Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
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10099 Berlin

Diese Stadt kann auch weiß sein – Der neue Erzähl­band von Tzveta Sofronieva

Die bul­ga­risch­stäm­mige Autorin Tzveta Sofro­nieva hat sich bis­lang vor allem durch ihre Lyrik und ihre Lite­ra­tur­instal­la­tionen einen Namen gemacht. 2009 wurde sie anläss­lich der Publi­ka­tion ihres ersten kom­plett deutsch­spra­chigen Gedicht­bandes „Eine Hand voll Wasser“ für ihr deutsch­spra­chiges Gesamt­werk mit dem Adal­bert-von-Cha­misso-För­der­preis ausgezeichnet.
Der 2010 im Hans Schiler-Verlag erschie­nene Erzähl­band „Diese Stadt kann auch weiß sein“ ver­sam­melt einen Groß­teil ihres bis­he­rigen deutsch­spra­chigen Pro­sa­schaf­fens. Die kurzen Geschichten und Frag­mente wurden wäh­rend der letzten zehn Jahre in ver­schie­denen Antho­lo­gien publi­ziert und für die Neu­auf­lage über­ar­beitet sowie durch drei bisher unver­öf­fent­lichte Texte ergänzt.

In 15 Epi­soden ent­führt Tzveta Sofro­nieva die Leserin ins Vito­scha-Gebirge und auf die stau­bigen Land­straßen zwi­schen Plovdiv und Sofia, in den ver­schneiten Park einer deut­schen Klein­stadt, ins Pio­nier­camp am Schwarzen Meer und in ein Schloss namens Ein­sam­keit. „Ich mag über das Doku­men­tieren von Erforschtem und nicht vom Erlebten schreiben.“, bekennt die Autorin und so halten Sofro­nievas Figuren selten still. Zahl­reiche Prot­ago­nis­tinnen und einige Prot­ago­nisten wan­dern, reisen, lieben und zwei­feln und sind Erfor­sche­rInnen eines poe­ti­schen Uni­ver­sums, in dem die großen Fragen nach Iden­tität und Her­kunft, nach Allein­sein, Frau­sein und dem über­haupt Sein, manchmal in Gestalt einer bemit­lei­dens­wert unbe­hausten Nackt­schnecke oder der ruhe­losen Seelen der Urgroß­mütter auftreten.

Liest man die Texte in der Rei­hen­folge ihrer Ent­ste­hung, die grob der Anord­nung im Band ent­spricht, doku­men­tieren sie den Aneig­nungs- und Befrei­ungs­pro­zess einer Autorin, die sich Schritt für Schritt ihren Weg in eine neue Schreib­sprache bahnt. In dem Maße, wie Sofro­nievas Sprache an Tiefe gewinnt, wird sie zugleich unein­deu­tiger, geheim­nis­voller – eine Bewe­gung des „Unhei­mi­sch­wer­dens“, die Paul Celan einst in das Paradox „wirf sie weg, wirf sie weg/dann hast du sie wieder“ fasste und die ihre Figuren einer immer stär­keren Unsi­cher­heit und Unein­deu­tig­keit aussetzt.
Konnte sich die Prot­ago­nistin des ersten Textes „Birgit oder die Kunst des Füh­rer­schein­er­werbs“ noch klar zwi­schen einem „hier“ und einem „daheim“ ver­orten und unbe­darft Wörter wie „nor­ma­ler­weise“ ver­wenden, so ist die viel­na­mige Prot­ago­nistin des letzten Textes nun­mehr „eine und viele, eine rund um die ganze Kugel“  – die ver­meint­lich ein­deu­tige Iden­tität ist ins Wanken geraten; Her­kunft, Sprache, sexu­elle Aus­rich­tung – nichts ist unver­än­derbar. Kein Stein bleibt auf dem anderen; am Ende ist alles anders – und alles gut.
In den frühen Texten Sofro­nievas suchen die Sätze noch den spä­teren, eigenen Rhythmus. Man ver­steht, warum die Lyrik für die Autorin „fließt“ und in den Gedicht­bänden immer wieder das Sinn­bild des Was­sers her­auf­be­schworen wird, wäh­rend sie Prosa als eine „Aus­ein­an­der­set­zung mit der festen Materie“ begreift, die „Stur­heit, Beharren, Lang­sam­keit und Nicht­auf­geben“ erfor­dert. Tref­fen­der­weise ist der Schnee eines der Leit­mo­tive des Bandes.
In einem Gespräch beschrieb die Dich­terin, wie sie in diesem Band in der deut­schen Sprache Kind gewesen sei, dann jugend­lich und irgend­wann erwachsen.  Mit der Kin­dern eigenen Direkt­heit werden in den frühen Texten  Ste­reo­type auf­ge­griffen und genuss­voll aus­buch­sta­biert. Bestech­lich­keit, Alko­ho­lismus und Chau­vi­nismus, aber auch die Herz­lich­keit und zwi­schen­mensch­liche Bestän­dig­keit ihrer Heimat setzt die Prot­ago­nistin in „Birgit oder die Kunst des Füh­rer­schein­er­werbs“ gegen die für sie unver­ständ­liche Kor­rekt­heit, Arbeit­sam­keit und emo­tio­nale Distanz, die sie erfährt, als sie in Deutsch­land ange­kommen, ihre Füh­rer­schein­prü­fung wie­der­holen muss.
„Birgit wollte keinen Wodka. Ich meine, nicht nur wäh­rend der Fahr­stunde, was normal ist, sie wollte auch keine Fla­sche Wodka am Ende der Stunden haben, wie es sich nor­ma­ler­weise gehört. […] Birgit schien immer nur mit der Fah­rerei beschäf­tigt zu sein. Das war die reine Lan­ge­weile – man erfuhr kaum etwas Per­sön­li­ches über sie.“
Inter­kul­tu­relle Clas­h­er­fah­rungen sind domi­nie­rendes Thema der frühen Geschichten, in denen die Sphären unver­einbar bleiben und die Prot­ago­nis­tinnen und ihre Mit­men­schen mehr trennt als eine Sprach­bar­riere. Der Plan, die Fahr­leh­rerin Birgit als „erste wirk­liche Freundin hier“ zu gewinnen, schei­tert an deren pro­fes­sio­neller Distanz – so wie anders­herum die Idee, die eigene Tochter Birgit zu nennen, ver­worfen wird, denn Bir­gits gibt es „dort, wo ich geboren bin, nicht und meine Tochter sollte sich dort hei­misch fühlen.“

Auch die Prot­ago­nistin des Textes „Diese Stadt kann auch weiß sein“, dem ersten auf deutsch geschrie­benen Pro­sa­stück der Autorin, wel­ches dem Band seinen Namen gibt, schei­tert an der Unmög­lich­keit, die essen­ti­elle Freude über den in der fremden Stadt so sel­tenen Schnee mit den Spa­zier­gän­gern im Park zu teilen. Dabei bleibt es inter­es­san­ter­weise auch für den Leser vage, was genau die emo­tio­nale Gra­vität des Schnees aus­macht  – in ihm scheinen sich die Flucht­li­nien einer mär­chen­haften Heimat und kind­li­cher Gebor­gen­heit zu treffen:
„Auf jeden Fall haben die Hunde in meiner Stadt wie ver­rückt im Schnee gespielt. Es gab dort viel mehr Schnee, Schnee auf den Straßen und Häu­sern, auf den Geh­wegen und auch auf den Bänken im Park.“
Winter und Schnee tau­chen leit­mo­ti­visch in wei­teren Geschichten des Bandes auf, die genau wie die Malerei oder die Pro­ble­matik der Grenz­kriege die Texte, die sich gegen­seitig zitieren, zu einem Netz spinnen. Dieses inter­tex­tu­elle Ver­fahren, das auch für Sofro­nievas Lyrik prä­gend ist, stellt Ver­bin­dungen zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart her und ermög­licht es, die Figuren und ihre Bio­gra­phien über Zeiten und Orte hinweg neben­ein­ander zu lesen.
Als „Klonen“ bezeichnet Sofro­nieva das Ver­fahren, mit dem ihre Gedichte manchmal als par­al­lele Ver­sionen gleich­zeitig in meh­reren Spra­chen ent­stehen. In ihrer Prosa scheint sich die Autorin in vielen Texten selbst zu „klonen“ und  Erzähl­in­stanzen zu schaffen, die nicht nur wesent­liche bio­gra­phi­sche Merk­male mit ihr teilen, son­dern sich durch ver­deckte Hin­weise im Text als Autorin selbst zu erkennen geben – ein Vor­gehen, das die Grenzen der Fik­tio­na­lität in Frage stellt und eine starke Unmit­tel­bar­keit erzeugt. Indem die Erzähl­in­stanz oder ein­zelne Figuren den Namen der Autorin tragen, wird beim Leser auto­ma­tisch bio­gra­phi­sches Hin­ter­grund­wissen über diese akti­viert. Dieses ver­meint­lich auto­bio­gra­phi­sche Schreiben erweist sich jedoch als Hin­ter­halt, wird durch Über­trei­bung und Sti­li­sie­rung kon­ter­ka­riert und ver­wei­gert sich somit einer Hal­tung der Zeu­gen­schaft, die gerade in Bezug auf die Debatte um „Migran­ten­li­te­ratur“ in der Ver­gan­gen­heit eine wich­tige Rezep­ti­ons­ka­te­gorie war. Durch das „Ver­wirr­spiel der Iden­ti­täten“ ver­hin­dert die Autorin eine Lek­türe, die ihren Texten eine Brü­cken­funk­tion zuschreibt, sie als authen­ti­sche Dar­stel­lung einer Kultur oder die Illus­tra­tion kul­tu­reller Unter­schiede sehen will.

Wie ver­wi­ckelt dieses Spiel mit der Iden­tität sein kann, offen­bart der 1998 zuerst ver­öf­fent­lichte Text „Frau T.“. Nicht nur, dass das eigen­wil­lige Namens­kürzel an Kafkas „K.“ erin­nert und damit zugleich als Alter Ego der Dich­terin gelesen werden kann;  Frau T. wird von der Ich-Erzäh­lerin  paradox beschrieben, dass am Ende völlig unklar ist, ob diese Figur nur in ihrer Phan­tasie exis­tiert, ob sie über sich selbst oder noch schlimmer über die Autorin spricht.  Frau T. mate­ria­li­siert sich genau dann in dem mor­gend­li­chen Café, in dem die Erzäh­lerin nichts­ah­nend sitzt, als diese beson­ders intensiv an sie denkt und löst sich just in dem Moment wieder in Nichts auf, als diese sie begrüßen will. Der Text kom­men­tiert sich augen­zwin­kernd selbst, wenn er ver­meint­liche Gespräche von Erzäh­lerin und Frau T. zitiert, in denen es um „geklonte Lebe­wesen, Bezie­hungen zwi­schen Dop­pel­gän­gern und Zwil­linge aus tief­ge­fro­renen Embryos“ ging. Die Selbst­par­odie findet ihren Höhe­punkt in den Über­le­gungen der Erzäh­lerin zum Namen von Frau T.:
„Ich weiß auch nicht, ob ihr Name von ihrem Vater kam, von den Vor­fahren ihrer Mutter oder aus der Familie eines Ehe­manns, und ob die ihn tra­gende Familie etwas mit dem Herrn auf dem berühmten Bild Rem­brandts gemein hat. Viel­leicht war der Name auch ein von ihr gewähltes Pseud­onym, Aus­druck einer emp­fun­denen Verwandtschaft.“
Das Ver­wirr­spiel der Iden­ti­täten, bei dem sich die Autorin durch aller­hand ver­deckte Hin­weise in ihre eigenen Texte ein­schreibt, findet sich in zuneh­mendem Maße in den spä­teren Texten.
Der Minia­tur­brief­roman „Briefe einer Blu­men­frau an einen Fahr­rad­händler“ erzählt in elf Briefen eine Lie­bes­ge­schichte  – eine halbe Lie­bes­ge­schichte eigent­lich, denn es han­delt sich nur um die Briefe der Blu­men­frau, deren Berufs­be­zeich­nung erneut die Dich­terin selbst par­odiert, deren bul­ga­ri­scher Name Tzveta über­setzt „Blume“ heißt. Eine unter­halt­same Ana­tomie des rich­tigen Küs­sens wird ent­worfen – offen bleibt, ob die Romanze letzt­end­lich am fal­schen Kuss scheitert:
„Sehr geehrter Herr!
Schön ist es, wenn ein Kuss zu mir passt und ich zu ihm, wenn die Lippen mehr als die Zähne beißen, und die Zähne mehr als Zunge strei­cheln, wenn die Zunge weniger als die Lippen will, und alles ist ange­nehm und einfach.“

In „Violas Gehschichten“, dem letzten Text des Bandes, wird Iden­tität als abge­schlos­senes Kon­zept schließ­lich zu Gunsten einer Dynamik abge­schafft, die es der Erzähl­in­stanz und den Figuren erlaubt, sich immer wieder neu zu erfinden. Der Ich-Erzäh­lerin Viola, einer neu­er­li­chen „Tzveta“, die im Text an die fünfzig ver­schie­dene bota­ni­sche Namen erhält,  wird bewusst, dass „eine Blume ein Ort ist und ich selbst ein Ort bin“. Damit ist die Affir­ma­tion einer positiv gewen­deten Ort­lo­sig­keit voll­zogen, sind die Grenzen des Ichs über­wunden und die Sprach­bar­rieren eingerissen:
„Teme­nuzhschka ist eine Viola ist ein Veil­chen ist eine Menexes ist eine Lju­bicasta ist eine Orvokki ist eine Fialka, ist eine Olopu ist eine Nuscha, ist eine Pama­kani, ist eine Sigliah ist eine Vijo­lica ist eine und viele, ist eine rund um die ganze Kugel.“
Sprache, das wird aus dem erstaun­li­chen Fort­gang der Texte deut­lich, ist nicht das Werk­zeug, das man bis zur Per­fek­tion beherrscht, und ein Spra­chen­wechsel ist nicht zu ver­glei­chen mit einem Musik­in­stru­men­ten­wechsel. „Die Spra­chen sind die Noten, nicht die Instru­mente.“ schreibt Sofro­nieva in ihrem meta­poe­ti­schen Text „…und am Ende unter­schreiben“ – und findet damit Worte für die ein­zig­ar­tige, intime Ver­qui­ckung von Sprache und Aus­sage, von Form und Inhalt und der Kör­per­lich­keit des Schrei­bens, dieser „maso­chis­ti­schen wun­der­baren Orgie des Entdeckens.“

 

Sofro­nieva, Tzveta: Diese Stadt kann auch weiß sein. Tübingen: Verlag Hans Schiler, 2010.

Wei­tere Infor­ma­tionen unter: www.tzveta-sofronieva.de