Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Über Schweben und Fall auf dem „Bel­grader Fes­tival für euro­päi­sche Lite­ratur“: Dževad Karahasan im Inter­view mit novinki

Bel­grad – die Stadt der Fes­ti­vals. Ges­tern ging das „Bel­grader Fes­tival der europäischen Lite­ratur“ (22. – 25.06) zu Ende, das in Koope­ra­tion mit dem Goethe-Institut vom Ver­lags­haus „Arhi­pelag“ aus­ge­tragen wurde. Einer der vier lite­ra­ri­schen Gäste war Dževad Karahasan, mit dem novinki über seinen neu erschie­nenen Roman Uvod u leb­denje (2022) sprach. 

 

„Nach zwei Jahren Corona-Pause findet unser Fes­tival erst­mals wieder in Prä­senz statt“, sagt mit Erleich­te­rung der Ver­leger von „Arhi­pelag“ Gojko Božović. Drei Abend­pro­gramme wid­meten sich primär der Frage nach Kultur und Frei­heit in Zeiten der Angst. Auf das erste Autoren­ge­spräch am 22.06 mit Dževad Karahasan über seinen neuen Roman „Uvod u leb­denje“, eschienen im Verlag „Bulevar Books“ in Novi Sad, folgte am zweiten Fes­ti­valtag eine Lesung des deut­schen Schrift­stel­lers Ingo Schulze aus dem Roman „Adam und Evelyn“ (2008), der aus Berlin anreiste. Am dritten und letzten Tag des Fes­ti­vals spra­chen die Bel­grader Schrift­stel­lerin Nina Savčić und der slo­we­ni­sche Schrift­steller und Über­setzer Jani Virk.

Das Ori­ginal kann ⇒ hier ein­ge­sehen werden.

Das Inter­view wurde im Bos­ni­schen (Jeka­vica) geführt und im ser­bi­schen Stan­dard (Eka­vica) transkribiert.

novinki: Fol­gend auf das gest­rige Eröff­nungs­panel „Kultur in Zeiten der Angst“ (Gäste: Milena Bogavac, Bla­goje Pan­telić, Gojko Božović; Mode­ra­tion: Marija Nenezić) spra­chen Sie in Ihrem Autoren­ge­spräch über Frei­heit und die Angst vor der Frei­heit. Was Ihr neues Buch betrifft, stellt sich mir die Frage, ob nicht „Die Ein­füh­rung ins Schweben“ (Uvod u leb­denje) eben­dieser Zustand ist, wenn wir lernen zu fliegen, wenn immer die Mög­lich­keit des Falls gegeben ist, wir stetig Gefahr laufen in den Abgrund zu stürzen. Erzählt Ihr Buch vom Fall als Misserfolg? 

 

Dževad Karahasan: Ja, das ist eine gute Frage. Für den Schrift­steller ist es schwer, sein Buch zu defi­nieren, es in kurzen Sätzen wie­der­zu­geben. Denn das, was ich dar­über sagen kann, habe ich im Buch geschrieben. In jedem Falle stimme ich Ihnen zu, dass das Schweben Hoff­nung und Gefahr zugleich ist; Schweben kann heißen zu fliegen, absolut frei zu sein; end­gültig, defi­nitiv frei. Und gleich­zeitig ist es Fall, Abgrund und Gefahr. Es ist über­haupt nicht zufällig, dass – sagen wir für die Agnos­tiker, eine wich­tige Bewe­gung und Denk­schule, beim Über­gang aus der alten in die neue Ära – jede Exis­tenz, jedes Leben der Fall ist, der Fall aus der Ewig­keit in die Zeit.

 

novinki: Das erin­nert mich u.a. an den „Mythos des Sisy­phos“ von Albert Camus und den Stein, der trotz großer Anstren­gungen immer und immer wieder den Berg hinunterrollt.

 

D.K.: Ja, stellen Sie sich jetzt vor, dass dieser Stein zu schweben beginnt. Der Flug ist unab­dingbar mit der Mög­lich­keit des Falls ver­bunden. Dieses Buch ist tat­säch­lich der Ver­such die Ambi­va­lenz alles Sei­enden zu zeigen, all das zu zeigen, was min­des­tens zwei­deutig ist. Ein­deu­tig­keit, von der uns immer weis gemacht wird, dass sie gut, wün­schens­wert ist, ist nur mög­lich in Kon­strukten, in künst­li­chen ‘Quasi‘-Welten in der Arith­metik; die Ein­deu­tig­keit ist also überall dort unmög­lich, wo das Leben Körper und Form hat. Im Leben, in der Wirk­lich­keit gibt es keine Ein­deu­tig­keit, denn eine Ein­di­men­sio­na­lität ist hier unmög­lich. Die Exis­tenz ist immer sehr kom­plex. Und ich habe ver­sucht, über diese Mehr­di­men­sio­na­lität, über die Viel­deu­tig­keit in meinem Buch zu erzählen.

 

novinki: Frei­heit ist, wie Sie ges­tern sagten, das Unter­scheiden bzw. Dif­fe­ren­zieren zwi­schen Mei­nungen und Gedanken. Das, was Sie jetzt soeben über die Ein- und Zwei­deu­tig­keit gesagt haben, erin­nert mich wie­derum daran, was Sie ges­tern auf dem Podium sagten: Der zeit­ge­nös­si­sche Mensch lebt gemüt­lich, aber völlig unecht. Bei jed­mög­li­chem Pro­blem (Familie, Arbeit etc.) wird ein_e Expert_in von außen her­an­ge­zogen, die Lücken im “Per­fekten” werden durch die Exper­tise anderer gefüllt, auch weil die Arbeits­tei­lung extrem aus­ge­prägt ist (Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft, Aus­la­ge­rung von Ent­schei­dungen, Ratio­na­li­sie­rung von Lebens­be­rei­chen). Ist es die mensch­liche Erfah­rung, d.h. Erfolge, Fehler und auch Miss­erfolge, die uns fehlt?

 

D.K.: Ich denke ja. Schauen Sie, ich denke, dass vor­der­gründig die Mys­ti­fi­zie­rung von Erfolg ein ernstes Pro­blem der heu­tigen Zeit ist. Wir ver­gessen den schönen Aus­spruch von Pytha­goras. Er sprach unent­wegt davon, dass „der Weg das Ziel ist“, beim Ziel ankommen bedeutet etwas zu beenden. Wir müssen den Sinn im Weg, im Reisen, in der Bewe­gung sehen, nicht im Ziel. Wir mys­ti­fi­zieren fürch­ter­lich den Erfolg, wir ver­gessen die große Weis­heit, die uns die grie­chi­sche Tra­gödie gelehrt hat, näm­lich dass man aus Nie­der­lagen, aus Miss­erfolgen lernt. Erfolg und Sieg bringen keine Erkenntnis, aber wir Men­schen sollten nach ihr streben.

Wir denken, dass Schei­tern etwas sehr Schlechtes, etwas aus­schließ­lich Schlechtes ist. Das muss es aber über­haupt nicht sein. Wir finden, dass es etwas außer­or­dent­lich Nega­tives ist auf­zu­geben, Fehler zu machen. Uns drängt sich die Maschine als Ideal auf. Die Maschine sagt, mach keine Fehler, mach keine Fehler, weil sie nicht denkt.

 

novinki: Können wir also Ihren Roman auch als einen exis­ten­zia­lis­ti­schen deuten?

 

D.K.: Jein. Ja und Nein. Die exis­ten­zia­lis­ti­sche Phi­lo­so­phie und Lite­ratur ist tat­säch­lich meinem Roman sehr nah. Exis­ten­tia­listen haben uns davor gewarnt, dass wir ins Leben geworfen sind. Sie haben uns davor gewarnt, dass wir uns unsere Geburt nicht aus­ge­wählt haben. Und in diesem Sinne ist mein Roman exis­ten­zia­lis­tisch, er ist gewis­ser­maßen mein Gespräch mit den großen Leh­rern Krleža, Satre und Camus. Aber ande­rer­seits haben Sie in meinem Roman nicht diesen Wider­stand gegen die Not­wen­dig­keiten, den die Exis­ten­tia­listen immer haben. Meine Helden sind in der Tat bereit, sich damit abzu­finden, dass es Dinge gibt, die wir nicht aus­wählen bzw. bestimmen können, weil auch unsere Wahl sehr feh­ler­haft sein kann. Und das, was uns auf­ge­zwungen wird, kann prin­zi­piell auch gut sein. Ver­stehen Sie, der Exis­ten­tia­lismus ist extrem stark vom Gefühl des Men­schen geprägt, vom mensch­li­chen Bedürfnis, dass alles, was uns wider­fährt, unsere Wahl ist. Frei­heit ist untrennbar mit der Mög­lich­keit der Wahl verbunden.

 

novinki: Ja, und wenn Camus sagt, die wich­tigste aller phi­lo­so­phi­schen Fragen ist die Frage nach dem Selbst­mord, was würden Sie sagen?

 

D.K.: Ja, natür­lich ist sie wichtig, aber es gibt auch andere phi­lo­so­phi­sche Fragen, die glei­cher­maßen wichtig und wesent­lich sind, zum Bei­spiel die Frage nach der Liebe, die Bezie­hung zwi­schen Notwendigkeiten/Zwängen und der Frei­heit des Aus­wäh­lens. Und solange unsere Frei­heit auf die Mög­lich­keit des Todes oder Selbst­mords beschränkt ist, bieten sich nicht viele Mög­lich­keiten. In meinem Roman „Die Ein­füh­rung ins Schweben“ suchen und ver­su­chen die Helden Frei­heit in Rela­tionen zu sehen, die mehr Mög­lich­keiten bieten. Der Exis­ten­tia­lismus redu­zierte die Frage der mensch­li­chen Frei­heit auf eine Oppo­si­tion, die dua­lis­ti­sche Oppo­si­tion. Ja oder Nein. Tod oder Leben. Meine Helden emp­finden das als zu wenig. Das Leben oder die wirk­liche Welt ist nicht so ein­fach, dass man es auf einen arith­me­ti­schen Gegen­satz redu­zieren könnte. Sie wollen, sie sehen, sie glauben fest daran, dass dem Men­schen ein viel brei­teres Spek­trum an Wahl­mög­lich­keiten geboten wird. Und inso­fern ist mein Roman eine Art der Polemik gegen den Existentialismus.

 

novinki: Warum han­delt die Frei­heit von den Formen, von den Grenzen? 

 

D.K.: Ich denke, dass die Frei­heit und all das, was wirk­lich wichtig für unseren Auf­ent­halt auf dieser Erde und in diesem Leben ist und was wir erkennen und wirk­lich begreifen können, immer eine Form bzw. eine Grenze auf­weist. Das, was unend­lich ist, können wir nicht erkennen. Um also über­haupt über Frei­heit nach­denken zu können, um zu wissen, was Frei­heit ist, müssen wir sie in irgend­einer Form erkennen, wir müssen ihr eine bestimmte Form geben. Und eine der Mög­lich­keiten, Frei­heit so zu sehen und zu lernen, besteht darin, Frei­heit als Begeg­nung mit anderen zu defi­nieren. Du bist die Grenze meiner Frei­heit. Das bedeutet: Du bist die Form meiner Frei­heit. Meine Frei­heit nimmt durch mein Gegen­über Form an. Wenn wir die Frei­heit als etwas Unend­li­ches defi­nieren, würden wir ihr die Kon­kret­heit nehmen. Des­wegen ist die moderne, bei unseren Zeit­ge­nossen so beliebte Manier wirk­lich uner­träg­lich: Ich darf alles. Der, der alles darf, ist kein Mensch mehr. Frei­heit müssen wir immer in Bezie­hung mit Ver­ant­wor­tung denken. Wenn meine Frei­heit nicht mehr Sie im Blick hat, dann ist das keine Frei­heit mehr, es ist Gewalt.

 

novinki: Der Epilog in Ihrem Roman hat mich an einige ser­bi­sche bzw. jugo­sla­wi­sche Romane des 20. Jahr­hun­derts erin­nert, in denen die Epi­loge eine wich­tige Rolle für die Erzähl­in­stanz bzw. das Erzählen spielen. Zum Bei­spiel, wenn eine lite­ra­ri­sche Figur vor­gibt, die Erzäh­lung zu beenden (Hasan in „Derviš i smrt“ bei Meša Seli­mović oder Eduard in „Peščanik“ von Danilo Kiš), oder wenn eine Illu­sion bzw. Gleich­set­zung des tat­säch­li­chen Autors mit dem Erzähler im lite­ra­ri­schen Text erzeugt wird, wie im Epilog des Romans „Hodočašće Arse­nija Njego­vana“ von Borislav Pekić. Warum ist es wichtig, dass Rajko Šurup uns die Geschichte des Schwe­bens aus dem Sizi­lien des Jahres 1994 erzählt? 

 

D.K.: Ich mag Ihre Frage, obgleich ich Sie daran erin­nern möchte dass Rajko Šurup keine lite­ra­ri­sche Figur, son­dern der Erzähler ist. Ich kon­stel­liere die Dinge so, dass Rajko Šurup der Autor des Romans ist.

 

novinki: Ja, aber der allei­nige Autor sind tat­säch­lich nur Sie. Worin besteht also Ihr Spiel mit dem Erzähler?

 

D.K.: Ich bin der Autor, sagen wir, aus der Per­spek­tive von außen. Aber aus der Per­spek­tive von innen ist Rajko Šurup der Autor. Das ist ein Per­spek­tiv­spiel. Ich inter­es­siere mich in erster Linie für den Namen dieses Helden, also des Autors. Rajko ist der­je­nige, der im Para­dies (Anm. d. Red.: „raj“ bedeutet Para­dies) wohnt, der­je­nige, der das Para­dies in sich trägt. Und der Name meines Helden, also des Erzäh­lers, ist etwas paradox. Er fun­giert als Vergil, als Anführer, als Mann, der den Peter Hurdt durch die Hölle von Sara­jevo führt – und sein Name ist Rajko. Dieses Spiel des Para­do­xons, des Kon­trasts, ist sehr wichtig. Ich ver­suche, dieses Spiel auf die Bezie­hung zwi­schen Autor, Erzähler und Figur zu über­tragen. Rajko ist gleich­zeitig der Held meines Romans, eine der Roman­fi­guren, und prä­sen­tiert sich defacto als Erzähler, als Autor. Dieses Spiel der Dop­pel­be­leuch­tung ist mir sehr wichtig, weil ich denke, dass es die eigent­liche Grund­lage des Romans ist. Es ist ein Mittel, um tech­nisch die Zwei- und Viel­deu­tig­keit zu zeigen, über die wir zu Beginn unseres Gesprächs gespro­chen haben.

 

novinki: Ich bedanke mich herz­lich für das Interview!

Das Inter­view führte Phi­line Bickhardt.

Bei­trags­quelle: © Arhi­pelag, 2022, URL: https://www.arhipelag.rs/arhipelag-magazin/11-beogradski-festival-evropske-knjizevnosti/