Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Mein Buch ist wie eine Art Strom­schlag, der die ganze Stadt erfasst“

Inter­view mit Viktor Martinovič

Viktor Mar­ti­novič [Viktor Mar­ti­no­witsch] ist ein bela­rus­si­scher Schrift­steller und Kunst­his­to­riker. Sein 2009 in Russ­land publi­zierter Debüt­roman Para­noia ist kürz­lich in deut­scher Über­set­zung erschienen. Die Roman­hand­lung ist in einer anti­uto­pi­schen Welt ange­sie­delt, die offen­sicht­liche Par­al­lelen zum heu­tigen Belarus auf­weist. Im Gespräch mit der in Berlin lebenden rus­si­schen Autorin und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin Eka­te­rina Vas­si­lieva erzählt Mar­ti­novič über das Verbot von Para­noia in seinem Hei­mat­land, die neue Sprach­po­litik in Minsk und seinen neu­esten auf Bela­rus­sisch ver­fassten Roman Mova.

 

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Foto: Elena Zueva

 

novinki: Die erste Frage betrifft natür­lich den in Deutsch­land frisch erschie­nenen Roman Para­noia, zu dem recht wider­sprüch­liche Infor­ma­tionen kur­sieren. Die deut­schen Medien berichten, dass er in Belarus ver­boten sei. Ande­rer­seits habe ich gehört, dass es kein offi­zi­elles Verbot gebe. Wie sieht es nun in Wirk­lich­keit aus? Wurde der Roman ver­boten, oder ist er viel­leicht ein­fach nur unerwünscht?

 

Viktor Mar­ti­novič: Nun, einen Beschluss des Prä­si­denten, der diesen Roman ver­bietet, habe ich nicht gesehen. Aber wissen Sie, im DDR-Museum gibt es eine span­nende Sache: Nachdem man die Aus­sagen bestimmter Kul­tur­schaf­fender gelesen hat, bekommt man eine Liste mit Namen und muss die­je­nigen von ihnen strei­chen, die, wie man meint, die Partei ver­leumdet haben. Als ich mich auf diese Weise amü­sierte, leuch­tete mir ein, dass mein Schicksal mög­li­cher­weise so ähn­lich ent­schieden wurde. Irgendein Dumm­kopf, der wahr­schein­lich bloß die Syn­opsis meines Romans oder was weiß ich gelesen hatte, hat mich aus irgend­einem Grund auf die “schwarze Liste” gesetzt. Wir haben sie näm­lich immer noch, diese “schwarzen Listen”. Auch in Russ­land gibt es sie übri­gens. Jeden­falls ist das Buch auf die “schwarze Liste” gekommen. Das heißt, dass Buch­händler von Leuten auf­ge­sucht wurden, die sie warnten, dass jeder, der diesen Roman ver­kauft, 500 Dollar Strafe zahlen muss. Ich habe zusammen mit einem Jour­na­listen von Euro­radio ein Expe­ri­ment durch­ge­führt. Wir sind 2010 über einen großen Markt in Minsk gegangen, und ich habe nach Para­noia gefragt. Schließ­lich haben wir den Roman gekauft, aber unter dem Laden­tisch, in einer schwarzen Tüte, mit Iso­lier­band zuge­klebt. So sah also das Verbot aus! Offi­ziell wurde dar­über aller­dings nicht berichtet: Es gab keinen Artikel in einer Zen­tral­zei­tung oder so.

 

n.: Man kann also in Minsk immer noch nicht ein­fach in eine Buch­hand­lung gehen und dort Para­noia bestellen?

 

V.M.: Nein, natür­lich nicht! Ich habe seitdem noch drei Romane geschrieben. Die kann man alle frei kaufen. Aber mit diesem Buch ist es so eine Geschichte: Im bela­rus­si­schen Internet kann man alles kaufen – von Drogen bis hin zum Kin­der­porno – nur nicht Para­noia!

 

n.: Man kann es aber herunterladen?

 

V.M.: Her­un­ter­laden schon. Ich denke, die Leute, die durch­ge­setzt haben, dass der Roman auf die “schwarze Liste” kommt, haben eine simple Tat­sache nicht berück­sich­tigt: dass man im 21. Jahr­hun­dert ein Buch rein tech­nisch nicht ver­bieten kann. Es gibt schlicht keine Mecha­nismen, die das ermög­li­chen würden.

 

n.: Das ist ein guter Über­gang zu Ihrem neu­esten Roman Mova (dt.: „Die Sprache“), der auf Bela­rus­sisch ver­fasst wurde und auch in rus­si­scher Über­set­zung vor­liegt, aber noch nicht auf Deutsch. Er spielt in einer Zukunft, in der alle Bücher auf Bela­rus­sisch ver­boten sind. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Warum ver­breitet sich die „mova“ (die bela­rus­si­sche Sprache) dann nicht über das Internet? Warum müssen in dieser Welt die sehr begehrten Frag­mente von Hand kopiert werden?

 

V.M.: Die Welt im Roman ist nun mal so orga­ni­siert, dass im Internet und überall spe­zi­elle Filter instal­liert sind. Für jede Ver­öf­fent­li­chung eines bela­rus­si­schen Textes wird man sofort abge­holt. Aber viel­leicht ist alles ja noch viel tra­gi­scher. Ihre Frage offen­bart quasi die alte libe­rale Hoff­nung, die Bürger würden sich unter allen Umständen ver­nünftig ver­halten und es gäbe dazu ein geheimes Wissen, das jeder­zeit per Internet abrufbar ist…

 

n.: Aber Sie haben doch gesagt, dass man die Bücher heute unmög­lich ver­bieten kann, und ich habe Ihnen nur zugestimmt…

 

V.M.: Jaja, aber in dieser Welt besteht kein Inter­esse daran, auf Bela­rus­sisch zu lesen, weil alle diese Sprache ein­fach ver­gessen haben. Es gibt nur ein­zelne „Sprach­jun­kies“, die streng über­wacht werden und die eine furcht­bare Angst haben, sich im Internet dar­über aus­zu­tau­schen, weil sie sonst sofort einen Besuch von der Dro­gen­kon­troll­be­hörde bekommen – das ist eine Orga­ni­sa­tion, deren All­macht uns in der Szene am Grenz­über­gang zwi­schen Europa und den soge­nannten „Nord­west­li­chen Ter­ri­to­rien“ klar wird. Wir sehen, wie sich einer der beiden Erzähler, ein „Dro­gen­dealer“ namens Sergej, psy­cho­lo­gisch auf das Gespräch mit dem Grenz­sol­daten vor­be­reitet, um bloß nicht in die Fänge dieser Leute zu geraten… Die Frage mit dem Internet wird dort nicht erschöp­fend beant­wortet, aber tech­nisch ist das wohl doch mög­lich, auch jetzt schon. Vor Kurzem erst kam die Nach­richt, dass man, um zu bestimmten poli­ti­schen Inter­net­seiten aus Belarus Zugang zu bekommen, mitt­ler­weile Proxy-Server ein­setzen muss, weil sie sonst hinter Fil­tern ver­sperrt bleiben. Des­wegen habe ich es gar nicht für nötig befunden, im Rahmen des Romans alle Details zu schil­dern, wie genau man die Natio­nal­sprache ver­boten hat. Sie ist ein­fach vor Jahren ver­boten worden, und alle haben sie ver­gessen – sie exis­tiert nun­mehr ledig­lich als Droge.

 

n.: Ja, aber die Idee ist doch, eine anti­uto­pi­sche Welt zu kre­ieren, die sich zum Teil viel­leicht mit der Rea­lität deckt, zum Teil aber eine Zukunfts­pro­jek­tion ist, nicht wahr? Sie schenken den Nuancen nor­ma­ler­weise viel Auf­merk­sam­keit, und das bedingt nicht zuletzt auch den Genuss, den man bei der Lek­türe emp­findet. Es macht Spaß, diese Welt für sich zu ent­de­cken, und man fragt sich des­halb: „Wie ist dieses oder jenes dort gere­gelt?“ Und man wünscht sich eine ganz kon­krete Ant­wort… Meine nächste Frage bezieht sich unmit­telbar auf die Situa­tion der Natio­nal­sprache, wie sie im Roman beschrieben wird: Inwie­fern reflek­tiert Ihre Vision die Sprach­po­litik im heu­tigen Belarus?

 

V.M.: Im Moment beob­achten wir in Belarus eine Art Wie­der­be­le­bung des Inter­esses an der Natio­nal­sprache – unter anderem auch von staat­li­cher Seite. Es gibt anschei­nend ein Bestreben, die bela­rus­si­sche Sprache und Lite­ratur zu för­dern. Aber das alles geschieht vor dem Hin­ter­grund der Situa­tion, von der ich gespro­chen habe: Alle haben schon ver­gessen, was Bela­rus­sisch über­haupt für eine Sprache ist und wie man sie benutzt. Ich ver­mute, im Land gibt es keine Fach­leute mehr, die an den Uni­ver­si­täten auf Bela­rus­sisch unter­richten könnten. Die sind ein­fach nicht da. Und die Tra­die­rung der Sprache ist eigent­lich ein sehr langer Pro­zess. Du kannst also nicht heute die Bela­rus­si­fi­zie­rung ver­künden und morgen dieses Pro­jekt bereits effektiv rea­li­sieren, weil man bestimmte Mecha­nismen der Wei­ter­gabe des Wis­sens braucht. Und dies beinhaltet vor allem das Inter­esse für die Natio­nal­li­te­ratur und die Fähig­keit, sie zu lesen. Diese Mecha­nismen sind wäh­rend der letzten 20 Jahre, in denen eine aktive Rus­si­fi­zie­rung statt­fand, zer­stört worden.

 

n.: In der sowje­ti­schen Zeit war es also besser?

 

V.M.: Genau so ist es, die Stel­lung der Natio­nal­sprache war damals eine bes­sere! Ver­stehen Sie, wir reden jetzt von den staat­li­chen Inter­ven­tionen, aber das ist eigent­lich nur das Geringste. Spre­chen wir lieber von den tiefer grei­fenden Pro­zessen, zum Bei­spiel von der Iden­tität. Wenn man jemanden vor 20 Jahren Bela­rus­sisch spre­chen hörte, oder auch vor 10 oder sogar vor 5 Jahren, dann sah man ihn sofort als Oppo­si­tio­nellen an. Auf­grund der schwa­chen natio­nalen Iden­tität konnte man nicht anders urteilen. Eine etwas unkluge Hal­tung der Spit­zen­po­li­tiker der Natio­nal­par­teien in den 1990ern hat eine Situa­tion geschaffen, in der die Sprache stark poli­ti­siert wurde. Denn die Regie­rung hat eigent­lich nichts gegen den Willen der Bevöl­ke­rung getan. Die Men­schen im Land wollten damals mehr­heit­lich, dass Bela­rus­sisch quasi ver­boten wird – und sie hat es ver­boten. Die Men­schen wollten, dass alle Fern­seh­sen­dungen wieder auf Rus­sisch aus­ge­strahlt werden – der Staat hat das durch­ge­setzt. Lukaschenko hat ein­fach die Ängste aus­ge­nutzt, die die Men­schen sowieso schon hatten…

 

n.: Aber warum hatte man Angst vor Bela­rus­sisch? Mit wel­cher Bedeu­tung war es aufgeladen?

 

V.M.: Ver­stehen Sie, wir hatten in Belarus in den 1990ern unge­fähr die­selbe Situa­tion wie in Litauen. Nach den Par­la­ments­wahlen sind Leute an die Macht gekommen, die sehr natio­na­lis­tisch ein­ge­stellt waren. Als sie dann anfingen, die Natio­nal­sprache mit Gewalt überall ein­zu­führen, bekam man Angst.

 

n.: Aber ent­spannt sich denn die Ein­stel­lung zur Sprache jetzt nicht?

 

V.M.: Nein, im Moment pas­siert etwas anderes. Ers­tens haben alle die 1990er Jahre ver­gessen. Ein­fach ver­gessen! Die Gene­ra­tion, die Angst hatte, den Job zu ver­lieren, weil sie auf Bela­rus­sisch nicht schreiben konnte, ist älter geworden und fürchtet sich nicht mehr. Ande­rer­seits haben die Men­schen ange­sichts der Ereig­nisse auf der Krim und im Don­ecker Becken das Gefühl, dass wir hier, wenn wir weiter Rus­sisch spre­chen, die­selbe Spal­tung erleben werden. Und das Gefühl ist recht unan­ge­nehm. Dazu kommt noch, dass die Sprache jetzt ein­fach im Trend ist, die jungen Leute unter­halten sich auf Bela­rus­sisch, nicht weil sie ihren Non­kon­for­mismus demons­trieren wollen, son­dern umge­kehrt: weil sie kon­form sein, mit der Mode gehen wollen. Diese drei Fak­toren haben ins­ge­samt zu einer Art Renais­sance der bela­rus­si­schen Sprache bei­getragen: Die Auf­lagen bela­rus­si­scher Bücher sind enorm gestiegen, die natio­nalen Schrift­steller sind end­lich wieder Helden…

 

n.: Ihren ersten Roman haben Sie noch auf Rus­sisch geschrieben. Danach kam aber die „bela­rus­si­sche Periode“?

 

V.M.: Nach Para­noia wurde tat­säch­lich der bela­rus­si­sche Roman Scjud­zeny vyraj geschrieben, was man als „Das kalte Para­dies“ über­setzen kann. Das Wort „vyraj“ bezeichnet in der bela­rus­si­schen Mytho­logie zwei­erlei: den Ort, an den die Seelen der Gerechten nach dem Tod kommen, und ein warmes Land, wohin die Vögel im Winter fliegen. Ein schönes Bild, nicht wahr? Dieser Text ist, was den Stil und die Kom­po­si­tion betrifft, das Kom­ple­xeste, was ich je geschrieben habe. Es ist eine Art Krimi mit drei­ma­liger Wider­le­gung, was ein wenig an Fahles Feuer von Nabokov erin­nert, mit dem Unter­schied jedoch, dass die „Kom­men­tare“ hier abwech­selnd von unter­schied­li­chen Instanzen kommen. Das pro­vo­ziert eine quasi schi­zo­phrene Stö­rung der Rea­li­täts­wahr­neh­mung beim Leser. Danach schrieb ich erneut einen Roman in rus­si­scher Sprache, Sfa­gnum. Er spielt in der bela­rus­si­schen Pro­vinz und erzählt von drei Kerlen aus der sozialen Unter­schicht von Minsk, die einen Mord begangen haben. Sie ver­ste­cken sich nun vor der Justiz in den bela­rus­si­schen Sümpfen, wo schließ­lich alles anders wird, als es vorher zu sein schien… Sfa­gnum ist ein Ver­such, über die kom­pli­zierten Dinge – die Meta­physik, das Leben, den Tod, das Unsicht­bare – in einer bewusst ein­fa­chen Sprache zu erzählen. Ich habe diesen Roman auf Rus­sisch geschrieben, weil ich es für etwas unglaub­würdig hielt, dass diese „Jungs“ sich in der Sprache der bela­rus­si­schen Intel­lek­tu­ellen unter­halten würden. Aber dann kam es zu einer Koope­ra­tion mit dem „bela­rus­si­schen Žadan“, Vitalij Ryžkov. Er fer­tigte eine her­vor­ra­gende Über­set­zung an, die beweist, dass „ein­fache Bur­schen“, die sich auf Bela­rus­sisch ver­stän­digen, keine Sache der Unmög­lich­keit sind. Auch bei Žadan spre­chen die „Pro­leten“ Ukrainisch.

 

n.: Ihren letzten Roman Mova haben Sie wieder auf Bela­rus­sisch ver­fasst. Ich habe die rus­si­sche Ver­sion gelesen und kann mir schwer vor­stellen, wie er auf Bela­rus­sisch funk­tio­niert. Denn die rus­si­sche Ver­sion lebt gerade vom Kon­trast zwi­schen dem Rus­si­schen und den ein­ge­streuten lite­ra­ri­schen Zitaten auf Bela­rus­sisch, die die beiden Ich-Erzähler, die im Alltag ja nur Rus­sisch spre­chen und schreiben, mit ihrer exo­ti­schen Aus­drucks­kraft betören. Wie haben Sie diese „Zwei­spra­chig­keit“ denn im bela­rus­si­schen Ori­ginal wiedergegeben?

 

V.M.: Durch den Stil natür­lich! Haupt­säch­lich durch den Stil­wechsel. Meine Prot­ago­nisten benutzen ein sehr pri­mi­tives Bela­rus­sisch, das sozu­sagen schon „rus­si­fi­ziert“ ist.

 

n.: Ich fand diese scharfe Tren­nung zwi­schen der all­täg­li­chen und der poe­ti­schen Sprache, die gleich­zeitig wie eine Droge wirkt, sehr span­nend. Ich denke, dass man die „mova“, also die ver­bo­tene bela­rus­si­sche Sprache, auch als eine Meta­pher jeder Lite­ra­tur­sprache ver­stehen kann, die den Men­schen im Alltag fehlt. Denn auch wenn du als rus­si­scher Schrift­steller auf Rus­sisch schreibst, bist du in Wirk­lich­keit auf der Suche nach einer ganz anderen Sprache, die im täg­li­chen Gebrauch ein­fach nicht exis­tiert. Du erfin­dest also deine Sprache neu oder ver­suchst viel­mehr einen Anschluss an eine Tra­di­tion zu finden, die diese Suche schon seit Jahr­hun­derten betreibt. Das ist auch eine Art „mova“, die im Alltag unmög­lich und doch so begehrt ist. Des­wegen bleibt das, wor­über Sie schreiben, ver­ständ­lich, auch wenn man sich im bela­rus­si­schen Kon­text nicht auskennt.

 

V.M.: Das ist ein inter­es­santer Gedanke. Mein Über­setzer, Thomas Weiler, bereitet zur Zeit die deut­sche Über­set­zung von Mova vor. Und das ist eine der Stra­te­gien, über die er nach­denkt. Er möchte sozu­sagen diesen Trick, den wir im bela­rus­si­schen Ori­ginal haben, wie­der­holen, indem er die All­tags­sprache und die Hoch­sprache kombiniert.

 

n.: Die zukünf­tige Welt, die Sie in Mova ent­werfen, ist ziem­lich eigen­artig und voll ver­blüf­fender Details. Es gibt also den Westen und es gibt auch die soge­nannten „Nord­west­li­chen Ter­ri­to­rien“, eine Union von Russ­land mit Belarus und China. Der Westen ist ver­armt, zumin­dest stürmen die west­eu­ro­päi­schen Migranten die Grenzen der Union in der Hoff­nung, ihre öko­no­mi­sche Situa­tion zu ver­bes­sern. Dafür haben sie im Westen Frei­heit. Oder zumin­dest keine Dik­tatur, wodurch Ord­nung und Moral etwas zu leiden haben… Es herrscht ein Kon­sum­kult und die Reli­gionen der unter­schied­li­chen Marken kon­kur­rieren unter­ein­ander um die Seelen der Kunden. Was die rus­sisch-chi­ne­si­sche Union betrifft, geht es den Men­schen dort öko­no­misch relativ gut. Die Ver­hält­nisse sind stabil, aller­dings wird der Staat tota­litär regiert. Auch hier haben die tra­di­tio­nellen Werte aller­dings nicht gerade Hoch­kon­junktur. Als einer der Prot­ago­nisten, Sergej, gefragt wird, ob er an etwas glaube, ob er sich viel­leicht zum Chris­tentum bekenne, sagt er: „Nein. Wenn ich im Westen bin, dann glaube ich an Hermes. Aber wir hier haben Hermes nicht, also bleibt uns gar nichts!“. Gemeint ist hier frei­lich nicht der antike Gott, son­dern die Marke. Auf jeden Fall besteht der Unter­schied zwi­schen Westen und Osten vor allem in der Regie­rungs­form. Das spi­ri­tu­elle Leben ver­küm­mert in beiden Fällen…

 

V.M.: Ich muss zuerst sagen, dass uns alles, was wir im Roman über den Westen erfahren, durch zwei relativ unzu­ver­läs­sige Erzähler mit­ge­teilt wird, die ein­ander teil­weise wider­spre­chen. Des­halb können wir uns auch kein Bild machen, wie die Situa­tion im Westen tat­säch­lich ist. Wir gehen durch War­schau und sehen die Stadt mit den Augen eines ein­fa­chen Bur­schen, der „Drogen“, also ver­bo­tene Text­frag­mente, ankauft und sie über die Grenze schmug­gelt. Zu dem, was wir auf diese Weise wahr­nehmen, muss man natür­lich eine iro­ni­sche Distanz bei­be­halten. Denn es ist auch ein Ver­such, die Leute zu ent­larven, die ein pri­mi­tives Bild vom Westen haben. Und ich hoffe, meine Leser werden das ver­stehen, anstatt es für bare Münze zu nehmen.

 

n.: Aber diese Welt, die Sie durch die Auf­zeich­nungen Ihrer Erzähler kon­stru­ieren, sie muss ja in sich schlüssig sein…

 

V.M.: Ver­stehen Sie, die Ironie besteht hier darin, dass jene, die den Westen beschul­digen, die tra­di­tio­nellen Werte fallen gelassen zu haben, in der Tat selber nur an die Hermes-Bou­ti­quen glauben! Sie sind selbst ein sekun­däres Pro­dukt der west­li­chen Kultur. Und diese Ein­stel­lung, diese Über­heb­lich­keit gegen­über dem Westen wird hier per­si­fliert, ohne dass ich eine ernste Aus­sage über die tat­säch­li­chen Ver­hält­nisse mache… In meinem Buch behan­dele ich übri­gens die Rechten wie die Linken gleich ironisch…

 

n.: Das ist aber gerade die Frage, wer von den Prot­ago­nisten noch zu den Rechten oder zu den Linken gehört! Ich wollte an den Text unvor­ein­ge­nommen her­an­gehen… Natür­lich sind dort bestimmte Reflexe der Gegen­wart zu erwarten, aber zuerst möchte ich diese fik­tio­nale Welt für mich ent­de­cken und begreifen, was dort genau pas­siert. Sie ist jedoch der­maßen anders, dass viele Begriffe aus unserer Rea­lität dort scheinbar keine Gül­tig­keit besitzen. Vieles ist ein­fach ver­kehrt. Etwa die Bou­ti­quen, die zu Kult­stätten geworden sind. Man kann natür­lich sagen, dass sie auch heute schon in gewissem Sinne Kult­stätten sind, wir machen jedoch immer noch eine scharfe Tren­nung zwi­schen Kirche und Shop­ping­center. In ihrem Roman ist „Kon­sum­tempel“ keine Meta­pher mehr, da es ansonsten scheinbar gar keine Kir­chen gibt. Was die Linken und die Rechten betrifft, kann man das auch nicht so ein­fach auf unsere Ver­hält­nisse über­tragen… Ich wollte gerade eine Frage zur Ironie stellen. Wenn man ein Buch liest, sucht man nach bestimmten Ana­lo­gien, um den lite­ra­ri­schen Kon­text zu ver­stehen, in dem sich der Autor posi­tio­niert. Als ich Ihren Roman las, hatte ich den Ein­druck, dass er sich in der Post­mo­derne, im Kon­zep­tua­lismus ver­ortet. Man­ches wird die Leser sicher­lich an Sor­okin erin­nern, anderes viel­leicht an die Zukunfts­ent­würfe von Hou­el­le­becq… Aber was für die Post­mo­derne ins­ge­samt cha­rak­te­ris­tisch ist, das ist eben die Ver­wi­schung der mora­li­schen Ein­deu­tig­keit bis zur völ­ligen Ver­un­si­che­rung der Leser. Doch je weiter man Mova liest, desto stärker wird der Ein­druck, dass die Sym­pa­thien des Autors einer bestimmten Inter­es­sens­gruppe inner­halb des Romans gelten, und zwar der­je­nigen, die die Natio­nal­sprache und Natio­nal­kultur ver­tei­digt. Oder ist es viel­leicht auch eine Art Ironie, die sich nur beson­ders geschickt tarnt?

 

V.M.: Ja, selbst­ver­ständ­lich! Ich habe übri­gens einige Freunde ver­loren, weil sie diese Ironie nicht wahr­ge­nommen haben. Man darf auch nicht ver­gessen, dass dieser Text von einem Autor geschrieben ist, der im Alltag Rus­sisch spricht. Zur Zeit ist es zumin­dest so. Wenn ich über Men­schen schreibe, die bereit sind, die Fern­seh­stu­dios zu stürmen, nur um Bela­rus­sisch wieder ein­zu­führen, ist auf jeden Fall eine gewisse Ironie dabei, zumal dieser Sturm die Situa­tion im End­ef­fekt nur verschlimmert.

 

n.: Sie haben diesen Sturm den­noch sehr lebendig beschrieben, so dass der Leser die Atmo­sphäre des Kampfes spürt und fühlt, dass die Men­schen nicht sinnlos fallen, son­dern im Augen­blick des Todes glück­lich sind, da sie ihre Ideen ver­tei­digt haben.

 

V.M.: Ja, aber dann sieht man doch, dass es alles sehr dumm war und nichts gebracht hat…

 

n.: Nun, man ver­steht schon von Anfang an, dass diese Aktion hoff­nungslos ist. Aber mir schien ent­schei­dend zu sein, mit wel­cher Ein­stel­lung diese Leute in den Kampf ziehen. Ich finde, dass der Text teil­weise regel­recht einen gewissen Hel­denmut, die Ekstase des Kampfes und die Opfer­be­reit­schaft feiert, zumal man sich als Leser rein emo­tional mit diesem Helden iden­ti­fi­ziert. Der Roman bietet mit dem zweiten Erzähler, dem intel­lek­tu­ellen Junkie, auch keine wirk­liche Alter­na­tive. Oder was denken Sie zu dieser zweiten Figur? Ist er ein Typ Mensch, der heute schon exis­tiert, oder ist es eine War­nung davor, was in Zukunft noch auf uns zukommt?

 

V.M.: Meine ursprüng­liche Inten­tion bestand darin, zwei Erzähl­stimmen zu schaffen, die, obwohl sie über unter­schied­liche Dinge und in unter­schied­li­chen Worten spre­chen, zusam­men­ge­hören und sich langsam auf­ein­ander zu bewegen. Wir als Leser haben viel­leicht den Ein­druck, dass es sogar ein und der­selbe Mensch sein könnte, der sich in unter­schied­li­chen Phasen seines Lebens mit­teilt. Aber dann gehen sie aus­ein­ander. Mehr noch: Einer ermordet den anderen. Ich glaube, das Wich­tigste hier ist nicht der Ver­such eine Pro­gnose auf­zu­stellen, ob solche „Unge­heuer“ wie dieser Intel­lek­tu­elle irgend­wann mal die Welt erobern, son­dern das Fixieren des für mich wich­tigen Gefühls, dass die Freund­schaft und sogar die Liebe in der heu­tigen Gesell­schaft nach dem Schema „Dro­gen­dealer-Junkie“ funk­tio­nieren. Wir ver­kaufen ein­ander alle Arten von Rausch. Und wir kom­mu­ni­zieren mit dem anderen nur, solange er das für uns wich­tige Rausch­mittel besitzt. Wir wollen uns alle grund­sätz­lich nur ver­gessen – im Sex, im Alkohol, im stän­digen Konsum, in den Bou­ti­quen, die zu Tem­peln geworden sind, usw…

 

n.: Also deckt sich die Zukunft, die Sie im Roman ent­werfen, zum Teil schon mit unserer Gegen­wart? Sie haben bloß als Schrift­steller die Mög­lich­keit, die heu­tige Situa­tion wie mit Rönt­gen­strahlen zu durch­dringen und einige Phä­no­mene zu beob­achten, die sonst ver­borgen bleiben…

 

V.M.: Ja, das hängt vom Blick­winkel ab!

n.: Aber man kann trotzdem den Ein­druck nicht los­werden, dass Sie diese Ten­denzen nicht ganz objektiv, also sozu­sagen nicht mit einem neu­tralen Blick erfassen…

 

V.M.: Der Autor ist in diesem Buch nur als jemand prä­sent, der am Ende einen Punkt setzt. Er bestimmt also den Moment, in dem alles zu Ende ist. Ich glaube, man könnte diese Geschichte so lange fort­setzen, bis diese Kämpfer sich als völ­lige Idioten erwiesen haben. Aber die Tat­sache ist, dass, rein his­to­risch gesehen, Roman­tiker eine grö­ßere Attrak­ti­vität besitzen als Prag­ma­tiker. Wir sind nun mal so pro­gram­miert, dass unsere Sym­pa­thien – aus his­to­ri­scher, eth­no­gra­phi­scher und wel­cher Per­spek­tive auch immer – auf der Seite jener sein werden, die in einen offen­sicht­lich hoff­nungs­losen Kampf für den Erhalt einer Sprache ziehen, von der in 50 Jahren sowieso nichts mehr übrig bleibt.

 

n.: Dann ist es tat­säch­lich so, dass dieser Roman nicht nur und nicht einmal in erster Linie von der bela­rus­si­schen Sprache han­delt, son­dern von dem Ver­such, eine Situa­tion zu beenden, die nicht mehr befrie­di­gend ist – viel­leicht für beide Seiten nicht?

 

V.M.: Ver­stehen Sie, alles, was dort steht, ist die Rea­lität des heu­tigen Belarus…

 

n.: Ja, ich denke gerade dar­über nach, wie man durch dieses Buch die Rea­lität besser ver­stehen könnte. Und Ver­stehen heißt auch irgendwie Ver­än­dern, oder?

 

V.M.: Ja, das auch! Malevič hat in seiner Vitebsker Periode eine Theorie dar­über ent­wi­ckelt, wie die Kunst die Rea­lität ver­än­dern kann, ohne sie nach­zu­ahmen. Und mit seinen abs­trakten Gemälden hat er ver­sucht, auf eine magi­sche Weise einen Ein­fluss zu nehmen. Mova ist in diesem Sinne auch ein magi­scher Text, der in die Zukunft gerichtet ist… Als ich das erste Tattoo mit Mova gesehen habe, ist es mir wie ein Licht aufgegangen!

 

n.: Was sind das für Tattoos?

 

V.M.: Als wir die dritte Auf­lage von Mova vor­be­rei­teten, fanden wir einen chi­ne­si­schen Kal­li­grafen, der zwei Hie­ro­gly­phen – „Mo“ und „Va“ – für uns gezeichnet hat. So konnten wir diese Auf­lage mit Illus­tra­tionen ver­sehen. Und die Leute haben dann diese Hie­ro­gly­phen für ihre Tat­toos ver­wendet. Man fühlt, welche Wellen das schlägt!

 

n.: Ist es also jetzt zu einer Art Kult­buch geworden? So vom Gefühl her?

 

V.M.: Ja, ich hatte das Gefühl, das ist mehr als ein Text. Viel­leicht eine Art Pille, oder Strom­schlag, der die ganze Stadt erfasst.

Das Gespräch wurde von Eka­te­rina Vas­si­lieva geführt und aus dem Rus­si­schen übersetzt.

 

Bisher erschie­nene Romane von Viktor Martinovič:

In deut­scher Übersetzung:
Mar­ti­no­witsch, Viktor: Para­noia. Aus dem Rus­si­schen von Thomas Weiler. Dresden / Leipzig: Voland & Quist, 2014.

 

Erst­ver­öf­fent­li­chungen auf Russisch/Belarussisch:
Mar­ti­novič, Viktor: Para­nojja. Moskva: AST, 2009.
Mar­ti­novič, Viktor: Scjud­zeny vyraj. Minsk: Pjaršak (elek­tro­ni­sche Her­aus­gabe, Bela­rus­sisch), 2011.
Mar­ti­novič, Viktor: Sfa­gnum. Minsk: Kni­gazbor (Bela­rus­si­sche Über­set­zung), Pjaršak (elek­tro­ni­sche Her­aus­gabe, Ori­gi­nal­ver­sion Rus­sisch), 2013.
Mar­ti­novič, Viktor: Mova. Minsk: Kni­gazbor (Bela­rus­si­sches Ori­ginal), Minsk: Loh­vinaŭ (Rus­si­sche Über­set­zung), Pjaršak (elek­tro­ni­sche Her­aus­gabe), 2014.