Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Thea­ter­ge­schichte wie­der­ent­deckt: Wolf­gang Krö­plins “Spiel-Zeiten und Spiel-Räume des Thea­ters in Europas Osten”

Vom Natio­nal­theater über die Avant­garde und revo­lu­tio­näre Kunst­formen bis hin zur Kul­tur­po­litik im Staats­so­zia­lismus. Der Thea­ter­wis­sen­schaftler und lang­jäh­rige Chef­dra­ma­turg am Schau­spiel Leipzig bettet die Ent­wick­lung des ost­eu­ro­päi­schen Thea­ters in einen brei­teren kul­tur­his­to­ri­schen Kon­text ein.

 

Die Behaup­tung, Europas Kultur sei zum Maß der Dinge für die ganze Welt geworden, ist nicht neu. Genauso bekannt ist die Kritik des Euro­zen­trismus der Wis­sen­schaften, der die Erschei­nungen und Ereig­nisse außer­halb Europas Grenzen oft igno­riert. Fast könnte man meinen, dass jene Gescheh­nisse, die nicht in den Annalen domi­nie­render Geschichtsschreiber_innen fest­ge­halten sind, nicht existieren.

 

In ähn­li­cher Situa­tion befindet sich seit langem Europas Osten. Der zwar in unmit­tel­barer Nähe domi­nie­render Geschichtsschreiber_innen, aber immer noch am Rand der Inter­essen west­eu­ro­päi­scher medialer und wis­sen­schaft­li­cher Dis­kurse steht. In dem die Völker unter der Beset­zung impe­ria­lis­ti­scher Groß­mächte bis ins 20. Jahr­hun­dert ihr bloßes Exis­tenz­recht erkämpfen mussten. Dessen Erin­ne­rungen und Erfah­rungen wäh­rend der sowje­ti­schen Ära im Inneren ver­drängt und im Aus­land als graue Masse abge­wertet wurden. Wes­halb nach dem Fall der Sowjet­union durch den inneren und äußeren Drang, das kom­mu­nis­ti­sche Erbe aus dem Blick zu schaffen, die Ergeb­nisse der jahr­zehn­te­langen, so wider­sprüch­li­chen wie ereig­nis­rei­chen Ent­wick­lungen im gesell­schaft­li­chen sowie kul­tu­rellen Leben aus dem Bereich des Sehens‑, Lesens‑, Wis­sens­werten verschwinden.

 

In diesem Sinne nimmt Wolf­gang Krö­plins Buch, erschienen im Königs­hausen & Neu­mann Verlag, einen beson­deren Stel­len­wert ein, denn die Geschichte des Thea­ters in Europas Osten bekommt hier ihre längst zuste­hende Auf­merk­sam­keit. Der Autor for­mu­liert eine tiefe und grenz­über­grei­fende Kul­tur­ge­schichte dieser Region. Keine leichte Auf­gabe, denn es han­delt sich um einen hoch­gradig hete­ro­genen, poly­glotten, mul­ti­kon­fes­sio­nellen und mul­ti­eth­ni­schen Raum mit flie­ßenden, insta­bilen, meist von den Groß­mächten beliebig gemalten Grenzen. Trotz aller Beson­der­heiten ist ‘seine’ Geschichte aller­dings nicht von den west­eu­ro­päi­schen Ent­wick­lungen zu trennen: Zwar oft ver­spätet und asyn­chron, dringen die Ten­denzen wie die der Auf­klä­rung, Moder­ni­sie­rung und Natio­nen­bil­dungs­pro­zesse in den Osten ein, wofür auch das Theater exem­pla­risch ist. Obwohl ein beacht­li­cher (und zum Ende ver­blas­sender) Teil des Buches der Geschichte der Region von den vor­mit­tel­al­ter­li­chen Zeiten bis zum späten 18. Jahr­hun­dert gewidmet ist, ist die Auf­tei­lung der Erzähl­struktur in drei “Akte der Schöp­fungs­ge­schichte” ost­eu­ro­päi­schen Thea­ters sehr übersichtlich.

 

AKT 1. THEATER IN POLITISCHER FUNKTION: Volks­tra­di­tion im Dienste der Nationenbildung

 

Aus Krö­plins his­to­ri­scher Ana­lyse geht hervor, dass das ost­eu­ro­päi­sche Theater grund­sätz­lich ähn­liche Ent­wick­lungs­sta­dien durch­laufen ist, wie das west­eu­ro­päi­sche: Obwohl die Thea­ter­tra­di­tionen von Land zu Land sich unter­schied­lich ent­wi­ckelten, rei­chen die meisten zu den früh­mit­tel­al­ter­li­chen kar­ne­val­esken Spiel­tra­di­tionen zurück, die später von den all­ge­mein ver­brei­teten christ­li­chen Mys­te­ri­en­spielen und Lehr­stü­cken und schließ­lich vom Drama in Natio­nal­spra­chen ersetzt werden. Das Natio­nal­theater, diese im Westen domi­nie­rende his­to­ri­sche Form, erscheint auch im Osten, wobei die zahl­rei­chen Ama­teur­thea­ter­gruppen der Ent­ste­hung pro­fes­sio­neller Bühnen vor­aus­gehen. Gehin­dert durch die fünf Jahr­hun­dert lange Beset­zung durch die impe­rialen Groß­mächte und all­ge­gen­wär­tige Fremd­be­stim­mung, vie­ler­orts späte Kodi­fi­zie­rung der Natio­nal­spra­chen sowie die Kon­kur­renz mit wan­dernden Thea­ter­truppen aus dem Aus­land und festen Thea­tern der herr­schenden fremd­spra­chigen Eliten, ent­wi­ckeln sich die Natio­nal­theater im Osten ungleich­mäßig und vor­wie­gend im 19. Jahr­hun­dert. Im Gegen­satz zum west­eu­ro­päi­schen “dis­zi­pli­nierten”, ratio­nalen, wirk­lich­keits­treuen, logo­zen­tri­schen und ‘sit­ten­stif­tenden’ Theater, das auf der Basis des Bür­ger­tums und der Ideen der Auf­klä­rung zum Instru­ment mora­li­scher Bil­dung und Ver­brei­tung bür­ger­li­cher Werte wurde, hatte das Theater im Osten andere Ziele, andere Trä­ger­schaften – und schließ­lich seine eigenen künst­le­ri­schen und the­ma­ti­schen Ansätze. An dieser wie an anderen Stellen wird der metho­do­lo­gi­scher Ansatz Krö­plins deut­lich: die Ent­wick­lung des Thea­ters und seiner Formen in Ver­bin­dung sowohl mit den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nissen als auch der prä­genden Ideo­logie zu betrachten.

 

Da das Theater im ost­eu­ro­päi­schen Kon­text eng mit den Nati­ons­bil­dungs­pro­zessen, all­ge­meiner poli­ti­scher und kul­tu­reller Eman­zi­pa­tion sowie mit der Suche nach Iden­tität und Legi­ti­ma­tion der Eigen­staat­lich­keit der mittel‑, südost- und ost­eu­ro­päi­schen Völker ver­bunden war, haben his­to­ri­sches Drama und Lust­spiele beson­dere Ver­brei­tung bekommen. Wäh­rend ers­teres die Suche nach Grün­dungs­my­then unter­stützte, taugte zwei­teres zur All­tags­kritik. Bemer­kens­wert und fast klassen-nivel­lie­rend waren die “Wir­kungs­stra­te­gien” und Methoden sol­chen Thea­ters, das im Gegen­satz zu hege­mo­nialen Kul­turen der impe­ria­lis­ti­schen Groß­mächte keinen eli­tären Cha­rakter haben sollte, um brei­tere Bevöl­ke­rungs­schichten zu errei­chen. Durch diese “Wir­kungs­stra­te­gien” ist zu erklären, dass die älteren Tra­di­tionen des Jahr­markt­thea­ters sowie das Volks­tüm­liche, Kar­ne­val­eske, Mär­chen­hafte, Phan­tas­ti­sche, Irra­tio­nale, die aus dem west­eu­ro­päi­schen Theater ver­drängt wurden, auf den ost­eu­ro­päi­schen Bühnen bis zum Macht­an­tritt des Rea­lismus ihren Platz gefunden haben. Der Reich­weite und “Kri­tik­fä­hig­keit” dieses Thea­ters ist zu ver­danken, dass z.B. die Auf­füh­rungen der Pup­pen­spiele in Bal­kan­län­dern oft zu Stö­rungen der öffent­li­chen Ord­nung führten. Oft wurden die Ver­an­stal­tungen der Lese­ver­eine im Süd-Osten oder Gesangs­ver­eine in bal­ti­schen Län­dern “zu […] Mons­ter­auf­füh­rungen”, die neben dem gemein­samen Gesang oder Rezi­ta­tionen patrio­ti­scher Texte kleine Thea­ter­stücke, Volks­tanz und sogar Akro­batik ein­be­ziehen konnten.

 

Unter sol­chen Bedin­gungen machte sich das Theater, das vie­ler­orts noch nicht pro­fes­sio­nell oder insti­tu­tio­na­li­siert war, eine poli­ti­sche, gar poli­ti­sie­rende Funk­tion zu eigen und wurde zum Sprach­rohr sowohl für die Kritik der all­täg­li­chen Unge­rech­tig­keit als auch der gene­rellen poli­ti­schen Fremd­be­stim­mung und kul­tu­rellen Hege­monie. Dabei ist inter­es­sant, dass in den Dis­kus­sionen über Ästhetik “weniger der Streit und die Dif­fe­renz ver­schie­dener Kon­zepte der Aus­dif­fe­ren­zie­rung zum Tragen kommen als viel­mehr ihre his­to­risch-kri­ti­sche Bezie­hung auf- und zuein­ander”, was das ost­eu­ro­päi­sche Theater von dem west­eu­ro­päi­schen prin­zi­piell unterscheidet.

 

AKT 2. AVANTGARDE

 

War die Ent­wick­lung des Thea­ters in Ost­eu­ropa im 19. Jahr­hun­dert für die im Westen geschrie­bene Welt­thea­ter­ge­schichte eine unbe­merk­bare, eher lokal bedeu­tende und mit innen­po­li­ti­schen Zielen ver­knüpfte Erschei­nung, so ändert sich die Lage schlag­artig zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts. Unzu­frieden mit der Kunst der alten bür­ger­li­chen Ord­nung befanden sich die Kunst­schaf­fenden in ganz Europa auf der Suche nach neuen uni­ver­salen künst­le­ri­schen Formen und Methoden. Im poly­zen­tri­schen Ent­wick­lungs­pro­zess der Avant­garde wurde – in unter­schied­li­chem Maße – genau Europas Osten zu einem der Angel­punkte der Gescheh­nisse. Was in den lokalen Kunst­szenen frag­men­tiert vor­handen war, wurde zum Teil einer gemein­samen Strö­mung, die die ganze euro­päi­sche Kultur ver­än­dert hat. Dazu gehören die kubis­ti­sche “Skupina”-Gruppe in Prag, die unga­ri­schen “Aktivist_innen” um Lajos Kassák, die Gruppe “Bunt” in Posen, die “For­misten” in Krakau, der in Wizebsk wir­kende Marc Chagall, Ėl‘ Lisi­ckij [El Lis­sitzky] und Kasimir Malevič [Kasimir Male­witsch]. Auch die Bau­haus-Bewe­gung ist bei­spiel­haft: in der von Walter Gro­pius in Weimar gegrün­deten Kunst­schule unter­rich­teten unter anderem Vasilij Kan­din­skij [Was­sily Kan­dinsky] und László Moholy-Nagy. Als trei­bende Kraft spielte die Okto­ber­re­vo­lu­tion neben dem Kri­sen­zu­stand des Ersten Welt­krieges eine beson­dere Rolle und setzte bahn­bre­chende Pro­zesse in Gang; “eine Zeit der tau­send­jäh­rigen Hoff­nung”, die es den Künsten erlaubte, zusammen mit den sozi­al­re­vo­lu­tio­nären poli­ti­schen Kräften die Welt- und Lebens­ord­nung neu zu gestalten und die Kunst in die All­tags­praxis ein­zu­führen. In der Ent­wick­lung der Avant­garde sieht Krö­plin eine Mög­lich­keit der Befreiung ost­eu­ro­päi­scher Künste aus der “befürch­teten pro­vin­zi­ellen Enge” und von dem Blick ein­schließ­lich in sich hinein – und unter­streicht dabei die Rolle der ost­eu­ro­päi­schen Künstler_innen in der Erschaf­fung neuer inter­na­tional und uni­versal geprägter ästhe­ti­scher Kanone.

 

Begeis­tert belegt Krö­plin mit zahl­rei­chen Bei­spielen, wie das Thea­ter­leben schon wäh­rend der ver­hee­renden revo­lu­tio­nären Kämpfe, z.B. in der Sowjet­union, auf­blühte. Dabei, so Bern­hard Reich ganz im Sinne Krö­plins, wurde “das Volk mit wirk­li­cher Kunst (bei­leibe keinem Sur­rogat!)” ver­sorgt, “bevor es genug Brot und Frieden hatte”. Volks­tüm­liche, spon­tane und impro­vi­sierte Thea­ter­formen kamen zurück auf die Bühne. Das bereits von Edward Gordon Craig und Adolphe Appia kri­ti­sierte logo­zen­tri­sche Theater wurde zugunsten der bra­chialen phy­si­schen Büh­nen­sprache (wie Vse­volod Mejerchol‘ds Bio­me­chanik) und den visu­ellen Ele­menten, ein­schließ­lich dem Film gelie­hener Mon­ta­ge­technik (wie bei Erwin Pis­cator), von der Bühne gedrängt. Umge­kippt wurde das Ver­hältnis zwi­schen den Kunstproduzent_innen und Rezipient_innen, wobei es zur aktiven Teil­nahme der Zuschauer_innen am im Theater statt­fin­denden Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­zess kam: Das natu­ra­lis­ti­sche Vor­spiel-Theater wurde durch das Mit­denk- und Mit­spiel-Theater ersetzt. Dabei wurde die Ent­hül­lung des Illu­si­ons­cha­rak­ters der auf der Bühne dar­ge­stellten Rea­lität und die Ver­ab­schie­dung von der berühmten sta­nis­law­ski­schen vierten Wand zu einem der wich­tigsten Merk­male der Thea­ter­ent­wick­lung jener Zeit, die sowohl bei Evgenij Vacht­angov [Jew­geni Wacht­angow], selbst Schüler Kon­stantin Sta­nis­lavs­kijs [Kon­stantin Sta­nis­lawski], und Vse­volod Mejerchol’d [Wsewolod Mey­er­hold] als auch bei Erwin Pis­cator und später in der kris­tal­li­sierten Form in Ber­tolt Brechts epi­schem Theater zu finden war. Ver­mut­lich weil es bereits eine Viel­zahl der For­schungs­werke gibt, die sich mit diesen schon kano­nisch gewor­denen Thea­ter­formen beschäf­tigen, gibt Krö­plin ledig­lich eine kurze Ein­füh­rung zu ihren ästhe­ti­schen Prin­zi­pien, dafür aber eine umfang­reiche Über­sicht der ost-euro­päi­schen Künstler_innen und Künstler_innengruppen der Avant­garde und ihrer Positionen.

 

Die Über­le­gungen Krö­plins zum abrupten Ende der Avant­garde und des Thea­te­r­ok­to­bers sowie dem Über­gang mit der sozia­lis­ti­schen Trans­for­ma­tion in der Sowjet­union der 1930er Jahre sind beson­ders wichtig. Obgleich die Dis­kus­sion über den Nie­der­gang der revo­lu­tio­nären Künste in der Sowjet­union oft auf den sta­li­nis­ti­schen Terror redu­ziert wird, geht Krö­plin einige Schritte weiter und nimmt die objek­tiven Bedin­gungen im jungen sowje­ti­schen Staat und außer­halb seiner Grenzen unter die Lupe. Was oft als Unter­wer­fung der Künste dem sta­li­nis­ti­schen Regime gesehen wird (wie z.B. im Streit über Dmitrij Šost­a­kovič [Dmitri Schost­a­ko­witsch], der die Musikwissenschaftler_innen in zwei ant­ago­nis­ti­sche Lager geteilt hat), ist für Krö­plin “in seinem Wesen ein objek­tiver Funk­ti­ons­wandel und Adres­sa­ten­wechsel”. Diese sind einer­seits mit der Dring­lich­keit, eine “poli­tisch wie kul­tu­rell ele­men­tare Front­linie gegen den auf­kom­menden Faschismus” in Europa zu bauen, zu erklären; ande­rer­seits mit den “kom­pli­zierten, lang­wie­rigen Auf­gaben der Kul­tur­re­vo­lu­tion beim Aufbau des Sozia­lismus in der Sowjet­union” sowie mit den feh­ler­haften Denk­mus­tern des Kultur- und Staats­ap­pa­rats. Unter­mauert wurde dies 1934, als der sowje­ti­sche Ideo­loge Andrej Ždanov [Andrei Schd­anow] seine Thesen über den Sozia­lis­ti­schen Rea­lismus als die einzig mög­liche und ver­bind­liche künst­le­ri­sche Methode vor­trug. Eine Methode, die die neue Lebens­ord­nung und Denk­weise in einer immer noch wider­sprüch­li­chen und “tief in kapi­ta­lis­ti­schen Vor­stel­lungen gefan­genen” Gesell­schaft auf­bauen und sta­bi­li­sieren sollte, so Brecht. Dies resul­tierte in der Äch­tung und Repres­sion meh­rerer Künstler_innen und Kunst­strö­mungen im Kampf gegen Deka­denz, For­ma­lismus und Moder­nismus, die zu Schimpf­wör­tern wurden, sowie im Rück­griff auf Methoden des Rea­lismus des 19. Jahr­hun­derts, wobei jed­wede Abwei­chung von den offi­zi­ellen Linien der Rea­li­täts­dar­stel­lung nicht akzep­tiert wurde. Im Gegen­teil zu vielen Forscher_innen, z.B. Boris Groys, wird hier die Auf­merk­sam­keit nicht allein auf die Durch­set­zung der Kunst nach den Vor­bil­dern des Sta­li­nismus zuge­spitzt. In seiner Ana­lyse nimmt Krö­plin eine brei­tere Per­spek­tive ein und unter­sucht neben den glo­balen kul­tur­his­to­ri­schen Pro­zessen auch die intrin­si­schen gesell­schaft­li­chen und ideo­lo­gi­schen Wider­sprüche, ohne dabei die dra­ma­ti­schen Folgen sowje­ti­scher Kul­tur­po­litik der 1930er zu rechtfertigen.

 

AKT 3. THEATER DES STAATSSOZIALISMUS UND SEINE PARALLELWELTEN

 

Nach den ver­hee­renden Ereig­nissen des Zweiten Welt­krieges beginnt der dritte Akt der Kultur- und Thea­ter­ge­schichte dieser Region. Nach der Grün­dung der sowje­ti­schen Volks­de­mo­kra­tien gab es im Klima der all­ge­meinen Libe­ra­li­sie­rung und Welt­of­fen­heit einen “erstaun­li­chen Wild­wuchs” der Kultur- und Thea­ter­prak­tiken, die Krö­plin als nahezu plu­ra­lis­tisch bezeichnet. Es ent­standen viele neue Theater, ein­schließ­lich auf den Spra­chen der Min­der­heiten; die Reper­toires waren bunt gemischt; dabei stieg die Anzahl der Zuschauer_innen rasant an. Das Theater, wie z.B. Pis­cator es sich erträumte, wurde zugäng­lich für breite Bevölkerungsschichten.

 

Aller­dings folgte Ende der 1940er schon bald wieder das ‘Anziehen der Schrauben’ im gesell­schaft­li­chen Leben, und bis nach Sta­lins Tod ver­wan­delte sich das Theater ins Sprach­rohr der staat­li­chen Ideo­logie. In den Ver­su­chen des Staates, ein idea­li­siertes Bild der sozia­lis­ti­schen Rea­lität und meist abs­trakte ideo­lo­gi­sche Vor­bilder durch­zu­setzen, sieht Krö­plin die Ver­leug­nung einer “kri­ti­schen und offenen Hal­tung zu den Wider­sprü­chen der Rea­lität” zugunsten dem ersehnten, jedoch “eher har­mo­ni­sie­renden Ideal”. Wie es Boris Groys harsch for­mu­lierte, das Kunst­werk stellte sich nicht “dem Urteil des Zuschauers, son­dern viel­mehr beur­teilte – und ver­ur­teilte” (…) “den Zuschauer”, der sich fragen musste, ob er “inmitten dieses Kunst­werkes” leben konnte – und zu leben ver­diente, “ohne seine Schön­heit zu stören”. Erschwert wurde die Leug­nung der immer noch prä­senten, aber ver­tuschten kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nisse durch die “linear-chi­li­as­ti­sche Geschichts­auf­fas­sung” der Par­tei­füh­rung, durch ihr mecha­nis­ti­sches, gar deter­mi­nis­ti­sches Denken und die Vor­stel­lung, dass “der radi­kale Auf­bruch nun gera­de­wegs ins “Gol­dene Zeit­alter” oder künf­tige Para­dies führe”, was Walter Ben­jamin schlicht als “sturen Fort­schritts­glaube” bezeichnet hat. Diesen “Fort­schritts­glaube” teilt Krö­plin nicht und kri­ti­siert dieses Denk­muster, das schon den Vor­den­kern des Mar­xismus und ihrer Über­zeu­gung in der Unaus­weich­lich­keit des Kom­mu­nismus als auf den Sozia­lismus fol­gende Ent­wick­lungs­stufe entstammt.

 

So wurde den Künsten – auch dem Theater – jeg­liche ernst­hafte kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lungen sowie die Suche nach neuen Methoden unter­sagt. Ver­wan­delt in das “mono­lo­gi­sche”, auf dem Sozia­lis­ti­schen Rea­lismus basie­rende Vor­spiel-Theater, blieb es in der Rolle als Instru­ment des Staates, auch bis nach Sta­lins Tod. Inter­es­sant ist, dass die sowje­ti­sche Kul­tur­po­litik durch die “selek­tive Tra­di­ti­ons­be­stim­mung” (hier und an anderen Stellen wäre ein vor­sich­ti­gerer Umgang mit poli­tisch kon­no­tierten Begriffen wün­schens­wert) gekenn­zeichnet wurde: Obwohl die Erfah­rungen meh­rerer Kunst­strö­mungen, vor allem der Avant­garde, aus­ge­löscht wurden, fiel die Wahl auf den bür­ger­lich geprägten Rea­lismus und seine Methoden (in großem Maße in der kon­ser­va­tiven Auf­fas­sung von György Lukács) sowie – auch bemer­kens­wert selektiv – auf manche Ele­mente des natu­ra­lis­ti­schen Insze­nie­rungs­kon­zeptes Kon­stantin Sta­nis­lavs­kijs. Dabei tut Wolf­gang Krö­plin das Theater jener Epoche, ent­gegen anderer Stimmen, nicht als ein des Ein­trages im Buch der Thea­ter­ge­schichte unwertes Phä­nomen ab. Mit der Theorie unter­schied­li­cher Kultur- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kreis­läufe – der offi­ziösen und der Par­allel- oder Gegen­kultur – gelingt es ihm, das Thea­ter­leben in den Ost­block-Län­dern – beson­ders nach der Ent­sta­li­ni­sie­rung – als viel­fältig und inno­vativ herauszuarbeiten.

 

Bereits im ersten Kreis der offi­ziösen Kultur hebt er neben dem staats­kon­formen Theater ein anderes “Seg­ment” des Kul­tur­le­bens hervor. Dieses Rand­phä­nomen auf der Grenze des Erlaubten sind all jene Thea­ter­schaf­fende, die ver­suchten, ihrer in insti­tu­tio­na­li­sierten Häu­sern ver­wen­deten Thea­ter­sprache eine unter­schwel­lige kri­ti­sche Note zu ver­leihen. Dieses Theater und seine Sprache war durch die ver­schlüs­selte Kom­mu­ni­ka­tion, das Gro­teske und Absurde, die Anspie­lungen und Andeu­tungen, Allu­sionen und Para­beln gekenn­zeichnet, die es den Künstler_innen erlaubten, kri­ti­sche poli­ti­sche Per­spek­tiven zu über­mit­teln, ohne dass es als offene Kritik ent­larvt werden konnte. Schritt für Schritt haben die Thea­ter­schaf­fenden ihre Spiel-Räume erwei­tert, bis schließ­lich Jerzy Gro­tow­skis Armes Theater und Hap­pe­nings-ähn­liche Auf­füh­rungen mit starker Regie­prä­senz von Tadeusz Kantor, Jurij Lju­bi­movs [Juri Lju­bimow] unter­schwel­lige Gesell­schafts­kritik und Ana­tolij Vasilʹevs [Ana­toli Was­siljew] expe­ri­men­telles Kon­zept des Thea­ter­la­bo­ra­to­riums in den 1970er und 1980er zur Welt kamen.

 

Im zweiten Kreis­lauf der Par­allel- oder Gegen­kultur findet man jedoch ver­bo­tene Under­ground-Kunst. In diesem Seg­ment befanden sich sowohl die­je­nigen, die Kunst jeg­li­cher Poli­ti­sie­rung ent­ziehen wollten und für ihre Frei­heit plä­dierten als auch die, deren Kunst offene poli­ti­sche Kritik äußerte. Ein Para­de­bei­spiel aus der Lite­ratur ist der Sami­sdat. Das Theater dieses Seg­ments ist, so Krö­plin, noch wenig erforscht, dafür aber extrem viel­seitig und inno­vativ, oft per­for­mativ und syn­äs­the­tisch, reprä­sen­tiert nicht zuletzt durch Aktionen und Hap­pe­nings, bei denen der Akti­ons­cha­rakter und die Bot­schaften wich­tiger waren, als das Kunst­werk selbst. Ein ergän­zendes Bei­spiel außer­halb des Buches wäre die von Sergej Kurёchin [Sergei Kur­jochin] gegrün­dete, gelei­tete und diri­gierte Pop-Mecha­nika -, (eigent­lich) eine Musik­gruppe, deren Auf­tritte so viele Ele­mente anderer Künste, ein­schließ­lich des Thea­ters, ver­ei­nigten, dass man es bei­nahe ein Under­ground-Gesamt­kunst­werk nennen könnte. Aller­dings merkt Krö­plin bei sol­chen Kunst­formen an, dass es keine feste Grenze zwi­schen den drei oben genannten Seg­menten, son­dern “zahl­reiche Sta­dien des all­mäh­li­chen Über­gangs vom Unter­grund zur offi­zi­ellen Aner­ken­nung” gab (nach Kri­vulin). Eine sati­ri­sche Aktion des bereits erwähnten Kur­jёchins wenige Monate vor dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union ist ein Para­de­bei­spiel davon, wie die inof­fi­zi­elle Kultur schließ­lich den Damm brach: Bei einem Auf­tritt im Lenin­grader Fern­sehen ver­suchte er mit seiner im ver­blüf­fend ernst­haften Ton und scheinbar in wis­sen­schaft­li­cher Sprache gehal­tenen Rede zu beweisen, Lenin sei eine Radio­welle und ein Pilz (und Pilz­kon­su­ment). So über­zeu­gend war diese Farce, die dazu noch im staat­li­chen Fern­sehen mit seinem Wahr­heits­mo­nopol erschien, dass manche Zeit­zeugen von offi­zi­ellen Gegen­er­klä­rungen der Regie­rung berichteten.

 

So zeigt Wolf­gang Krö­plin in seinem umfang­rei­chen Werk auf, dass das Theater im Kon­text poli­ti­scher Unfrei­heit nicht nur als wich­tiges Instru­ment des poli­ti­schen Kampfes funk­tio­nierte, son­dern beson­ders als ästhe­ti­sche Praxis fun­gierte und als sol­ches evo­lu­tio­niert hat. Gene­rell ist die Breite seiner tief­grei­fenden kul­tur­his­to­ri­schen Ana­lyse der der Werke Joa­chim Fie­b­achs nahe. Aller­dings fehlt in diesem Buch, das das Theater sezie­rend-genau in seiner Genese vor­zu­stellen ver­sucht, ein voll­stän­diges Lite­ra­tur­ver­zeichnis sowie Hin­weise auf die Quellen, denen die bunte Viel­falt der Künstler_innen Ost­eu­ropas in Krö­plins enzy­klo­pä­disch detail­lierten Sek­tionen über Theater ein­zelner Länder oder Regionen entstammt.

Lite­ratur

 

Krö­plin, Wolf­gang: Spiel-Zeiten und Spiel-Räume des Thea­ters in Europas Osten: Seiten einer Kul­tur­ge­schichte – von den Anfängen bis zum sozia­lis­ti­schen Ende. Würz­burg 2020.

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Ben­jamin, Walter (1980): Über den Begriff der Geschichte. In: Goys, Boris; Tie­de­mann, Rolf (Hg.): Walter Ben­jamin, Abhand­lungen, Gesam­melte Schriften.

Bern­hard Reich (1972): Ein­lei­tung. In: Hoff­mann, Ludwig; War­detzky, Dieter (Hg.):  Thea­te­r­ok­tober. Bei­träge zur Ent­wick­lung des sowje­ti­schen Theaters.

Groys, Boris (2003): Mas­sen­kultur der Utopie. In: Groys, Boris; Hol­lein, Max (Hg.): Traum­fa­brik Kom­mu­nismus: Die visu­elle Kultur der Stalinzeit.