumen. Ich dachte, jetzt ver­breitet sich mein vio­lettes Blut durch unzäh­lige Adern und ver­giftet die Mensch­heit mit heroi­schem Blöd­sinn. Die Kran­ken­schwester drückte eine Fon­täne aus der Kanüle, ich spürte einen Stich im Arm, und dann ‚hing ich an der Nadel.‘“ In ihrem zyni­schen Hass auf die all­mäch­tigen Hoch­schul­lehrer wähnt sich die ein­same Ele­phan­tina als neuer Pro­me­theus: „Hier, im Kreise der Dämonen, war nie­mand in der Lage, mir zu helfen. Man hackte mir in die Leber, riss ganze Fleisch­stücke aus mir heraus, brand­markte mich mit Stumpf­sinn und Gleichgültigkeit“.

Die intel­li­genten Anspie­lungen auf die klas­si­sche Mytho­logie bestechen bei der Lek­türe ebenso wie die von ana­to­mi­schen Bil­dern und Meta­phern durch­wach­sene Sprache. Humor­voll und sti­lis­tisch anspre­chend ver­mengen sich Hoch­sprache und jugend­li­cher Sozio­lekt, sowohl im rus­si­schen Ori­ginal als auch in der deut­schen Über­set­zung von Ingolf Hopp­mann und Olga Kouv­chin­ni­kova. Beim direkten Ver­gleich beider Fas­sungen finden sich in der Über­set­zung jedoch gele­gent­liche Aus­spa­rungen, von denen eine sogar die psy­cho­ana­ly­ti­sche Lesart des Romans ver­schleiert. Darin bekennt Ele­phan­tina sich offen zu ihrer Ent­halt­sam­keit: „Zwei­fellos hatte meine Keusch­heit etwas Abscheu­li­ches und Wider­na­tür­li­ches. Sie war das Resultat asia­ti­scher Bigot­terie“. „… i zat­ja­nu­vše­jsja anal’noj fazy“ – „sowie einer ver­schleppten analen Phase“, ergänzt da der rus­si­sche Text. Hier wird das vier­stu­fige Ent­wick­lungs­mo­dell der kind­li­chen Sexua­lität auf die Szene sowje­ti­scher Nach­wuchs­künstler über­tragen. Denn wäh­rend die Ver­tei­di­gung ihrer Jung­fräu­lich­keit bei Ele­phan­tina durchaus als Zei­chen einer ver­schleppten analen Phase ver­standen werden kann, sind die deut­lich nar­ziss­ti­schen und exhi­bi­tio­nis­ti­schen Züge von „Tomaten-Guru“ Andrjuša Sym­ptome der phal­li­schen Phase. So for­dert die durch­ge­hende The­ma­ti­sie­rung von Fleisch­lich­keit neben einer femi­nis­ti­schen auch eine psy­cho­ana­ly­ti­sche Lesart des Texts.

 

Was die Zukunft bereithält

Unge­achtet der unzäh­ligen Stol­per­steine arbeitet die exzen­tri­sche Ele­phan­tina auf ein klares Ziel hin, das sich zu einer roman­ti­schen Obses­sion ent­wi­ckelt: sie möchte „post­mortal“ Künstler werden. Dass sie jedoch schon zu Leb­zeiten als erfolg­reiche Künst­lerin bekannt wurde, könnte durchaus Teil des Nach­fol­ge­werks werden. Kis­sina, die unmit­telbar nach der deutsch-deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung in Mün­chen stu­diert hat, hat in der glo­balen Szene der per­for­ma­tiven Foto-Kunst fast schon jenen Iko­nen­status erreicht, den Lady Gaga in der Popu­lär­kultur innehat. Denn nach den Kind­heits­er­in­ne­rungen in Früh­ling auf dem Mond ist Ele­phan­tinas Mos­kauer Jahre der bis­lang zweite auto­bio­gra­fi­sche Pro­sa­band von Julia Kis­sinas Tri­logie. Ob im dritten Band neben Details zu Kis­sinas beein­dru­ckendem Wer­de­gang womög­lich auch die Ent­ste­hung des Fleisch-Foto­pro­jekts Fai­ries the­ma­ti­siert werden wird, bleibt abzuwarten.

 

Kis­sina, Julia: Ele­phan­tinas Mos­kauer Jahre. Aus dem Rus­si­schen von Ingolf Hopp­mann und Olga Kouv­chin­ni­kova. Berlin: Suhr­kamp, 2016.
Kisina, Julija: Ėle­fan­tina, ili Korab­le­krušen­cija Dostoev­ceva. In: Zvezda 2015/3.

 

Wei­ter­füh­rende Links:

Foto­story zu Ele­phan­tinas Mos­kauer Jahre beim Suhr­kamp Verlag

Inter­view mit Julia Kis­sina zu Ele­phan­tinas Mos­kauer Jahre im Online­ma­gazin Aviva vom 05.06.2016

Rus­sisch­spra­chige Web­site zum Gedenken an den ver­stor­benen Poeten Alexej Parščikov.

Wei­tere Bilder aus Julia Kis­sinas Foto­pro­jekt Fai­ries, ver­öf­fent­licht auf collabcubed.com