Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Die Zahl Zwei und das situa­tive Poten­tial ihrer Menschlichkeit

Ein Gespräch mit der Schrift­stel­lerin und Phi­lo­so­phin Keti Chukhrov

 

Keti Chukhrov kom­bi­niert in ihren Texten sprach­liche Ready-mades aus dem post­so­wje­ti­schen Alltag mit Erin­ne­rungen an nun­mehr ver­blasste Ver­spre­chen eines bes­seren Lebens, wie sie in der klas­si­schen Avant­garde for­mu­liert worden sind. Pre­käre Aus­tra­gungs­orte dieser Ver­men­gung sind für die Schrift­stel­lerin und Phi­lo­so­phin Kunst und Kultur. Gerade die Frage nach der Mög­lich­keit kul­tu­reller Par­ti­zi­pa­tion ent­scheidet für sie dar­über, ob – und wenn ja, wie – Kunst heute Teil unseres Lebens sein könnte. Dabei ver­meidet sie es aber, diese Frage zu Gunsten nur einer Seite zu ent­scheiden. Weder ver­sucht sie, eine alte Wir­kungs­äs­thetik zu reani­mieren, noch buch­sta­biert sie das Reper­toire einer Gesell­schafts­kritik aus. In ihren Texten ver­mengen sich avant­gar­dis­ti­scher Anspruch und post­so­wje­ti­sche Resi­gna­tion. Diesen kon­zep­tu­ellen Wider­spruch baut Keti Chukhrov in ihren dra­ma­ti­schen Texten nach.

 

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Thomas Skow­ronek hat für novinki die gebür­tige Geor­gi­erin in Berlin getroffen und sich mit ihr über ihre lite­ra­ri­sche und phi­lo­so­phi­sche Arbeit unter­halten. Keti Chukhrov ist nicht nur Schrift­stel­lerin, son­dern als Post­dok­to­randin am Institut für Phi­lo­so­phie der rus­si­schen Aka­demie der Wis­sen­schaften auch eine kul­tur­kri­ti­sche Beob­ach­terin, die zahl­reiche Artikel in rus­si­schen und west­eu­ro­päi­schen Medien publi­ziert hat. Der­zeit schreibt sie eine Mono­gra­phie zur kri­ti­schen Funk­tion des Thea­ters in der phi­lo­so­phi­schen Theorie der Kunst. 2003 ist in Russ­land ihr Buch Vojna količestv (Krieg der Mengen) erschienen. Aktuell arbeitet sie an ihrem zweiten Band dra­ma­ti­scher Poesie Prosto ljudi (Ein­fach Leute).

 

novinki: Keti, in deinen lite­ra­ri­schen Werken greifst Du häufig soziale Fragen auf und the­ma­ti­sierst Macht­ver­hält­nisse. Du hast nun die letzten andert­halb Jahre in Berlin gelebt. Wel­chen Ein­druck hat dieses Umfeld auf dich gemacht und wie hat es sich auf dein schrift­stel­le­ri­sches Inter­esse für das Soziale ausgewirkt?

 

Keti Chukhrov: Berlin ist eine euro­päi­sche Erfah­rung für mich. In Berlin gibt es ein großes künst­le­ri­sches Poten­tial dank der vielen hier lebenden Men­schen, die sich mit Kunst befassen. Diese Stadt ist auch so etwas wie ein Spie­gel­bild des demo­kra­ti­schen Europa. Von hier aus kann ich die Situa­tion in Russ­land viel prä­ziser erfassen. Man­ches erscheint mir noch nega­tiver als es vor Ort der Fall gewesen ist. Anderes sehe ich aus dieser Per­spek­tive nun viel posi­tiver als früher.

 

n.: Woran denkst du genau, wenn du die Situa­tion hier in Berlin mit der in Russ­land vergleichst?

 

K. Ch.: Die west­eu­ro­päi­sche Gesell­schaft wird infra­struk­tu­rell äußerst genau regu­liert. Einer­seits begreifen wir die Infra­struktur als ein Sym­ptom für Demo­kratie (auch der reprä­sen­ta­tiven), da sie die Ein­hal­tung von Men­schen­rechten erleich­tert. Auf der anderen Seite sollten wir aber nicht ver­gessen, dass die Infra­struktur das Leben nicht nur ordnet, son­dern auch ste­ri­li­siert. So gesehen gibt es in Russ­land keine Ord­nung, aber auch weniger Ste­ri­lität. Ich spreche nicht nur über die künst­le­ri­sche Infra­struktur, son­dern auch über die recht­liche, insti­tu­tio­nelle, gesell­schaft­liche. Was ich hier im Westen für bedenk­lich halte, ist die Tat­sache, dass viele poli­ti­sche Fragen primär auf eine Ver­bes­se­rung der Regu­lie­rungen abzielen. Sie beziehen sich vor allem auf die soziale oder juris­ti­sche Struktur und nicht auf den ein­zelnen Men­schen. Die Vor­herr­schaft der Infra­struktur in der Regu­lie­rung des sozialen Lebens führt zum Pro­blem des „nackten Lebens“.

 

n.: Könn­test du das etwas aus­führen? Wie gehen deiner Mei­nung nach Künstler mit diesen Fragen um?

 

K. Ch.: Es geht um die Frage, inwie­fern das Modell eines nor­malen bür­ger­li­chen Lebens einen Segen dar­stellt. Man kann gut situ­iert leben, aber ein kärg­li­ches, fast kas­triertes Leben führen. Sehr gut wird dies im Film „Auf der anderen Seite“ von Fatih Akin gezeigt. Die Infra­struktur führt dazu, das Mensch­liche nur als Phy­sio­lo­gi­sches zu begreifen und das Uni­ver­selle nicht im Men­schen, son­dern in der Infra­struktur zu sehen. So zeigen viele Pro­jekte zum zeit­ge­nös­si­schen Tanz oder Theater den mensch­li­chen Körper als reinen Reflex. Dieses Para­digma habe ich hier in Deutsch­land kennen gelernt, das Para­digma des „nackten Lebens“ und seine Bezie­hung zur Infrastruktur.

 

n.: Siehst du auch den künst­le­ri­schen Bereich durch eine Vor­herr­schaft der Infra­struktur bedroht?

 

K. Ch.: Was das künst­le­ri­sche Ter­ri­to­rium angeht, so geht es meiner Mei­nung nach auch gerade dort um die Trans­gres­sion der Struktur. Inner­halb der demo­kra­ti­schen Infra­struktur ist Trans­gres­sion nur inner­halb des abge­grenzten Ter­ri­to­riums der Kunst mög­lich ist. Sobald diese Grenzen auf­ge­hoben werden, stellt das trans­gres­sive Werk nur einen kleinen, zag­haften Ver­stoß gegen den guten Ton dar. Ich denke, Sylvia Sasse hat mit ihrem Bei­trag zum Fes­tival „Kunst und Ver­bre­chen“ [Ende 2003 im Hebbel am Ufer in Berlin] ähn­liche Fragen erör­tern wollen. Zu klären, wo die Grenze ver­läuft. Es scheint, als könnte der Mensch Frei­heit nur denken, wenn er ein Ver­bre­chen imi­tiert, wenn er Grenzen über­schreitet. Und viele Künstler, mit denen ich gespro­chen habe, stellen sich Frei­heit eben so vor. Sie halten Frei­heit aus­schließ­lich für ein fast liber­ti­näres Über­treten von Gesetzen. Des­halb meine ich, dass nicht nur kom­mer­zi­elle Deko­ra­ti­vität, son­dern auch eine quasi-sub­ver­sive Liber­ti­nage letzt­lich nur dem Funk­tio­nieren der post­in­dus­tri­ellen, neo­li­be­ralen und kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaften dient.

 

n.: Mit dem Ver­hältnis von macht­theo­re­ti­schen und ästhe­ti­schen Fragen hat sich auch der Mos­kauer Kon­zep­tua­lismus aus­ein­ander gesetzt, mit dem du dich eben­falls beschäf­tigst. Siehst du Parallelen?

 

K. Ch.: Ohne Frage hat sich der Mos­kauer Kon­zep­tua­lismus Pro­blemen der Struktur gewidmet. Ich denke aber, dass diese Fragen im west­li­chen Kon­zep­tua­lismus viel inter­es­santer the­ma­ti­siert worden sind, von Sol Lewitt, zum Bei­spiel, oder Art & Lan­guage. Der Mos­kauer Kon­zep­tua­lismus hin­gegen ist ein sehr sowje­ti­sches Phä­nomen, sowje­tisch in dem Sinne, dass die Frage nach der Tran­szen­den­ta­lität des Kunst­ob­jektes hier eine gerin­gere Rolle spielt. Ich denke, die Mos­kauer Kon­zep­tua­listen haben sich viel stärker mit der Wirk­lich­keit aus­ein­ander gesetzt als ihre west­li­chen Kollegen.

 

n.: Könn­test du das bitte etwas erläu­tern? Wo siehst du den Haupt­un­ter­schied zwi­schen öst­li­chem und west­li­chem Konzeptualismus?

 

K. Ch.: Im west­li­chen Kon­zep­tua­lismus wird das Objekt, die Struktur selbst mit der Wirk­lich­keit iden­ti­fi­ziert. Im rus­si­schen Kon­zep­tua­lismus hin­gegen wan­delt sich eine gewöhn­liche, pro­fane Sache auf eine fast eso­te­ri­sche Weise in einen medi­ta­tiven, künst­le­ri­schen Raum. Man kann sagen, der rus­si­sche Kon­zep­tua­lismus beschäf­tigte sich mit einem Medi­tieren über die Wirk­lich­keit. Für ihn war es nicht wesent­lich, ein end­gül­tiges Pro­dukt her­zu­stellen, in wel­chem sich ein gedank­li­cher Zustand mani­fes­tiert. Es war ein Gedanke Male­vičs, dass sich das Leben als eine per­ma­nente Medi­ta­tion und das Leben aller Men­schen in dieser medi­ta­tiven Per­spek­tive in Kunst ver­wan­delt. Für die rus­si­schen Kon­zep­tua­listen war die Her­stel­lung des Objektes und das Leben ein und der­selbe Raum.

 

n.: Wel­chen Ein­fluss haben diese Über­le­gungen auf deine künst­le­ri­sche Arbeit? Welche Rolle spielt Politik für dich?

 

K. Ch.: In den letzten Jahren beschäf­tigen mich poli­ti­sche Fragen sehr. Früher hatte ich ange­nommen, Politik führe zu einer Sim­pli­fi­zie­rung der Aus­sage. Jetzt sehe ich im Poli­ti­schen fast den zen­tralen Aspekt meiner Kunst. Aller­dings geht es mir nicht um eine Form der Illus­trie­rung. Mir scheint, ein jour­na­lis­ti­sches Ver­ständnis von Politik in der Kunst – wenn die Kunst nur der Illus­tra­tion eines Pro­blems dient, wel­ches in der Presse behan­delt wird, oder wenn die Kunst zum poli­ti­schen Ready-made wird – ist sicher­lich inter­es­sant, für mich aber kein Vor­bild. Eine poli­ti­sche Künst­lerin ist für mich eher Valie Export, poli­ti­scher als Gruppen, die ein soziales Pro­blem erfor­schen und Kunst als das dazu­ge­hö­rige Inter­face anbieten, wie es bei­spiels­weise bei den meisten sozialen Pro­jekten in Schweden der Fall ist. Diesen Trend gibt es überall, nicht nur in Skan­di­na­vien. Er besteht darin, einen bestimmten sozialen Fall zu doku­men­tieren – fast jour­na­lis­tisch – und hierfür Inter­views mit Regie­rungs- oder Par­la­ments­mit­glie­dern durch­zu­führen etc. Ich halte diese Arbeit für wichtig, dies sollte aber eher von Akti­visten oder Jugend­be­we­gungen gemacht werden. Der Künstler hat andere poli­ti­sche Funk­tionen, wobei er diese auch als Bürger oder Akti­vist rea­li­sieren kann.

 

n.: Erscheint dir diese skan­di­na­vi­sche Kunst als oberflächlich?

 

K. Ch.: Nein, sie ist nicht ober­fläch­lich. Sie erfüllt eine wich­tige Funk­tion. Sie ist eine schöp­fe­ri­sche Sozio­logie, bis­weilen sogar eine soziale Skulptur und Mikropolitik.

 

n.: Kommen wir nun zu deinen Texten, bei­spiels­weise zu Bežency idut v Bol’šoj (Flücht­linge gehen ins Bolšoj). Hier haben wir es mit einer Gruppe von Obdach­losen zu tun, die sich ihr Leben lang für die Oper begeis­tert haben. Wäh­rend sie aber früher sozial ange­se­hene Posi­tionen inne hatten – so war einer von ihnen ein „ver­dienter Päd­agoge der UdSSR und His­to­riker der KPdSU“ – müssen sie heute um ihr Anrecht auf Kultur kämpfen. Was sind die poli­ti­schen und ästhe­ti­schen Leit­ge­danken dieses Textes?

 

K. Ch.: Ich denke, das Poli­ti­sche meiner Texte liegt darin, die Poten­tia­lität einer Ver­än­de­rung auf­zu­zeigen. Poli­ti­sche Kon­flikte, die im glo­balen Maß­stab häufig nicht gelöst werden können, können manchmal in der Form eines dra­ma­ti­schen Dia­logs zwi­schen zwei Per­sonen eine Lösung erfahren. So bestand das poli­ti­sche Ele­ment in meiner Arbeit Bežency idut v Bol’šoj darin, auf­zu­zeigen, dass alles Nied­rige, dem kein kul­tu­reller und wert­mä­ßiger Status zukommt, manchmal über einen sehr hohen Wert ver­fügt, ihm aber keine Stimme gegeben wird.

 

n.: Ver­stehe ich es richtig, dein poli­ti­sches und künst­le­ri­sches Anliegen besteht darin, den Stimm­losen deine Stimme zu leihen?

 

K. Ch.: So kann man es aus­drü­cken, aber die Situa­tion der Flücht­linge heute ist anders als die zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts. Viele gebil­dete Men­schen wurden nach dem Zer­fall der UdSSR zu Lum­pen­pro­le­ta­riern. Viele ehe­ma­lige sowje­ti­sche Bürger rus­si­scher Natio­na­lität, die über eine hohe Bil­dung ver­fügen, müssen in Tadschi­ki­stan, zum Bei­spiel, Fuß­böden putzen. In Tadschi­ki­stan sind sie Russen, in Russ­land sind sie tadschi­ki­sche Migranten. Nie­mand braucht sie als Bürger. Das sind aber Men­schen, die über intel­lek­tu­elles und künst­le­ri­sches Poten­tial ver­fügen. Sie müssen aber ihre Energie, manchmal auch ihren Körper ver­kaufen, um die bio­lo­gi­sche Exis­tenz auf­recht zu erhalten.

 

n.: Siehst Du das künst­le­ri­sche Poten­tial dieser Mensch im Ver­langen, ihre Lebens­si­tua­tion zu ändern?

 

K. Ch.: Wie sonst kann diese Rou­tine der phy­sisch aus­mer­gelnden Arbeit über­wunden werden, wenn nicht durch Kunst? Viele Men­schen im post­so­wje­ti­schen Raum, die früher Gedichte oder Musik geschrieben haben, mussten zu Ver­käu­fern oder Dienst­leis­tern werden. Das ist das Ende ihres künst­le­ri­schen Poten­tials. Das ist das Ende der poli­ti­schen Hoff­nung, dass Men­schen eine künst­le­ri­sche Mög­lich­keit haben können. Und gerade diesem Pro­blem widmet sich Artur Żmi­jewski in Sel­ected Works. Denn was dient Men­schen, die mit rou­ti­ne­hafter, harter Arbeit beschäf­tigt sind als eine Art Kunst? Die Mas­sen­kultur. Żmi­jewski zeigt, dass es im Leben der meisten arbei­tenden Men­schen keinen Platz für Kunst gibt. Und das stellt eine Dia­gnose der poli­ti­schen Situa­tion dar. So gesehen ist dieses Werk Żmi­jew­skis [“Sel­ected Works“] sowohl eine künst­le­ri­sche als auch eine poli­ti­sche Arbeit. Aber seine Arbeit ist nicht nur eine Illus­tra­tion des Problems.

 

n.: Ist dem tat­säch­lich so? Ich frage mich, ob Żmi­jewski hier nicht auch ein rou­ti­niertes künst­le­ri­sches Ver­fahren gebraucht?

 

K. Ch.: Rou­ti­ne­hafte Arbeit ist das Kli­schee unter den Kli­schees. Ich denke aber, dass im vor­lie­genden Fall das Kli­schee auf etwas Wesent­li­ches auf­merksam machen kann. Diese Men­schen stellen mit ihrer Exis­tenz die ganze Kunst in Frage. Sie stellen vor allem das Modell des pro­phe­ti­schen Künst­lers in Frage, wel­ches sich in der Moderne als eli­täres Modell ent­wi­ckelt hat. Mehr noch, diese Men­schen stellen den Ort, das Ter­ri­to­rium der Kunst in Frage, da sie auf­zeigen, dass sie mit ihrer Exis­tenz nichts zu tun hat. Żmi­jewski hat sein Werk nicht aus ästhe­ti­sierten Ele­menten zusam­men­ge­setzt. Er hat Ready-mades aus der Arbeits­welt gebraucht. Ich arbeite auch sehr häufig mit Ready-mades aus der All­tags­sprache. Manchmal ent­steht eine absurde (oder sogar trans­men­tale) Sprache gerade dadurch, dass die Prot­ago­nisten so spre­chen, wie Men­schen es auch im Leben tun. Vor kurzem ist ein ziem­lich inter­es­santer Film des rus­si­schen Regis­seurs Boris Chleb­nikov erschienen, Svo­bodnoe pla­vanie (Free Floa­ting). Dort wird das Leben in der rus­si­schen Pro­vinz dar­ge­stellt, zum ersten Mal mehr oder weniger authen­tisch. Auf alle Fälle hat Chleb­nikov ver­sucht, die Sprache zu hören, wie sie wirk­lich ist. Denn wenn man darauf achtet, wie diese Men­schen mit­ein­ander kom­mu­ni­zieren, dann kann man fast von zaum’ sprechen.

 

n.: Du sprichst da etwas an, auf das ich abschlie­ßend gleich zurück­kommen möchte: die trans­men­tale Sprache. Zuvor aber noch eine Frage zum Ver­hältnis von eli­tärer und popu­lärer Kunst, da dies für deine Über­le­gungen grund­le­gend zu sein scheint. Welche Aspekte sind hier für dich wichtig? Wie wür­dest du an die Frage herangehen?

 

K. Ch.: Ich denke da an den Regis­seur Chris­toph Mar­thaler zum Bei­spiel. Er hat einige Stücke an der Ber­liner Volks­bühne insze­niert. Im post­dra­ma­ti­schen Theater arbeitet er mit Musik, die nor­ma­ler­weise in der Oper von Pro­fes­sio­na­listen per­for­miert wird. Er bricht, ver­fremdet die Hand­lung der Oper und trägt sie in solch pro­fane Orte wie ein Kran­ken­haus oder eine psych­ia­tri­sche Anstalt. Die Rollen besetzen statt Opern­sän­gern Schau­spieler, die längst nicht über diese geübten Stimmen ver­fügen. Sie singen klas­si­sche Stücke von Wagner, Beet­hoven oder Schu­bert. Hierbei geht es aber nicht um eine Dekon­struk­tion von Wagner, Beet­hoven oder Schu­bert. Viel­mehr soll das wich­tigste, uni­ver­sale Moment der Kunst auf­ge­zeigt werden, das in der unmit­tel­baren Ver­bin­dung des Men­schen mit der Kunst (in diesem Fall der Musik) besteht. Es geht nicht um bloße Vir­tuo­sität. Bei Mar­thaler zeigt sich, dass die ein­fach, mit nicht-pro­fes­sio­nellen Stimmen gesun­genen Stücke um vieles besser, bedachter und musi­ka­li­scher klingen.

 

n.: Du meinst, Kunst ermög­licht die Erfah­rung dieser Unmittelbarkeit?

 

K. Ch.: Viel­leicht bin ich zu idea­lis­tisch, aber ich denke, dass die besten und größten Kunst­werke sehr arm sind bzw. werden, wenn sie sich nicht direkt an den Men­schen wenden. Gerade des­halb kennen die Flücht­linge aus meinem Stück die Oper (und Musik) besser als das Publikum, das ins Theater kommt. Sie lieben diese Musik, sie lieben das Moment der Auf­füh­rung der Kunst. Kunst aus­zu­üben, in der Kunst zu sein, bedeutet für sie Leben. Und darin sind sie die grö­ßeren Künstler, da für sie das Kunst­er­lebnis eine Frage von Leben und Tod ist. In der Kunst inter­es­siert mich die Funk­tion des Mensch­li­chen und nicht die des Professionellen.

 

n.: Da wir gerade über Kate­go­ri­sie­rungen spre­chen – Wie wür­dest du deine eigene schrift­stel­le­ri­sche Arbeit einordnen?

 

K. Ch.: Für mich ist es wichtig, meine Texte nicht als Lite­ratur zu bezeichnen, son­dern als Kunst zu ver­stehen. Lite­ratur ist ein Teil der Kunst. Und Theater ver­eint in sich Lite­ratur, Poesie und Kunst. Mir ist am Theater noch wichtig, dass man dort in einer realen Zeit Ver­än­de­rungen dar­stellen kann. Auch poli­ti­sche Ver­än­de­rungen können so als mög­liche im Hier und Jetzt gezeigt werden. Womit ich mich beschäf­tige, ist nicht direkt Lite­ratur. Denn es geht nicht um ein Nar­rativ und ein Spiel damit, son­dern um Situa­tionen. Des­wegen würde ich von situa­tiver Poesie oder situa­tiver Hand­lung spre­chen. Und was den Bezug zur zeit­ge­nös­si­schen Kunst angeht, so war ich vor etwa zwei Jahren noch froh, diesem Kon­text anzu­ge­hören. Heute aber befindet sich die soge­nannte „con­tem­po­rary art“ überall in einer tiefen Krise, und ich möchte nicht einem vor­ge­ge­benen Kon­text ent­spre­chen müssen. Den Kon­text und den Ort muss man selbst kreieren.

 

n.: Gibt es etwas Spe­zi­elles, das Du an der zeit­ge­nös­si­sche Kunst bemängelst?

 

K. Ch.: Einige Künstler in Russ­land sind der­zeit der Mei­nung, dass gerade die Formen, welche die klas­si­sche Avant­garde erar­beitet hat, Teil der iko­ni­schen Tra­di­tion werden sollten, und dass sich die Kunst aus­ge­hend von diesen Formen – sei es vom Kanon der Avant­garde oder seinen „Ikonen“ – ent­wi­ckeln sollte.

 

n.: Deine frü­heren Texte aus dem Band Vojna količestv (Krieg der Mengen) werden häufig mit der Poetik des zaum’ in Ver­bin­dung gebracht, also mit den Ver­su­chen rus­si­scher Futu­risten zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts, eine trans­men­tale künst­le­ri­sche Sprache zu ent­wi­ckeln. Welche Rolle spielt oder spielte dieser Ansatz in deinen Texten?

 

K. Ch.: Das Moment der Ver­frem­dung, wie es im rus­si­schen For­ma­lismus ent­wi­ckelt wurde, war mir sehr wichtig. Ebenso wie die Futu­risten war ich der Mei­nung, dass die Sprache als ein auto­ma­ti­sches Instru­ment nicht direkt auf etwas ver­weisen kann und soll. Viele Leser ver­stehen meine Texte vor allem als eine Suche nach neuen Ver­fahren, die sich deut­lich von post-kon­zep­tua­lis­ti­schen Formen unter­scheiden. Der Haupt­punkt aber ist ein anderer. Meine Texte sind immer radi­kalen phi­lo­so­phi­schen Fragen gewidmet, welche sich nicht in einer dis­kur­siven Sprache dar­stellen lassen. So gesehen ist die for­male Gestal­tung meiner Texte nur ein Instru­ment, um über Themen nach­zu­denken, die sich nur schwer in Sprache fassen lassen.

 

n.: Um welche Themen han­delt es sich dabei?

 

K. Ch.: Meine Texte haben von Anfang an als Grund­lage bestimmte Kon­zepte: All­ge­meines und Indi­vi­du­elles, Liebe und die Unmög­lich­keit der Liebe, Macht und Mensch. Doch diese Themen sind für mich kein Selbst­zweck. Mir kam und kommt es vor allem auf ihre dia­lek­ti­sche Ent­wick­lung an. In meinen Texten han­delt es sich immer um einen Dialog, wie in der grie­chi­schen Dia­lektik. Der grie­chi­sche Phi­lo­soph bestimmt nicht, ob dieses oder jenes Fakt ist. Er weiß es selbst nicht. In dia­lek­ti­scher Weise, mit­tels einer para­doxalen Zusam­men­füh­rung unter­schied­li­cher Ideen, ermit­telt er, wie etwas zu ver­stehen ist. Ich gehe von einem radi­kalen Nicht­ver­stehen aus. Kon­flikte sind ein grund­sätz­li­cher Aus­gangs­punkt für Vieles. Des­halb heißt mein erstes Buch auch Vojna količestv (Krieg der Mengen): Es geht um die Menge an Mei­nungen und Ideen und um die Unmög­lich­keit der Auf­lö­sung von Widersprüchen.

 

n.: Leider stoßen wir nun auf eine wei­tere Unauf­lös­bar­keit, das Ende unseres Gesprächs. Wenn du zum Abschluss noch erwähnen könn­test, um wel­chen Kon­flikt es in deinem Text Istina i Kon­stantin (Wahr­heit und Kon­stantin) geht und wes­halb er dir so wichtig ist?

 

K. Ch.: Es han­delt sich um einen Dialog zwi­schen einer Frau und einem Mann. In erster Linie ist es ein Dialog, in dem eine Posi­tion der Macht einer Posi­tion voll­kom­mener Hilf­lo­sig­keit gegen­über­steht. Es geht um einen über­flüs­sigen Men­schen und einen Men­schen, der selbst die Werte bestimmt. So gesehen ist Kon­stantin die Stimme dieser Macht, welche die Werte defi­niert. Die zweite Prot­ago­nistin hin­gegen, Isolde, ist die Stimme eines Men­schen, der aus der Wahr­heit her­aus­ge­worfen wird, da er als über­flüssig für ihren Aufbau erachtet wird. Im Kern ist es ein kul­tur­kri­ti­sches Werk, eine Kritik des Phal­lo­zen­trismus. Es ist aber auch ein Text über die Liebe, da auch die Liebe ein Phä­nomen der Macht und Hilf­lo­sig­keit ist. Die Zwei ist die erste Plu­ra­lität, mit wel­cher auch der Kon­flikt ansetzt. Des­halb beginne ich mit der Zahl Zwei – mit dem Dialog und nicht dem Monolog.

 

n.: Keti, herz­li­chen Dank für diesen inter­es­santen Dialog.