Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Unver­ges­sene Geschichten” – für die einen unver­gess­lich, für die anderen bloß Geschichte

Akkor­de­on­musik, ein Gespräch im Wohn­zimmer, ein Dorf­rund­gang, alte Fotos, Post­karten und Stadt­pläne: Andrzej Wini­szew­skis Film „Unver­ges­sene Geschichten“ (poln. „His­torie nez­apom­niane“. 2017) ist wie ein Fenster zur Ver­gan­gen­heit – es wird für 40 Minuten geöffnet und dann ganz sanft wieder geschlossen. Für einige bleibt es immer prä­sent, für andere ver­flüch­tigen sich die Ein­drücke schnell. 

 

Eine Spu­ren­suche. Die Dar­stel­lung ist sehr intim und per­sön­lich. Fünf Per­sonen werden befragt, im Jahr 2017, zum Zeit­punkt des Drehs sind sie zwi­schen 81 und 93 Jahren alt. Was sie ver­bindet: der Ort Trzębiel, zu Deutsch Triebel. Er liegt nahe der pol­nisch-deut­schen Grenze, lange Zeit gehörte er zu Deutsch­land, heute gehört er zu Polen. Es ist eine Gegen­über­stel­lung: Zwei der Per­sonen sind deutsch, in Triebel geboren, drei Per­sonen pol­nisch und später nach Triebel gezogen.

 

Vom Krieg blieb der Ort wei­test­ge­hend ver­schont. Durch die Nie­der­schle­si­sche Ope­ra­tion, einer Offen­sive der Roten Armee an der deutsch-sowje­ti­schen Front im Februar 1945 wurde ledig­lich die Kirche und eine Tank­stelle zer­stört. Im Film ver­su­chen die Zeitzeug_innen das ehe­ma­lige Stadt­bild gedank­lich zu rekon­stru­ieren und sich an die Bewohner_innen der Häuser zu erin­nern: Günter Dut­sche (*1936 in Triebel) führt das Film­team zum eins­tigen Dorf­platz. Her­bert Poelzig (*1931 in Triebel) erin­nert sich an einen soge­nannten Kolo­ni­al­wa­ren­handel, der im dicken Turm nebenan einen Lager­raum hatte. In diesem wurde neben Sau­er­kraut und Essig selbst­ge­brannter Schnaps gela­gert „Da wurde nur gefragt: Gelber oder weißer Schnaps?“. Gegen­über war ein Flei­scher und daneben muss ein Seiler gewesen sein. Was heute nicht mehr steht gibt es wenigs­tens noch auf Fotos – und wo diese nicht exis­tieren, helfen Stadt­pläne weiter. Alles erin­nernd zu rekon­stru­ieren gelingt jedoch nicht. Es sind bereits 75 Jahre seit Kriegs­ende ver­gangen und mit dem Alter kommt auch das Ver­gessen. Oft fällt der Satz „Das weiß ich nicht mehr.“

 

Nach dem Krieg mussten, im Zuge der „West­ver­schie­bung“ Polens, die Stalin 1945 als Kom­pen­sa­tion für den Ver­lust der Gebiete ein­for­derte, die öst­lich der so genannten „Curzon Linie“ lagen, pol­ni­sche Bewohner_innen der Region die ost­pol­ni­schen Gebiete für die Sowjets räumen und wurden in die deut­schen Ost­ge­biete umge­sie­delt, die dort lebenden Deut­schen wie­derum wurden ins Deut­sche Reich zwangs­aus­ge­sie­delt. Triebel ist einer jener Orte, wo die Deut­schen aus ihren Häu­sern ver­jagt wurden und pol­ni­sche Neuansiedler_innen nach Triebel kamen. Eine schmerz­hafte Erin­ne­rung für die beiden deut­schen Zeit­zeugen. An einem Junitag kam der Befehl, dass alle „raus“ müssen. Inner­halb eines kurzen Zeit­raums wurde das Wich­tigste gepackt, viel konnte aber nicht mit­ge­nommen werden. Günter Dut­sche und Her­bert Poelzig waren damals noch Kinder.

 

Nach und nach fanden die pol­ni­schen Protagonist_innen des Filmes Wła­dysław Zoliński (*1932 in Czer­nica), Olga Wiś­nio­waska (*1924 in Czer­nica; Deutsch Tschirne, 1937–1945 Groß­brück) und Bożena Dani­elska (*1935 in Kościer­zyna; Deutsch Berent) in Triebel ein neues Zuhause. Sie kamen zwi­schen 1946 und 1947, mit kaum etwas. Große Teile Zen­tral­po­lens waren zer­bombt und es stand nur wenig Platz für Bauern zur Ver­fü­gung. Fast alle umlie­genden Dörfer waren schon besie­delt. In Triebel gab es noch Häuser mit Neben­ge­bäuden und Län­de­reien. Der Ort machte einen sau­beren, ordent­li­chen und schönen Ein­druck auf sie. Die guten Häuser rund um den Markt wurden jedoch vor allem von der sowje­ti­schen Armee genutzt. Später brannten sie ab. „Hier konnte man noch wohnen wie ein Mensch, aber uns wurde das nicht erlaubt.“ bedauert Olga Wiś­nio­waska. Der Wie­der­aufbau der ihnen über­las­senen, zum Teil her­un­ter­ge­kom­menen Gebäude kos­tete Kraft und es gab kaum Bau­ma­te­rial. Geld hatte absolut keinen Wert. Es wurde mit Lebens­mit­teln und Dienst­leis­tungen getauscht.

 

Ab 1947 wurden alle leer­ste­henden Gebäude im Ort, und die abge­brannten Gebäude rund um den Markt abge­rissen und abge­tragen und die Ziegel zum Wie­der­aufbau nach War­schau gebracht. Olga Wiś­nio­waska erin­nert sich an schöne Häuser, unter anderem Restau­rants und eine Sport­halle, die sie gerne restau­riert gewusst hätte. Auch Bożena Dani­elska nennt ein Haus, wo nur Türen und Fenster fehlten. Sie und die beiden anderen pol­ni­schen Zeitzeug_innen ver­muten, dass die­bi­sche Banden die Ziegel für den eigenen Bedarf ver­wen­deten oder damit han­delten. Heute hat die Stadt 1350 Einwohner_innen, 1945 waren es fast dop­pelt so viele.

 

Der Film ist in Kapitel geteilt. Die Namen werden in weißer Schrift auf schwarzem Grund prä­sen­tiert. Nach fünf Kapi­teln der Geschichte Trie­bels folgen „Bilder der Kind­heit“ unter­malt von beschwingter Akkor­de­on­musik. Das ehe­ma­lige Schwimmbad spielt darin eine große Rolle: Die beiden Deut­schen und auch ein pol­ni­scher Zeit­zeuge waren dort immer baden. Dort traf man zusammen und erlebte man­chen langen Som­mertag. Beson­ders der Geruch nach Ziga­ret­ten­rauch und Bier ist in Erin­ne­rung geblieben.

 

„Wieder in Triebel“: Günter Dut­sche zeigt sein Geburts- und Wohn­haus. Die pol­ni­schen Zeitzeug_innen erzählen von unzäh­ligen Besu­chen anderer ehe­ma­liger Bewohner. Geschenke wurden aus­ge­tauscht, es wurde auf­ge­tischt und mit Hilfe eines Über­set­zers gemeinsam dis­ku­tiert und gefeiert. Anschlie­ßend kam eine Dan­kes­post­karte. Noch heute kommen deut­sche Per­sonen und wollen sich den Ort ansehen.

 

Die letzte Szene: Die zuvor melan­cho­li­sche Kla­vier­musik setzt aus, Bożena Dani­elska blickt sehr ernst ihre Inter­view­part­nerin an, „Na, das ist wohl mein ganzes Leben“ sagt sie. Dann setzt wieder Kla­vier­musik ein. Etwas lauter und schneller als zuvor, doch immer noch nicht fröh­lich. Sie spie­gelt die Ambi­va­lenz der Erin­ne­rungen wider. Zum einen war und ist Trzębiel ein Zuhause für die Zeitzeug_innen, zum anderen ist mit dem Erzählen auch viel Schmerz und Ver­lust ver­bunden. Die Musik wurde vom Regis­seur Andrzej Wini­szewski eigens für den Film kom­po­niert. Mit der Musik kommt ein schwarzes Bild, auf dem in weißer Schrift der Film­titel steht: Unver­ges­sene Geschichten/ His­torie nez­apom­niane.

 

Dann werden Name, Alter, Geburtsort und jet­ziger Wohnort der Per­sonen gezeigt. Die Namen der Por­trä­tierten fallen zwar schon wäh­rend des Films, alle wei­teren Infor­ma­tionen erfahren die Zuschauer_innen erst ganz zum Schluss. Denn es geht nicht um die bloße Reka­pi­tu­la­tion der bio­gra­phi­schen und his­to­ri­schen Fakten, bei diesem kurzen Doku­men­tar­film geht es vor allem um die per­sön­liche Auf­ar­bei­tung eines bestimmten geschicht­li­chen Aspekts und darum, die Zeitzeug_innen selbst zu Wort kommen zu lassen, sie auf ihre Art und Weise erzählen zu lassen. Das Wissen um den rest­li­chen Ver­lauf des Krieges wird vor­aus­ge­setzt, ist aber für das Por­trät der Per­sonen und „ihres Dorfes“ nicht rele­vant. Keine Kampf- oder Gewalt­szenen sind zu sehen.

 

Film­auszug, © Andrzej Winiszewski

 

Ohne direkte Schuld­zu­wei­sungen werden alle Per­spek­tiven neben­ein­ander und beide Seiten gleich­wertig betrachtet, dabei wird deut­lich, dass die Umsied­lungen für alle mit schmerz­haften Erin­ne­rungen ver­knüpft sind. Trotz der offi­zi­ellen Aner­ken­nung der Oder-Neiße-Grenze 1979 wurden im deut­schen kol­lek­tiven Geschichts­be­wusst­sein oft­mals nur die Deut­schen als Opfer der Bevöl­ke­rungs­ver­schie­bung erin­nert, die auf der Kon­fe­renz in Teheran 1943 ent­schieden und auf der Pots­damer Kon­fe­renz von den Sie­ger­mächten bestä­tigt wurden. Der Film macht dagegen Fenster für ver­schie­denen Opfer­per­spek­tiven auf: Obwohl ver­trag­lich eine „ord­nungs­ge­mäße und humane Umsie­de­lung“ fest­ge­halten wurde, herrschte Chaos vor und Ent­eig­nungen waren keine Sel­ten­heit. Die pol­ni­sche Zivil­be­hörde über­nahm die Ver­wal­tung, ent­fernte deut­sche Orts­namen und die deut­sche Bevöl­ke­rung aus dem Gebiet öst­lich der Lau­sitzer Neiße wurde gänz­lich ver­trieben oder (zwangs-)polonisiert. Was von deut­scher Seite selten erwähnt wird, ist, dass auch die pol­ni­schen Neuansiedler_innen ihre eigent­liche Heimat ver­loren haben und nicht frei­willig in die neuen Gebiete gingen. Sie litten genauso dar­unter, wie die Deut­schen. Und genau das möchte der Film zeigen, ohne dabei zu poli­ti­sieren. Statt­dessen geht es darum, über den gemein­samen Gedächt­nisort in Kon­takt zu treten. Das Pro­jekt ent­stand durch die Initia­tive des Kul­tur­hauses Trzębiel. Mit­ar­bei­tende begaben sich auf die Suche nach Zeitzeug_innen. Sie erzählen in Inter­views, dass diese schwer zu finden waren, es musste erst eine Ver­trau­ens­basis her­ge­stellt werden.

 

Der Film ist ruhig. Er nimmt sich Zeit für die Zeitzeug_innen und ihre Geschichten. Er zeigt sie in ihrem jet­zigen Umfeld, wel­ches sich so prä­sen­tiert, wie es ist: weder kre­iert, arran­giert noch per­fekt. Die Zimmer sind nicht auf­ge­räumt, überall liegen Dinge, hier ein Kissen, da ein Stapel Blätter, dort stehen eine Blume und ein Vogel­haus im Hin­ter­grund. Die Kla­motten sind all­täg­lich, ein kariertes Hemd, ein grüner und ein gestreifter Pull­over, eine Strick­jacke und ein Hemd unter einem Pull­over. Und er zeigt eben auch die Unvoll­kom­men­heit von Erin­ne­rungen auf. Das macht ihn authentisch.

 

Die Fra­genden und die Befragten stehen in einem behut­samen Dialog, wodurch eine enge emo­tio­nale Bezie­hung ent­steht. Den­noch ent­springt daraus nicht zwangs­läufig eine Iden­ti­fi­ka­tion mit den Zeitzeug_innen. Dafür ist die The­matik zu spe­zi­fisch und wird zu sehr an per­sön­liche Erin­ne­rungen geknüpft. Durch die teil­weise undeut­li­chen oder zu leise gespro­chenen Äuße­rungen der Zeitzeug_innen ist es nicht mög­lich voll­ends in das Film­ge­schehen ein­zu­tau­chen. Sie ver­lieren hin und wieder den Faden, dadurch wird kein Span­nungs­bogen kre­iert, der Film ist nicht fes­selnd. Auch durch den Alters­un­ter­schied fällt es schwer sich zu iden­ti­fi­zieren. Als junge Person ist es daher leicht das ver­schlos­sene Fenster ein­fach wieder außer­halb der eigenen Gedanken zu plat­zieren. Es ist ja nicht die eigene Geschichte und wir sind ohne direkte Berüh­rung mit diesem Krieg aufgewachsen.

 

Wini­szewski, Andrzej: His­torie nez­apom­niane (Unver­ges­sene Geschichten). Polen, 2017, 40 Min.