Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Über die Zukunft oder auch nicht: Vla­dimir Sor­okins Roman Tellurija

Es bedarf Kon­zen­tra­tion und einer ruhigen Hand. Ein fester geübter Schlag mit dem Hammer und der Tellur-Nagel gleitet in den zuvor sauber rasierten und des­in­fi­zierten Schädel. Danach ist man ent­weder tot oder wan­delt auf lang­ersehnten Pfaden der Glück­se­lig­keit. Wie man sich vor allem Letz­teres vor­zu­stellen hat und wie unser Leben in Zukunft aus­sehen könnte, verrät Vla­dimir Sor­okin in seinem neu­esten Roman „Tel­lu­rija“.


sorokin_tellurija
Wenn in der Ver­gan­gen­heit über Vla­dimir Sor­okins Bücher geschrieben wurde, ging der Tenor vieler Kri­tiken nicht selten in Rich­tung „unan­ständig“ bis Schlim­meres. Einmal schien die Unan­stän­dig­keit sogar so groß, dass sie öffent­lich in einer rie­sigen Toi­let­ten­schüssel enden musste. Das war 2002. Mitt­ler­weile hat Sor­okin nicht zuletzt mit Metel‘ bewiesen, dass er ebenso gut einen ruhigen bis kon­ven­tio­nellen Ton anschlagen kann, den­noch kommt man nicht umhin, jede seiner Neu­erschei­nungen auf Brenn­stoff zu unter­su­chen. So auch Tel­lu­rija.

 

Die Vor­gänger Tel­lu­rijas sind bekannt: Neben Metel‘ (Der Schnee­sturm) gehören Den‘ oprič­nika (Der Tag des Oprit­sch­niks) oder Sacharnyj kreml‘ (Der Zucker­kreml) längst zum zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur­kanon. Auch kennt man den Autor. Und wenn nicht wegen seiner Bücher oder Thea­ter­stücke, dann als immer wie­der­keh­renden Namen, etwa in bekannten deut­schen Tages­zei­tungen, wenn diese um Kom­men­tare zu Lite­ratur und zu Russ­land oder Putin bitten. Der flei­ßige Zei­tungs­leser weiß den Namen Sor­okin dem Mann mit dem sil­bernen Haar, dem adretten Mit­tel­scheitel samt obli­ga­to­ri­schem Kinn­bart treff­si­cher zuzuordnen.

 

Nun war bis dato die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem poli­ti­schen System und der Ver­gan­gen­heit Russ­lands, getragen von unge­wöhn­li­cher Sprach­ge­stal­tung sowie Spie­le­reien mit mensch­li­chen Ekel- oder Moral­grenzen oft­mals das Herz­stück lite­ra­ri­scher Arbeiten Vla­dimir Sor­okins. So ist auch das Kon­zept Tel­lu­rijas. Das Buch ist 2013 in Moskau erschienen und wird im August dieses Jahres in deut­scher Über­set­zung bei KiWi zu erwerben sein. Um der Viel­stim­mig­keit des Buches gerecht zu werden, arbeitet ein ganzes Kol­lektiv an Über­set­zern an der Über­tra­gung ins Deut­sche. Tel­lu­rija gewährt einen Ein­blick in eine Zukunfts­vi­sion. Es ist ein Schlüs­sel­loch, durch das man nicht nur einen Blick auf das künf­tige Russ­land erha­schen kann, son­dern auch auf große Teile Europas in den noch vor uns lie­genden Jahren des 21. Jahrhunderts.

 

Zu diesem Zeit­punkt haben Kriege einen Groß­teil der bekannten eura­si­schen Welt ver­wüstet und unzäh­lige Bra­chen hin­ter­lassen. Ver­streute Bra­chen, die in einer rei­chen Viel­falt kleiner König­reiche, Fürs­ten­tümer, Repu­bliken oder anderer Kleinst­staaten aus den hin­ter­las­senen Trüm­mern im Zeit­alter eines neuen Mit­tel­al­ters wieder auf­ge­stiegen sind. Gegen­wär­tige Staats­grenzen exis­tieren nicht mehr. Statt­dessen ähnelt der Kon­ti­nent einem Fli­cken­tep­pich – geknüpft als Ergebnis von Bür­ger­kriegen in Russ­land und einem Sala­fisten-Über­fall auf Europa.

 

So ist zum Bei­spiel Stock­holm mitt­ler­weile isla­misch geworden, wäh­rend von der Schweiz nichts als ver­brannte Erde übrig geblieben ist. An Bayern grenzt ein Staats­ge­bilde namens Preußen und aus den süd­li­chen Pro­vinzen Frank­reichs hat sich der neue Staat Languedoc for­miert. Das war der wich­tigste Punkt des euro­päi­schen Wider­standes gegen die isla­mi­schen Angreifer. Über­quert man die Ruinen der großen rus­si­schen Mauer, die de facto nie fertig gestellt wurde, ent­deckt man, dass Moskau jetzt die Haupt­stadt Mos­ko­wiens ist, das von einem Fürsten im Kreml regiert wird. Ein beträcht­li­cher Teil Mos­ko­wiens wird dabei von Chi­nesen bevöl­kert. Wer Sehn­sucht nach Väter­chen Stalin hat, dem sei ein Besuch in der Sta­li­nis­ti­schen Sowje­ti­schen Sozia­lis­ti­schen Repu­blik emp­fohlen. Diese wurde nach dem Zer­fall des post­so­wje­ti­schen Russ­land von drei Olig­ar­chen und Sym­pa­thi­santen des schnurr­bär­tigen Dik­ta­tors gegründet.

 

Der Viel­fäl­tig­keit der Staats­ge­bilde ent­spricht das bunte Spek­trum ihrer Bewohner, das sich, neben Men­schen, aus Riesen und Zwergen, zoo- sowie anthro­po­mor­phen Wesen zusam­men­setzt. So begegnet man Zen­tauren, Män­nern mit Hunde- oder Frauen mit Esel­köpfen. Hier und da spricht man auch neue Spra­chen. Rau­chende Schorn­steine von Fabriken, die die Mensch­heit einst mit Mas­sen­pro­duk­tion ver­sorgten, gehören der Ver­gan­gen­heit an. Auch ist der ewige Schrei nach dem tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt ver­stummt. Hier sat­telt man wieder ganz tra­di­tio­nell das Huf­ge­tier, denn des­selben gibt es viel und variabel. Pferde, so groß wie zehn­stö­ckige Häuser oder so klein wie Katzen. Das Motto „höher, schneller, weiter“ hat eben­falls aus­ge­dient und ist zu Gunsten der Erkenntnis gewi­chen, dass Konsum und Fort­schritt nicht glück­lich machen. Das Glück in dieser Welt ver­spricht etwas anderes: Tellur. Eine Droge, die aus der Repu­blik Tel­lu­rija kommt und nach der ein Jeder und eine Jede die Hände aus­stre­cken. Ver­ständ­lich, denn sie lockt mit dem Paradies.

 

Auf­fla­ckernde Neu­gier und Enttäuschung

Tat­säch­lich kommt dieser Droge eine dop­pelte Funk­tion zu. Sie ist das Bin­de­ele­ment für die Men­schen der Tel­lu­rija-Welt und macht sie glück­lich. Aller­dings macht Tellur auch den Leser glück­lich, ist es doch der Kleb­stoff, d.h. der rote Faden, der die 50 titel­losen, aber mit römi­schen Zahlen num­me­rierten Kapitel zusam­men­hält. Sie sind unter­schied­lich lang, sie erzählen unter­schied­lich von Unter­schied­li­chem. Die ein­zige Kon­stante ist die besagte Droge, nach der nahezu jede Figur des Buches, ganz gleich aus wel­chen Gründen, lechzt.

 

Darin tritt ein sehr krea­tives Kon­zept zutage, ähnelt schließ­lich kein Kapitel dem anderen. Die ein­zelnen Figuren und ihre Geschichten ent­wi­ckelt Sor­okin stets nur auf wenigen Seiten. So spinnt er Erzähl­fäden, die jedoch gleich wieder fallen gelassen und später nicht wieder auf­ge­nommen werden. Seine Leser ver­setzt er damit in einen Zustand immer wieder neu auf­fla­ckernder Neu­gier und unmit­telbar darauf fol­gender Ent­täu­schung. Dabei ließe sich nahezu jedes dieser 50 Frag­mente ein­zelner Schick­sale zu einem ganzen Buch ausbauen.

 

Ähn­lich ver­hält es sich mit der Sprache des Romans. Tel­lu­rija ist ein sich auf ins­ge­samt 441 Seiten erstre­ckender Beweis für Sor­okins Rhe­to­rik­künste, der die Arbeit der Über­setzer nicht leicht macht. Zeile für Zeile und Wort für Wort demons­triert Sor­okin sein vir­tuoses Können, indem er nicht nur immer wieder mit neuen Stilen und Genres spielt, große Autoren par­odiert, Zitate und Ver­weise ein­flicht, son­dern sogar neue Spra­chen erfindet, wie im Falle des unglück­lich ver­liebten Zen­tauren, der um seine Kolom­bina weint. Man lauscht den wohl­ar­ti­ku­lierten Phrasen intel­lek­tu­eller Denk­ar­beit, schmun­zelt über den unbe­hol­fenen Satzbau kleiner Dorf­mäd­chen oder liest pein­lich berührt über wort­kräf­tige Vul­ga­rismen hinweg. Es werden epi­sche sowie dra­ma­ti­sche Erzähl­weisen auf­ge­griffen. Dabei taucht man in Geschichten ein, deren Rede­kunst an Mär­chen, Gebete oder auch Zei­tungs­ar­tikel erinnert.

 

Sor­okins Wille zum Expe­ri­ment in der for­malen Struktur des Buches wird damit auf jeder Seite demons­triert. Zuge­geben, es ist eine Leis­tung, die von krea­tiver Schöp­fungs­kraft und Ein­falls­reichtum zeugt. An einigen Stellen wirkt diese sprach­liche Kom­ple­xität jedoch stark über­stra­pa­ziert und etwas aufgesetzt.

 

Vladmir Sor­okin zieht seinen Roman als Dys­topie auf. Er lässt eine apo­ka­lyp­ti­sche Welt aus Gewalt, Sex und Ver­ge­wal­ti­gung, Drogen, Alkohol und poli­ti­scher Polemik ent­stehen. Zwar geht es dem Autor dabei nicht um das blanke Dar­stellen dieser Sze­na­rien, um des Hor­rors oder Ekels willen, son­dern um einen darin subtil ange­sie­delten Kern­ge­danken des Buches, der dadurch zum Aus­druck kommen soll, doch genau das hatte die Kreml‘ nahe Jugend­or­ga­ni­sa­tion Iduščie vmeste (Die Gemein­sam­ge­henden) 2002 dazu ver­leitet, über hun­dert Bücher Sor­okins zu ver­brennen. Diesmal dürften die Streich­hölzer aller­dings in der Schachtel bleiben. Das pro­vo­kante Ele­ment in seinen Texten wird per se bei­nahe erwartet. Denn es kehrt bei Sor­okin stets wieder. Szenen mit Nym­pho­ma­ninnen, die eupho­risch nach Aben­teuern mit fremden Män­nern suchen, haben auf diese Weise ihr Über­ra­schungs­po­ten­zial ein­ge­büßt. Und Homo­se­xu­elle, die bei dem Ver­such sterben, im Dro­gen­rausch Stalin zu begegnen, sorgen ebenso wenig für Ver­wun­de­rung wie alko­ho­li­sierte Zwerge oder spre­chende Phal­lusse. Der Ent­wurf eines mus­li­mi­schen Europas wird jedoch im Hin­blick auf die sich ver­brei­tende Islam-Skepsis einige Leser gewiss zum Nach­denken anregen – nicht über die Zukunft, son­dern über die Gegenwart.

 

Sor­okin, Vla­dimir: Tel­lu­rija. Moskva: AST, 2013.

 

Wei­tere Lite­ratur von Vla­dimir Sorokin:
Sor­okin, Vla­dimir: Metel‘. Moskva: AST, 2010.
Sor­okin, Vla­dimir: Der Schnee­sturm. Aus dem Rus­si­schen von Andreas Tretner. Köln: Kie­pen­heuer & Witsch, 2012.

Sor­okin, Vla­dimir: Sacharnyj kreml‘. Moskva: AST, 2008.
Sor­okin, Vla­dimir: Der Zucker­kreml. Aus dem Rus­si­schen von Andreas Tretner. Mün­chen: Wil­helm Heyne Verlag, 2012.

Sor­okin, Vla­dimir: Den‘ oprič­nika. Moskva: Zacharov 2006.
Sor­okin, Vla­dimir: Der Tag des Oprit­sch­niks. Aus dem Rus­si­schen von Andreas Tretner. Mün­chen: Wil­helm Heyne Verlag, 2009.