Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Über das grö­ßere Übel – Ljud­mila Ulick­ajas Kurz­roman “Eine Seuche in der Stadt”

„Seit Urzeiten ist die Mensch­heit mit schreck­li­chen, epi­de­misch auf­tre­tenden Krank­heiten kon­fron­tiert […]. Eben­falls seit Urzeiten ist die Mensch­heit […] auch mit der Grau­sam­keit von Macht­ap­pa­raten, die im Laufe der sozialen Ent­wick­lung ent­standen [, konfrontiert].“

Eine Seuche in der Stadt (russ. Čuma) beschreibt das Auf­treten einer poten­ziell pan­de­mi­schen Situa­tion im Moskau der 1930er Jahre und wie das Aus­arten der­selben durch den NKWD (Volks­kom­mis­sa­riat für innere Ange­le­gen­heiten) ver­hin­dert wird.

 

Die Geschichte wie­der­holt sich

Ljud­mila Ulick­ajas [Ljud­mila Ulitz­kaja] ursprüng­lich als Dreh­buch gedachtes, 2020 aber als fik­tio­naler Kurz­roman basie­rend auf wahren Bege­ben­heiten ver­öf­fent­lichtes Werk lässt sich ohne wei­teres Hin­ter­fragen sofort in Bezug auf die momen­tane COVID-19 Situa­tion lesen. Das Ver­wun­der­liche daran ist, dass Eine Seuche in der Stadt nicht im Zuge der Corona-Pan­demie ent­stand, son­dern bereits 1978 geschrieben wurde.

1939 bricht in Aser­bai­dschan, in der ehe­ma­ligen UdSSR, die Lun­gen­pest aus und gelangt anschlie­ßend auch nach Moskau. Mit den wenigen Infor­ma­tionen, die Ulickaja durch eine Freundin, die Tochter eines damals in die Bekämp­fung dieser Pest invol­vierten Patho­logen, erhielt, kon­stru­ierte sie ein Pan­de­mie­aus­bruchs-Sze­nario in der Haupt­stadt mit Fokus auf dem Partei- und Unter­drü­ckungs­ap­parat nach. Dieser über­wachte und kon­trol­lierte zur dama­ligen Zeit sämt­liche, sowohl poli­ti­sche als auch pri­vate Geschicke inner­halb des Staates. In ihrem Nach­wort schreibt die Autorin, dass es sich, bis auf den Patho­logen Goldin, bei „alle[n] han­delnden Per­sonen, auch wenn sie auf reale Vor­bilder zurück­gehen“, um fik­tive Indi­vi­duen handle und sie fügt lapidar hinzu, dass „das […] Ende erfunden ist“.

Das Thema des Buches ist ein unge­wöhn­li­ches, da das Auf­treten der Lun­gen­pest und die mit ihr ein­her­ge­henden pan­de­mi­schen Zustände in der Sowjet­union 1939 in der Bevöl­ke­rung kaum bekannt waren. Betrachtet man aber die Bio­grafie der Autorin, die 1943 geboren wurde und einen Abschluss in Bio­logie sowie eine Kar­riere als Gene­ti­kerin vor­zu­weisen hat, ist ihre Fas­zi­na­tion für das Thema aus einer natur­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­tive nachvollziehbar.

 

Pest und Impfstoff

Die Geschichte ist ganz im Sinne eines Dreh­buchs aus der Per­spek­tive eines unbe­tei­ligten Betrach­ters geschrieben, genauso bezeich­nend ist die Art des sze­ni­schen Erzäh­lens mit seinen teils langen Gesprächs­se­quenzen in direkter Rede. Am Anfang des Kurz­ro­mans werden Per­sonen in nur kurzen Abschnitten vorgestellt. Der Aus­bruch der Pan­demie in Moskau wird von einem Pest-For­scher namens Rudolf Mayer, der mit der Ent­wick­lung eines Impf­stoffs beschäf­tigt war und sich im Zuge der Her­stel­lung infi­ziert hat, ver­ur­sacht. Er reist in die Haupt­stadt, um seine Fort­schritte vor dem Kol­le­gium des Volks­kom­mis­sa­riats für Gesund­heit zu prä­sen­tieren. Als noch am selben Abend Sym­ptome auf­treten und die Krank­heit aus­bricht, beginnt ein Wett­lauf gegen die Zeit. Alle Kon­takt­per­sonen des For­schers müssen iso­liert werden. Es geht schnell: Bekannte, Zug­pass­giere, Hotel­an­ge­stelle werden ver­haftet und müssen sich unmit­telbar darauf in Qua­ran­täne begeben.

 

„Die Pest zu Zeiten der poli­ti­schen ‚Pest‘“

Das Haupt­au­gen­merk des Buches liegt auf der Macht- und Ein­fluss­nahme des NKWD, des sowje­ti­schen „Innen­mi­nis­te­riums“ bzw. des Geheim­dienstes. Eine Seuche in der Stadt, weil ursprüng­lich als Dreh­buch geschrieben, liest sich auch als sol­ches. Aller­dings ist die kurze, teils abge­hackte und schnelle Auf­ein­an­der­folge von Ereig­nissen bezeich­nend für die Arbeit des NKWD. Anfangs wirkt diese Schreib­weise noch stö­rend, sobald die Ver­haf­tungen durch die Geheim­po­lizei aber beginnen, ver­mit­telt sie den Leser_innen ein Gefühl von Getrie­ben­heit und Gehetzt­heit. Die schnelle Auf­ein­an­der­folge dieser nüch­ternen Iso­la­tion mög­li­cher Infi­zierter lässt den Über­blick ver­lieren, gibt aber erbar­mungslos Ein­sicht in Über­wa­chung und Effi­zienz dieser nahezu all­wis­senden Institution.

In der Frage „Nur die Pest?“ einer Ehe­frau, die ihren Mann aus der Qua­ran­täne holen darf, zeigt sich am Ende des Buches der Gleichmut der Men­schen gegen­über epi­de­mi­schen Krank­heiten, die vor dem Hin­ter­grund der gefürch­teten Ver­haf­tungen durch den NKWD fast bedeu­tungslos erscheinen.

 

Die Bekämp­fung einer Pandemie

In einem Inter­view ant­wortet Ljud­mila Ulickaja auf die Frage, ob sie Par­al­lelen zwi­schen dem, was damals, und dem, was heute pas­siert, sehe, damit, dass es damals sowie heute keine Offen­heit gebe, momentan die Behörden aber völlig ver­wirrt wirken.

Die Frage, die sich beim Lesen von Eine Seuche in der Stadt aber zwangs­läufig stellt, ist: Gibt es auch posi­tive Seiten an einer sol­chen Über­wa­chungs­in­sti­tu­tion? Und, mit Blick auf das ver­gan­gene Jahr 2020/21 und die COVID-19 Pan­demie: Hätte die Eska­la­tion der Pan­demie durch här­teres Durch­greifen der Legis­la­tive und Exe­ku­tive ver­hin­dert werden können?

 

Lite­ratur

Ulickaja, Ljud­mila: Eine Seuche in der Stadt. Aus dem Rus­si­schen von Ganna-Maria Braun­gardt. Mün­chen 2020.

 

Wei­ter­füh­rende Links

Ljud­mila Ulickaja im Gespräch mit dem Kri­tiker Sergej Sdobnov in “Esquire”, 2020.