Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Sol­daten mit Son­nen­blu­men­samen – ein Video aus dem besetzten Geničesk

Gleich am ersten Tag des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukraine kur­sierte im Netz ein Video aus der ukrai­ni­schen Stadt Geničesk (Gebiet Cherson), das eine Ukrai­nerin im Gespräch mit einem bewaff­neten rus­si­schen Sol­daten zeigt. Die Frau filmt den Dialog, der auf Rus­sisch läuft, heim­lich mit. Wir sehen die untere Kör­per­hälfte des Sol­daten und einen Teil seines Gewehrs.

Später tauchte im Netz ein wei­teres Video auf, das diese Szene von der Seite, aus der Beob­ach­ter­per­spek­tive zeigt. Gesichter sind in diesem Fall eben­falls nicht zu erkennen, aber voll­ständig die beiden Körper.

Seit dem Anfang des Krieges errei­chen uns täg­lich Foto- und Video­auf­nahmen aus den von der rus­si­schen Armee teil­weise oder voll­ständig besetzten Städten, die die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung im aktiven Wider­stand und in direkter Kon­fron­ta­tion mit bewaff­neten Sol­daten zeigen. Doch das oben genannte Video ist ein beson­deres Bei­spiel, weil es uns über die Ebene des Bildes hinaus einen bemer­kens­werten Dialog zwi­schen den Betei­ligten vorführt.

Der unge­fähre Wort­laut der Rede der ukrai­ni­schen Frau an den rus­si­schen Sol­daten, die zwi­schen­durch mit „Dieses Gespräch führt uns zu keinem Ergebnis“, „Bitte, lassen Sie uns die Situa­tion nicht weiter zuspitzen“ u.a. unter­bro­chen wird, lautet:

„Sie sind mit Gewehren zu uns gekommen. (…) Nehmen Sie sich feuchte Son­nen­blu­men­kerne, oder Blu­men­samen. Legen Sie sie in ihre Taschen, damit wenigs­tens Son­nen­blumen wachsen, nachdem Sie hier liegen bleiben. (…) Sie sind in mein Land gekommen. (…) Sie sind Okku­panten. Sie sind Feinde! Sie sind ab dieser Sekunde verflucht.“

Im ukrai­nisch- und rus­sisch­spra­chigen Internet und dar­über hinaus wurde das Video mil­lio­nen­fach geteilt. Die Zuschaue­rInnen lobten den Mut, die Ent­schlos­sen­heit und die Cou­rage der ukrai­ni­schen Frau. Nicht unbe­merkt blieb außerdem der wört­liche Aus­druck dieser Cou­rage – der gespro­chene Text und seine poe­ti­sche Kraft.

Die starke meta­pho­ri­sche Energie des Bildes eines gefal­lenen Sol­daten mit Blu­men­samen in der Tasche blieb in der ukrai­ni­schen und inter­na­tio­nalen Kunst­welt nicht unbe­merkt. Schnell nach der Ver­brei­tung des Videos reagierten Künst­le­rInnen mit indi­vi­du­ellen Dar­stel­lungen des Sprach­bildes. Die US-ame­ri­ka­ni­sche Illus­tra­torin chi­ne­si­scher Her­kunft Wen­qing Yan ver­öf­fent­lichte auf ihrem Insta­gram-Account ein Bild mit dem gefal­lenen Sol­daten auf einem Son­nen­blu­men­feld, das sie mit „Samen für die Zukunft“ beti­telte. Die Land­schaft in der unteren Hälfte des Bildes („Gelbes Meer der Son­nen­blumen“), der Hori­zont und der obere Teil mit blauem Himmel folgen hier der Farb­ge­bung der ukrai­ni­schen Flagge. Die Flagge wie­derum ist die Inter­pre­ta­tion des klas­si­schen Bildes der ukrai­ni­schen Land­schaft. Der „König ukrai­ni­scher Felder“, die Son­nen­blume ist das Symbol des Landes und ein wich­tiger Teil der Landwirtschaft.

Der ukrai­ni­sche Maler und Ani­ma­ti­ons­künstler Saško Dani­lenko, der aktuell in USA lebt und arbeitet, erstellte eine ganze Bil­der­serie mit dem Titel „Super­helden unter uns“. Dar­unter auch das Bild mit der Frau aus Geničesk und dem Son­nen­blu­men­motiv. Die Son­nen­blumen stoßen hier durch hilf­lose Sol­da­ten­körper oder sind dabei, sie – gewis­ser­maßen als fleisch­fres­sende Pflanze – zu ver­schlingen, wäh­rend den Vor­der­grund des Bildes die Frau­en­figur mit stand­haftem Blick domi­niert. Der Blu­men­samen (die Frau­en­figur hält einen in ihrer Hand) fun­giert hier als Keim und trei­bende Kraft im Wider­stand gegen den Feind.

© Kata­pult, 2022.

Dani­lenko versah das Bild mit einem Kom­mentar, in dem er iro­nisch anmerkte, dass die tap­fere ukrai­ni­sche Frau gleich am ersten Kriegstag die Besatzer in pro­phe­ti­schen Worten „in die Land­wirt­schaft ein­führte“ (Orig.: „пояснила аграрну інструкцію“). Zum Schluss schreibt er: „Alle, die mit Waffen kamen, werden sich in Son­nen­blumen ver­wan­deln.“ (Orig.: „Всі хто пришли зі зброєю перетворяться на соняшники.“). In Dani­lenkos Arbeiten tau­chen seitdem immer wieder Motive mit Son­nen­blumen auf – mal auf rus­si­schen Sol­da­ten­helmen, aus dem latei­ni­schen Z hin­aus­wach­send, mal Kriegs­land­schaften mar­kie­rend. Die Son­nen­blumen werden hier zu Figu­ra­tionen der ver­lo­renen Schlachten Russ­lands, der gefal­lenen rus­si­schen Sol­daten und schließ­lich auch des ver­lo­renen Krieges.

Die deutsch­spra­chigen Medien erreichte das Video nur teil­weise. Das Kata­pult-Magazin ver­öf­fent­lichte eine Gra­phik mit der Über­schrift „National heroes during Russia’s war against Ukraine. Who are they?“, in der die Stadt Geničesk mit einer Son­nen­blume und Blu­men­samen mar­kiert war.

„Pod­sol­nuch žizni“, 1963

Richtet man den Blick in die Kunst­ge­schichte, findet man das Motiv der (Sonnen)Blume in Ver­bin­dung mit dem Tod/Leben sowie die direkte Kon­fron­ta­tion zwi­schen dem (Soldaten)körper und der Natur in der sowje­ti­schen und post­so­wje­ti­schen Iko­no­grafie wieder. Im Schaffen der ukrai­ni­schen Volks­künst­lerin und Ver­tre­terin der naiven Kunst Marija Pri­mačenko spielen Son­nen­blu­men­mo­tive eine zen­trale Rolle. So ent­stand 1963 ein Bild mit dem Titel „Pod­sol­nuch žizni“, das aus einem mensch­li­chen Kopf her­aus­wach­sende Son­nen­blumen zeigt. Der die untere Bild­hälfte zie­rende Kopf erin­nert an das Wappen der Rus­si­schen Föde­ra­tion, das aus dem Wappen des Rus­si­schen Kai­ser­reichs her­vor­ge­gangen ist. Die Dar­stel­lung des Dop­pel­ad­lers mit Brust­schild geht hier in ein Men­schen­ge­sicht über, aus dem in strah­lendem Gold die Son­nen­blu­men­zweige hervorwachsen.

Marija Pri­mačenkos Kunst geriet am dritten Tag des Krieges ins Zen­trum der Kampf­hand­lungen. Das Museum für Geschichte und Hei­mat­ge­schichte in Ivankiv, in dem ein Teil der Werke Pri­mačenkos aus­ge­stellt war, wurde von rus­si­schen Bomben zer­stört. Angeb­lich konnten einige von Bil­dern von Ein­hei­mi­schen aus den Trüm­mern gerettet werden.

 

Zur offi­zi­elle Seite des Künstlers

Vom in Russ­land lebenden geor­gi­sche Maler Alex­ander Djikia stammt ein Bild mit dem Titel „Soldat vsegda sliv­aetsja s pri­rodoj“ (1989; dt.: „Der Soldat ver­schmilzt sich immer mit der Natur“), das drei Sol­daten auf einem Blu­men­feld zeigt. In der oberen linken Ecke bean­sprucht die Über­schrift des Bildes beträcht­li­chen Raum. Vor dem weißen Hin­ter­grund ragen drei Sol­da­ten­körper heraus und mar­kieren durch die Farb­ge­bung ihrer Camou­flage zugleich Über­gang in die untere Hälfte des Bildes, die als grün-rotes Blu­men­feld gestaltet ist. Die roten Feld­blumen werden in den Uni­formen als rote Punkte wie­der­holt, die auch als Schuss­wunden inter­pre­tiert werden können. Der Bild­titel wie­der­holt den pro­phe­ti­schen Cha­rakter der Rede aus dem Video in Geničesk, mit dem Adverb „vsegda“ wird hier die Vor­aus­be­stimmt­heit des Sol­da­ten­schick­sals adressiert.

Doch zurück zum Video. Die Rede der Frau zeichnet in einem pro­phe­ti­schen Gestus und mit einer erschre­ckenden Selbst­ver­ständ­lich­keit das unab­ding­bare Schicksal des Feindes. Par­allel zu den ersten Mel­dungen über die in der Ukraine gefal­lenen rus­si­schen Sol­daten, erreichten der Presse die Nach­richten, dass Russ­land sich nicht um sie küm­mere, der Öffent­lich­keit und den Ange­hö­rigen die reale Zahl ihrer Toten ver­schweige und mobile Kre­ma­to­rien zur Ver­tu­schung orga­ni­siere. Es wird ver­mutet, dass diese Wagen die rus­si­sche Armee begleiten und die gefal­lenen Sol­daten vor Ort verbrennen.

Eben diese erschre­ckende Sinn­lo­sig­keit der Tode wird im Video aus Geničesk in der bru­talen Direkt­heit adressiert.