Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ver­schlüs­selte Texte. Inter­view mit Sta­nislav Aseev

2021 ist Sta­nislav Aseevs Buch In Iso­la­tion: Texte aus dem Don­bass (V izol­jacii, Kiev 2018) auf Deutsch erschienen, das nächste Buch wird schon über­setzt. Aseev ist Jour­na­list und Schrift­steller, seit 2011 ver­öf­fent­licht er Gedichte, Prosa und eine Roman-Auto­bio­gra­phie mit dem Titel Mel’chiorovoj slon, ili Čel­ovek, kotoryj dumal (dt. Der Ele­fant Mel­chior oder Der Mann, der dachte). Bekannt gemacht haben ihn vor allem seine unter dem Pseud­onym Sta­nislav Vasin geschrie­benen Essays für Radio Svo­boda (dt. Frei­heit), derent­wegen er am 2. Juni 2017 vom „Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit der Volks­re­pu­blik Donezk“ ver­schleppt und gefan­gen­ge­nommen wurde. Erst andert­halb Jahre später, am 29. Dezember 2019, wurde er anläss­lich eines Gefan­gen­aus­tauschs zwi­schen der Ukraine und den pro­rus­si­schen Volks­re­pu­bliken wieder frei­ge­lassen. Diliara Frühauf hat sich mit Sta­nislav Aseev über Zoom getroffen.

Diliara Frühauf: Sie haben zwei Bücher, In Iso­la­tion und Svetlyj put, isto­rija odnogo kon­cla­gerja (dt. Erleuch­teter Weg, Geschichte eines Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers), über ihre Zeit der Gefan­gen­schaft in der selbst­er­nannten „Volks­re­pu­blik Donezk“ ver­fasst? In Iso­la­tion ist gerade auf Deutsch erschienen, wird das zweite auch auf Deutsch übersetzt?

 

Sta­nislav Aseev: Das Buch In Iso­la­tion ist auf Deutsch erschienen, aber das ist kein Buch über die Iso­la­tion, son­dern ist es ein Sam­mel­band meiner Artikel, die ich für Radio Svo­boda und für andere Peri­odika vor meiner Haft zusam­men­ge­stellt habe. Svetlyj put ist ein Buch über die Iso­la­tion, über ein geheimes Gefängnis, das sich in Donezk befindet. Momentan wird die Über­set­zung von Svetlyj put auf Deutsch vor­be­reitet. Auf Eng­lisch ist das Buch bereits erschienen. Die Bücher In Iso­la­tion und Svetlyj put ver­wech­selt man oft, weil In Iso­la­tion erschien, als ich in Gefan­gen­schaft war. Das Buch haben meine Kol­legen, ein paar Jour­na­listen, publi­ziert. Sie haben alle Artikel zusam­men­ge­nommen und in Kiev ver­öf­fent­licht. Den Titel In Iso­la­tion hat das Buch erhalten, weil ich mich zum Zeit­punkt der Ver­öf­fent­li­chung in der Gefan­gen­schaft mit dem Namen „Iso­la­tion“ befand. Für mich per­sön­lich ist das zweite Buch bedeu­tender. Der Ort, der im Buch beschrieben wird, ist ein­zig­artig für Europa. Es ist mir wichtig, dass die Men­schen aus den deutsch­spra­chigen Län­dern wissen, was in der Ukraine geschieht.

 

D.F.: Spre­chen wir den­noch zuerst über In Iso­la­tion. Mir stellt sich die Frage, wie es ent­standen ist? Sie haben als Jour­na­list unter einem Pseud­onym aus dem okku­pierten Donezk für Radio Svo­boda berichtet? Wie war das? Warum haben sie unter Pseud­onym geschrieben?

 

S.A.: Das Pseud­onym war eine Sicher­heits­maß­nahme für mich und meine Familie, weil es in dieser Region schon ab Anfang 2014 ein hartes anti­ukrai­ni­sches Regime gab. Man kann es auch ein tota­li­täres Regime nennen, weil keine Kritik akzep­tiert wurde. Es gab keine Akkre­di­tie­rung, weder für ukrai­ni­sche noch für west­liche Journalist_innen, nur Graham Phil­lips [bri­ti­scher Jour­na­list, Mit­ar­beiter der rus­si­schen Medien „Russia Today“ und „Zvezda“] wurde zuge­lassen. Wenn ich also unter meinem Namen gear­beitet hätte, wäre ich schon inner­halb einer Woche im Keller gelandet.

 

D.F.: Was war wichtig für Ihre Repor­tagen bei Radio Svo­boda?

 

S.A.: Ursprüng­lich habe ich nicht jour­na­lis­ti­sche, son­dern publi­zis­ti­sche Repor­tagen pro­du­ziert, in denen ich mir auch einige bewer­tende Aus­sagen erlaubte. Später, als ich dort fak­tisch als ein­ziger proukrai­ni­scher Jour­na­list tätig war, der über die Lage berichten konnte, beschlossen wir, dass wir die nächste Stufe errei­chen mussten. Ich begann, jour­na­lis­ti­sche Repor­tagen mit Foto- und Video­in­halten zu erstellen, auch vom Ort des Gesche­hens. Ich inter­viewte die Leute und nahm alles mit einem Ton­band­gerät auf, wobei ich mich natür­lich als rus­si­scher Jour­na­list und nicht als ukrai­ni­scher vorstellte.

 

D.F.: War die Benut­zung des Pseud­onyms die ein­zige Sicherheitsmaßnahme?

 

S.A.: Ich hatte am Handy viele Pro­gramme, die die gedrehten Inhalte ver­bergen konnten. Für den Fall, dass mich eine Patrouille der mili­tä­ri­schen Ein­heiten über­prüft hätte, was regel­mäßig vorkam. Schließ­lich haben sie nach meiner Ver­haf­tung Zugang zu all diesen Dateien bekommen, weil ich erzählen musste, wie das Ganze funk­tio­niert. Aber den­noch waren solche Sicher­heits­maß­nahmen in einem sol­chen Gebiet not­wendig. Außerdem benutzte ich ein Tor-Brow­ser­system, das die IP-Adresse meiner per­sön­li­chen Face­book-Seite ver­schlüs­selt, so dass man im Falle eines Hacker­an­griffs nicht her­aus­finden konnte, wo ich mich auf­hielt und von wel­chem Ort in Donezk oder Makivka aus ich arbei­tete. Man muss es sich so vor­stellen: Wenn man an einem Ort erschien, wo gerade eine Schie­ßerei (Artil­le­rie­be­schuss) statt­fand, war dort die DNR-Polizei [Polizei der Donezker Volks­re­pu­blik] und das MGB [Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit]. Das MGB hat mich schluss­end­lich ver­haftet. Man musste sehr vor­sichtig sein, um keine Auf­merk­sam­keit auf sich zu ziehen. Dort gab es auch rus­si­sche Jour­na­listen. Ich habe ruhig und leise gear­beitet. Als all diese Leute schon weg waren, bin ich dann zu den Ein­woh­nern gegangen und habe sie aus­ge­fragt. Aber das pas­sierte nicht so oft. Meis­tens habe ich ein­fach Fotos und Videos auf­ge­nommen und später in meinen Text eingefügt.

 

D.F.: Haben Ihre Texte Sie ins Gefängnis gebracht?

 

S.A.: Ja. Wie sich später her­aus­ge­stellt hat, habe ich große Auf­merk­sam­keit auf mich gezogen, nachdem meine Repor­tagen ver­öf­fent­licht worden sind. Das MGB hat mich ein­ein­halb Jahre lang gesucht. Es war für sie wichtig zu zeigen, dass sie nicht nur einen Jour­na­listen ver­haftet haben. Sie wussten, wenn sie das tun, wird es eine „Infor­ma­ti­ons­welle“ bzw. einen Wider­stand in den ukrai­ni­schen, aber auch in den west­li­chen Medien geben. Sie haben mich des­halb nicht nur als Jour­na­listen bezeichnet, son­dern auch als einen Spion. Aber die Aus­sagen, dass ich einer bin, haben sie nur bekommen, weil sie mich gefol­tert haben. Als Beweis für die Spio­nage haben sie die glei­chen Fotos ver­wendet, die ich für Radio Svo­boda gemacht habe, und diese Fotos sind immer noch auf der Web­seite von Radio Svo­boda für alle zugäng­lich. Ich hatte zum Bei­spiel einen Bericht über Infra­struk­tur­ein­rich­tungen in Donezk geschrieben, die vor dem Krieg eine zivile Bedeu­tung hatten und nach dem Krieg in Mili­tär­basen und Lager­häuser umge­wan­delt wurden. Eines dieser Gebäude war das Hotel Vik­toria. Das Hotel steht im Zen­trum, in der Nähe der Don­bass-Arena, und ist für jeden sichtbar, der mit einem Trol­leybus oder einem Bus die Allee ent­lang­fährt. Ich habe das Gebäude ein­fach foto­gra­fiert, und diese Foto­grafie wurde als Beweis der Spio­nage ver­wendet. Sie recht­fer­tigten es so, dass es sich um ein Objekt mit beson­derem Zweck han­dele. Des­halb könne das Wei­ter­geben von Infor­ma­tionen über dieses Objekt die Sicher­heit von Donezk gefährden. Und dafür kann man 10 Jahre Haft bekommen.

 

D.F.: Während Sie im Gefängis waren, ist ihr Buch In Iso­la­tion erschienen. Erzählen Sie bitte, wie das geschah und wie Sie davon erfahren haben? 

 

S.A.: Es war im Sommer 2018. Damals war ich schon seit einem Jahr in Haft. Ich habe erfahren, dass das Buch quasi „dank“ jenes MGB her­aus­ge­kommen war, der mich gerade aus der Iso­la­tion in das Minis­te­rium in Donezk brachte. Dort haben sie eine Prä­sen­ta­tion meines Buches in Kiev gezeigt. Sie fragten mich: „Ist das dein Buch?“ Ich habe selbst­ver­ständ­lich „Nein“ geant­wortet, weil ich über­haupt nicht ver­stand, worum es geht. Als ich mir die Buch­vor­stel­lung genauer angeschaut habe, an der unter anderem auch Poli­tiker, der US-Bot­schafter und Men­schen­rechtler betei­ligt waren, habe ich begriffen, dass es ein­fach ein Sam­mel­band meiner Artikel war, und ant­wor­tete mit „Ja“ und sagte: „Ich war nicht an der Her­aus­gabe betei­ligt, aber alle Inhalte, die es darin gibt, sind meine und ihr bestraft mich doch dafür“ [lacht]. Aber sie haben sich geär­gert, dass das Buch erschienen ist, dass man mich nicht ver­gessen hat und dass die Publi­ka­tion zu einem regel­rechten „Medi­en­hype“ geführt hatte. Sie sagten mir, dass ich ein Inter­view geben müsse, in dem ich sage, dass ich nicht wisse, was das für ein Buch sei und für den Inhalt nicht ver­ant­wort­lich sei. Schließ­lich habe ich das Inter­view gegeben. Es ging aber nicht um das Buch, son­dern wieder um Spio­nage. Ich gab vor der Kamera zu, dass ich ein Spion bin.

 

D.F.: Wie war es über­haupt möglich, in der Iso­la­tion zu schreiben?

 

S.A.: Ich habe noch vor der Iso­la­tion, als ich in Gefan­gen­schaft war, ange­fangen zu schreiben. Die ersten ein­ein­halb Monate habe ich in einem Keller des MGB in Ein­zel­haft ver­bracht. Nach einem Monat habe ich einen Blei­stift­stummel auf dem Boden gefunden und einen alten Papier­ordner, und so hat meine lite­ra­ri­sche Tätig­keit ange­fangen. Ein paar Tage später hat man mich zu einem wei­teren Verhör gebracht und ich habe nach Papier gefragt. Ich sagte, dass ich keine Namen erwähne und dass es sich nur um lite­ra­ri­sche, nicht um jour­na­lis­ti­sche Sachen han­dele. Sie ant­wor­teten, das sei ihnen völlig egal und gaben mir einen Stapel Papier, den ich mit in den Keller nehmen konnte. Ich brachte alles in den Keller, sagte dem Wach­per­sonal, dass ich von der Direk­tion die Erlaubnis zum Schreiben erhalten habe. Wäh­rend der nächsten zwei Wochen habe ich eine Menge Texte geschrieben, die ich dann in die Iso­la­tion mit­ge­nommen habe. Als ich dorthin kam, habe ich gleich der Admi­nis­tra­tion mit­ge­teilt, dass ich diese Texte habe und dass man mir erlaubt hat, sie zu schreiben. Sie sagten: „Das inter­es­siert uns nicht“. Und in den nächsten ein­ein­halb Jahren konnte ich von Zeit zu Zeit einige Texte in Iso­la­tion ver­fassen. Die Texte waren sehr zurück­hal­tend. Es waren „psy­cho­lo­gi­sche Notizen“ über das Ver­halten des Men­schen in der Gefan­gen­schaft, nach der Folter, über die Trans­for­ma­tion ihrer Psyche, Per­sön­lich­keit usw. Wie sich aber später her­aus­ge­stellt hatte, hat man mir das Schreiben nur erlaubt, um mir die Texte dann schließ­lich weg­nehmen zu können. Nach ein­ein­halb Jahren führten sie eine demons­tra­tive Durch­su­chung durch, obwohl wäh­rend der Iso­la­tion nie­mand zu mir kommen und mir etwas mit­bringen konnte. Selbst­ver­ständ­lich fanden sie die 6 Manu­skript­blätter und haben alles Wort für Wort gelesen. Bei den nächsten Abend­essen, die wir immer durch die Fut­ter­klappe bekamen, haben sie eine ganze Woche lang meine Texte zitiert und sich auf diese Weise über mich lustig gemacht. Des­halb weiß ich, dass sie diese Texte nicht zer­stört haben. Aber sie konnten mich nicht wirk­lich schi­ka­nieren, weil es darin nichts Pro­vo­ka­tives gab.

Und sobald ich die Iso­la­tion ver­ließ und mich in einem offi­zi­ellen Gefängnis, in der Unter­su­chungs­haft­an­stalt (SIZO) in Donezk, wie­der­fand, rekon­stru­ierte ich sofort aus dem Gedächtnis all diese Texte, die ich in den ersten beiden Tagen in der Iso­la­tion geschrieben hatte, denn ich hatte sie als Gedichte aus­wendig gelernt, wohl wis­send, dass man sie mir weg­nehmen würde. Und dann, als ich schon in der Kolonie war, konnte ich sie dank eines Mit­häft­lings, der von uns war, wieder her­aus­schmug­geln, denn diese Blätter hatte ich in einem Paket mit Briefen an seine Frau ver­steckt. Und daraus wurde dann das Buch Svetlyj put’.

 

D.F.: Innert zwei Tagen haben Sie es also geschafft, alle Texte wie­der­her­zu­stellen. Das ist unglaub­lich schnell. Die Texte, die Sie in der Gefan­gen­schaft geschrieben haben, konnten Sie aber nicht wie­der­her­stellen, oder?

 

S.A.: Ja, das war schnell, denn ich hatte große Angst, etwas zu über­sehen oder zu ver­gessen. Viel­leicht habe ich fünf Pro­zent von dem, was ich geschrieben habe, ver­gessen. Leider habe ich die Texte, die in der Gefan­gen­schaft auf Pappe geschrieben wurden, völlig ver­loren und kann mich nicht mehr an sie erin­nern. Diese Texte tun mir leid, weil sie tief­gründig, intensiv und expressiv waren. Sie müssen ver­stehen, dass es sich um den ersten Monat nach dem Arrest han­delte. Ich war in einer Ein­zel­zelle im Keller, auch im Sommer dampft man dort aus dem Mund, ich meine, die Bedin­gungen waren schreck­lich. Nach der Folter ist man in diesem Zustand, in dem man nicht unbe­dingt ratio­nale, son­dern eher irra­tio­nale Dinge schreiben kann. Das war fast wie ein Gebet für mich. Aber sie haben diese Texte noch. Viel­leicht ver­kaufen sie sie mir irgend­wann, es sind ja sehr unter­neh­me­ri­sche Jungs [lacht].

 

D.F.: Ich kann mir vor­stellen, wie sehr Ihnen das Schreiben dort geholfen hat. Hatten Sie Schwie­rig­keiten, die alten und neuen Texte im Kopf zu trennen? 

 

S.A.: [Lacht]. Wissen Sie, ich hatte damals keine Pro­bleme damit. Diese Pro­bleme habe ich jetzt, weil ich mich immer noch an diese Texte erin­nere, obwohl ich sie gerne ver­gessen würde. Aber wenn Sie mich jetzt bitten, genau diese Kapitel, die in Iso­la­tion ent­standen sind, jetzt ohne Buch zu lesen, kann ich das tun, aber die, die ich schon in Frei­heit geschrieben habe – nein, an die kann ich mich nicht erin­nern. Die­je­nigen, die in Iso­la­tion geschrieben wurden, haben sich so sehr in mein Gedächtnis ein­ge­brannt, auch weil ich sie nachts immer für mich wie­der­holt habe.

 

D.F.: Das erin­nert mich an die Zeit des Sami­zdat, als Dichter_innen ihre Texte aus­wendig gelernt haben, weil es die ein­zige Mög­lich­keit war, diese zu spei­chern oder weiterzugeben…

 

S.A.: Ja, aber ich habe die Texte nicht nur aus­wendig gelernt, son­dern auch im Kopf geschrieben. Man muss auch ver­stehen, dass das Ein­zige, was man an den Orten des Frei­heits­ent­zugs, ins­be­son­dere in Ein­zel­haft, unter­nehmen kann, die Bewe­gung von einer Wand zur anderen ist. Die Men­schen laufen dort stun­den­lang herum. Es ist eben kein Straf­lager, in dem man sich inner­halb des Ter­ri­to­riums (des Geländes) bewegen kann. Ich selbst bin fünf bis sechs Stunden pro Tag in der Ein­zel­zelle her­um­ge­laufen, um mir die Zeit zu ver­treiben. Aber als ich mich bewegt habe, habe ich neue Texte erschaffen, die ich als Gedichte lernte. Und so ist die Zeit nicht umsonst vergangen.

 

D.F.: Haben Sie Ihre Texte ver­schlüs­selt, damit Sie selbst alles wie­der­her­stellen konnten?

 

S.A.: Ja, natür­lich. Ja, genau so habe ich es getan. Ich habe die Texte extra so geschrieben, dass ich aus einem ein­zigen Absatz zwei bis drei Seiten machen kann. Es geht also nicht um eine Ver­schlüs­se­lung im klas­si­schen Sinne, ich habe keine Wörter oder Ideen ver­schlüs­selt, son­dern habe ver­sucht, jene Asso­zia­tionen anzu­legen, um die es mir beim Schreiben ging. Das heißt, ich habe zum Bei­spiel nicht über den Leiter der Iso­la­tion gespro­chen, ich habe nicht seine Funk­tion erwähnt, ich habe nicht geschrieben, was er mit den Leuten gemacht hat, son­dern es gab Andeu­tungen in einem ein­zigen Satz, die mir halfen, mich an alles zu erin­nern. Ich schrieb, dass es eine hier­ar­chi­sche Struktur der Iso­la­tion war, es gab einen Leiter und es gab die ihm unter­stellte Ver­wal­tung. Das war also ein Ske­lett, dem später Fleisch und Haut wuchsen.

 

D.F.: Die psy­cho­lo­gi­schen Skizzen in Svetlyj put’ kreisen um Macht und die Grenzen des Mensch­li­chen. Was waren die wich­tigsten Erkennt­nisse für Sie?

 

S.A.: Svetlyj put – ist ein Buch über einen Men­schen und dar­über, wozu wir fähig sind, wenn wir uns in einem geschlos­senen Raum abso­luter Macht befinden. Wenn man einem Men­schen abso­lute Macht über einen anderen Men­schen gibt und ihm zusi­chert, dass er für seine Hand­lungen nicht bestraft wird. Iso­la­tion ist ein soziales Expe­ri­ment. Es findet zwar unter dem Deck­mantel des Krieges statt, und diese Leute tragen Tarn­klei­dung und MGB-Abzei­chen, es gibt Panzer und Aus­rüs­tung auf dem Gelände der Fabrik, in der sie Gefan­gene fest­halten, aber all das ist zweit­rangig. Was sie den Men­schen dort angetan haben, geht über den Rahmen der Kriegs­füh­rung hinaus und ist als Kriegs­ver­bre­chen ein­zu­stufen. Das Spe­zi­elle daran ist, dass keiner gezwungen wurde, das zu tun, was sie den Men­schen angetan haben. Des­wegen ist das Buch tief­grün­diger, es geht um den Men­schen, um Humanismus.

 

D.F.: Unter­scheiden sich beide Bücher auch in der Schreibweise?

 

S.A.: Der Stil beider Bücher ist völlig unter­schied­lich. Sie würden nie denken, dass beide Bücher ein und die­selbe Person geschrieben hat. In Iso­la­tion beinhaltet tro­ckene jour­na­lis­ti­sche Repor­tagen. Svetlyj put ist von der Folter und den Ver­hören beein­flusst. Denn bei Ver­hören mit Folter lernt man, sehr kurz, prä­gnant und nur sinn­gemäß zu ant­worten. Wenn du den kleinsten Rückzug, die kleinste Emo­tion zeigst, wenn du sagst: „Leute, nicht schlagen, nicht mit Strom­schlägen“, wirst du sofort geschlagen und sie fangen an, dich noch mehr mit Strom­schlägen zu trak­tieren und du lernst buch­stäb­lich, wie eine Labor­ratte in den ersten Minuten, sehr kurz, klar und umfas­send zu ant­worten [lacht]. Und das hat den Stil von Svetlyj put geprägt: Es beinhaltet klare, deut­liche und kurze Sätze ohne Lyrik oder künst­le­ri­sches Sujet.

 

D.F.: Wie wichtig ist Lite­ratur Ihrer Mei­nung nach in der heu­tigen Ukraine?

 

S.A.: Heut­zu­tage ist die Lite­ratur voll von Kriegs­themen. Ich bin keine Aus­nahme. Obwohl Svetlyj put’, und das betone ich immer, kein Buch über den Krieg ist, es ist ein Pro­dukt des Krieges. Den­noch ist die zeit­ge­nös­si­sche Lite­ratur in erster Linie mit dem Krieg beschäf­tigt. Aber viel­leicht ist das der Grund dafür, dass die Bücher kaum ver­breitet sind, denn die Men­schen sind dieses Themas sehr über­drüssig, sie bekommen den Krieg rund um die Uhr und auf allen Fern­seh­ka­nälen gezeigt. Ich glaube nicht, dass die Lite­ratur in unserem Land einen vor­ran­gigen Ein­fluss hat.

 

D.F.: Könnte die Lite­ratur nicht eigent­lich mehr errei­chen als Journalismus?

 

S.A.: Qua­li­tativ ja, wenn Bücher her­aus­kommen, die nicht das Bewus­stein eines Landes auf den Kopf stellen, son­dern das der ganzen Welt. Im Fall einer glo­balen Ver­brei­tung kann die Lite­ratur dem Jour­na­lismus Kon­kur­renz machen. Aber auch der Jour­na­lismus hat gewal­tige Vor­teile: das visu­elle Bild, Fotos, Videos, Kürze und Emo­tio­na­lität. Jour­na­lismus ist nicht an den ratio­nalen Intel­lekt gerichtet, son­dern an den emotionalen.

 

D.F.: Planen Sie bereits ein neues Buch?

 

S.A.: In der Tat habe ich viele lite­ra­ri­sche Ideen, die nicht voll­endet sind. Aber ich will mich ihnen nicht nähern, weil ich jetzt im Infor­ma­ti­ons­sumpf lebe – voll von Iso­la­tion, Folter, Don­bass, Krieg. Und in diesem Zustand möchte ich mich nicht an künst­le­ri­sche Dinge her­an­wagen, die lite­ra­ri­sche Ruhe erfor­dern. Und ich hoffe, dass ich eines Tages von diesem Thema der Iso­la­tion weg­komme und die Mög­lich­keit habe, wenigs­tens die Dinge, die ich vor langer Zeit begonnen habe, zu Ende zu bringen.

 

Das Gespräch führte Diliara Frühauf (Zürich).

Bild­quelle: Sta­nislav Arseev, © Andrej Dubčak.