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Verschlüsselte Texte. Interview mit Stanislav Aseev

Posted on 9. Dezember 2021 by Diliara Frühauf
2021 ist Stanislav Aseevs Buch "In Isolation: Texte aus dem Donbass" ("V izoljacii", Kiev 2018) auf Deutsch erschienen, das nächste Buch wird schon übersetzt. Aseev ist Journalist und Schriftsteller, seit 2011 veröffentlicht er Gedichte, Prosa und eine Roman-Autobiographie mit dem Titel Mel’chiorovoj slon, ili Čelovek, kotoryj dumal (Der Elefant Melchior oder Der Mann, der dachte). Bekannt gemacht haben ihn vor allem seine unter dem Pseudonym Stanislav Vasin geschriebenen Essays für Radio Svoboda, derentwegen er am 2. Juni 2017 vom „Ministerium für Staatssicherheit der Volksrepublik Donezk“ verschleppt und gefangengenommen wurde. Erst anderthalb Jahre später, am 29. Dezember 2019, wurde er anlässlich eines Gefangenaustauschs zwischen der Ukraine und den prorussischen Volksrepubliken wieder freigelassen. Diliara Frühauf hat sich mit Stanislav Aseev über Zoom getroffen.

2021 ist Stanislav Aseevs Buch In Isolation: Texte aus dem Donbass (V izoljacii, Kiev 2018) auf Deutsch erschienen, das nächste Buch wird schon übersetzt. Aseev ist Journalist und Schriftsteller, seit 2011 veröffentlicht er Gedichte, Prosa und eine Roman-Autobiographie mit dem Titel Mel’chiorovoj slon, ili Čelovek, kotoryj dumal (dt. Der Elefant Melchior oder Der Mann, der dachte). Bekannt gemacht haben ihn vor allem seine unter dem Pseudonym Stanislav Vasin geschriebenen Essays für Radio Svoboda (dt. Freiheit), derentwegen er am 2. Juni 2017 vom „Ministerium für Staatssicherheit der Volksrepublik Donezk“ verschleppt und gefangengenommen wurde. Erst anderthalb Jahre später, am 29. Dezember 2019, wurde er anlässlich eines Gefangenaustauschs zwischen der Ukraine und den prorussischen Volksrepubliken wieder freigelassen. Diliara Frühauf hat sich mit Stanislav Aseev über Zoom getroffen.

Diliara Frühauf: Sie haben zwei Bücher, In Isolation und Svetlyj put, istorija odnogo konclagerja (dt. Erleuchteter Weg, Geschichte eines Konzentrationslagers), über ihre Zeit der Gefangenschaft in der selbsternannten „Volksrepublik Donezk“ verfasst? In Isolation ist gerade auf Deutsch erschienen, wird das zweite auch auf Deutsch übersetzt?

 

Stanislav Aseev: Das Buch In Isolation ist auf Deutsch erschienen, aber das ist kein Buch über die Isolation, sondern ist es ein Sammelband meiner Artikel, die ich für Radio Svoboda und für andere Periodika vor meiner Haft zusammengestellt habe. Svetlyj put ist ein Buch über die Isolation, über ein geheimes Gefängnis, das sich in Donezk befindet. Momentan wird die Übersetzung von Svetlyj put auf Deutsch vorbereitet. Auf Englisch ist das Buch bereits erschienen. Die Bücher In Isolation und Svetlyj put verwechselt man oft, weil In Isolation erschien, als ich in Gefangenschaft war. Das Buch haben meine Kollegen, ein paar Journalisten, publiziert. Sie haben alle Artikel zusammengenommen und in Kiev veröffentlicht. Den Titel In Isolation hat das Buch erhalten, weil ich mich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in der Gefangenschaft mit dem Namen „Isolation“ befand. Für mich persönlich ist das zweite Buch bedeutender. Der Ort, der im Buch beschrieben wird, ist einzigartig für Europa. Es ist mir wichtig, dass die Menschen aus den deutschsprachigen Ländern wissen, was in der Ukraine geschieht.

 

D.F.: Sprechen wir dennoch zuerst über In Isolation. Mir stellt sich die Frage, wie es entstanden ist? Sie haben als Journalist unter einem Pseudonym aus dem okkupierten Donezk für Radio Svoboda berichtet? Wie war das? Warum haben sie unter Pseudonym geschrieben?

 

S.A.: Das Pseudonym war eine Sicherheitsmaßnahme für mich und meine Familie, weil es in dieser Region schon ab Anfang 2014 ein hartes antiukrainisches Regime gab. Man kann es auch ein totalitäres Regime nennen, weil keine Kritik akzeptiert wurde. Es gab keine Akkreditierung, weder für ukrainische noch für westliche Journalist_innen, nur Graham Phillips wurde zugelassen. Wenn ich also unter meinem Namen gearbeitet hätte, wäre ich schon innerhalb einer Woche im Keller gelandet.

 

D.F.: Was war wichtig für Ihre Reportagen bei Radio Svoboda?

 

S.A.: Ursprünglich habe ich nicht journalistische, sondern publizistische Reportagen produziert, in denen ich mir auch einige bewertende Aussagen erlaubte. Später, als ich dort faktisch als einziger proukrainischer Journalist tätig war, der über die Lage berichten konnte, beschlossen wir, dass wir die nächste Stufe erreichen mussten. Ich begann, journalistische Reportagen mit Foto- und Videoinhalten zu erstellen, auch vom Ort des Geschehens. Ich interviewte die Leute und nahm alles mit einem Tonbandgerät auf, wobei ich mich natürlich als russischer Journalist und nicht als ukrainischer vorstellte.

 

D.F.: War die Benutzung des Pseudonyms die einzige Sicherheitsmaßnahme?

 

S.A.: Ich hatte am Handy viele Programme, die die gedrehten Inhalte verbergen konnten. Für den Fall, dass mich eine Patrouille der militärischen Einheiten überprüft hätte, was regelmäßig vorkam. Schließlich haben sie nach meiner Verhaftung Zugang zu all diesen Dateien bekommen, weil ich erzählen musste, wie das Ganze funktioniert. Aber dennoch waren solche Sicherheitsmaßnahmen in einem solchen Gebiet notwendig. Außerdem benutzte ich ein Tor-Browsersystem, das die IP-Adresse meiner persönlichen Facebook-Seite verschlüsselt, so dass man im Falle eines Hackerangriffs nicht herausfinden konnte, wo ich mich aufhielt und von welchem Ort in Donezk oder Makivka aus ich arbeitete. Man muss es sich so vorstellen: Wenn man an einem Ort erschien, wo gerade eine Schießerei (Artilleriebeschuss) stattfand, war dort die DNR-Polizei und das MGB . Das MGB hat mich schlussendlich verhaftet. Man musste sehr vorsichtig sein, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dort gab es auch russische Journalisten. Ich habe ruhig und leise gearbeitet. Als all diese Leute schon weg waren, bin ich dann zu den Einwohnern gegangen und habe sie ausgefragt. Aber das passierte nicht so oft. Meistens habe ich einfach Fotos und Videos aufgenommen und später in meinen Text eingefügt.

 

D.F.: Haben Ihre Texte Sie ins Gefängnis gebracht?

 

S.A.: Ja. Wie sich später herausgestellt hat, habe ich große Aufmerksamkeit auf mich gezogen, nachdem meine Reportagen veröffentlicht worden sind. Das MGB hat mich eineinhalb Jahre lang gesucht. Es war für sie wichtig zu zeigen, dass sie nicht nur einen Journalisten verhaftet haben. Sie wussten, wenn sie das tun, wird es eine „Informationswelle“ bzw. einen Widerstand in den ukrainischen, aber auch in den westlichen Medien geben. Sie haben mich deshalb nicht nur als Journalisten bezeichnet, sondern auch als einen Spion. Aber die Aussagen, dass ich einer bin, haben sie nur bekommen, weil sie mich gefoltert haben. Als Beweis für die Spionage haben sie die gleichen Fotos verwendet, die ich für Radio Svoboda gemacht habe, und diese Fotos sind immer noch auf der Webseite von Radio Svoboda für alle zugänglich. Ich hatte zum Beispiel einen Bericht über Infrastruktureinrichtungen in Donezk geschrieben, die vor dem Krieg eine zivile Bedeutung hatten und nach dem Krieg in Militärbasen und Lagerhäuser umgewandelt wurden. Eines dieser Gebäude war das Hotel Viktoria. Das Hotel steht im Zentrum, in der Nähe der Donbass-Arena, und ist für jeden sichtbar, der mit einem Trolleybus oder einem Bus die Allee entlangfährt. Ich habe das Gebäude einfach fotografiert, und diese Fotografie wurde als Beweis der Spionage verwendet. Sie rechtfertigten es so, dass es sich um ein Objekt mit besonderem Zweck handele. Deshalb könne das Weitergeben von Informationen über dieses Objekt die Sicherheit von Donezk gefährden. Und dafür kann man 10 Jahre Haft bekommen.

 

D.F.: Während Sie im Gefängis waren, ist ihr Buch In Isolation erschienen. Erzählen Sie bitte, wie das geschah und wie Sie davon erfahren haben?

 

S.A.: Es war im Sommer 2018. Damals war ich schon seit einem Jahr in Haft. Ich habe erfahren, dass das Buch quasi „dank“ jenes MGB herausgekommen war, der mich gerade aus der Isolation in das Ministerium in Donezk brachte. Dort haben sie eine Präsentation meines Buches in Kiev gezeigt. Sie fragten mich: „Ist das dein Buch?“ Ich habe selbstverständlich „Nein“ geantwortet, weil ich überhaupt nicht verstand, worum es geht. Als ich mir die Buchvorstellung genauer angeschaut habe, an der unter anderem auch Politiker, der US-Botschafter und Menschenrechtler beteiligt waren, habe ich begriffen, dass es einfach ein Sammelband meiner Artikel war, und antwortete mit „Ja“ und sagte: „Ich war nicht an der Herausgabe beteiligt, aber alle Inhalte, die es darin gibt, sind meine und ihr bestraft mich doch dafür“ . Aber sie haben sich geärgert, dass das Buch erschienen ist, dass man mich nicht vergessen hat und dass die Publikation zu einem regelrechten „Medienhype“ geführt hatte. Sie sagten mir, dass ich ein Interview geben müsse, in dem ich sage, dass ich nicht wisse, was das für ein Buch sei und für den Inhalt nicht verantwortlich sei. Schließlich habe ich das Interview gegeben. Es ging aber nicht um das Buch, sondern wieder um Spionage. Ich gab vor der Kamera zu, dass ich ein Spion bin.

 

D.F.: Wie war es überhaupt möglich, in der Isolation zu schreiben?

 

S.A.: Ich habe noch vor der Isolation, als ich in Gefangenschaft war, angefangen zu schreiben. Die ersten eineinhalb Monate habe ich in einem Keller des MGB in Einzelhaft verbracht. Nach einem Monat habe ich einen Bleistiftstummel auf dem Boden gefunden und einen alten Papierordner, und so hat meine literarische Tätigkeit angefangen. Ein paar Tage später hat man mich zu einem weiteren Verhör gebracht und ich habe nach Papier gefragt. Ich sagte, dass ich keine Namen erwähne und dass es sich nur um literarische, nicht um journalistische Sachen handele. Sie antworteten, das sei ihnen völlig egal und gaben mir einen Stapel Papier, den ich mit in den Keller nehmen konnte. Ich brachte alles in den Keller, sagte dem Wachpersonal, dass ich von der Direktion die Erlaubnis zum Schreiben erhalten habe. Während der nächsten zwei Wochen habe ich eine Menge Texte geschrieben, die ich dann in die Isolation mitgenommen habe. Als ich dorthin kam, habe ich gleich der Administration mitgeteilt, dass ich diese Texte habe und dass man mir erlaubt hat, sie zu schreiben. Sie sagten: „Das interessiert uns nicht“. Und in den nächsten eineinhalb Jahren konnte ich von Zeit zu Zeit einige Texte in Isolation verfassen. Die Texte waren sehr zurückhaltend. Es waren „psychologische Notizen“ über das Verhalten des Menschen in der Gefangenschaft, nach der Folter, über die Transformation ihrer Psyche, Persönlichkeit usw. Wie sich aber später herausgestellt hatte, hat man mir das Schreiben nur erlaubt, um mir die Texte dann schließlich wegnehmen zu können. Nach eineinhalb Jahren führten sie eine demonstrative Durchsuchung durch, obwohl während der Isolation niemand zu mir kommen und mir etwas mitbringen konnte. Selbstverständlich fanden sie die 6 Manuskriptblätter und haben alles Wort für Wort gelesen. Bei den nächsten Abendessen, die wir immer durch die Futterklappe bekamen, haben sie eine ganze Woche lang meine Texte zitiert und sich auf diese Weise über mich lustig gemacht. Deshalb weiß ich, dass sie diese Texte nicht zerstört haben. Aber sie konnten mich nicht wirklich schikanieren, weil es darin nichts Provokatives gab.

Und sobald ich die Isolation verließ und mich in einem offiziellen Gefängnis, in der Untersuchungshaftanstalt (SIZO) in Donezk, wiederfand, rekonstruierte ich sofort aus dem Gedächtnis all diese Texte, die ich in den ersten beiden Tagen in der Isolation geschrieben hatte, denn ich hatte sie als Gedichte auswendig gelernt, wohl wissend, dass man sie mir wegnehmen würde. Und dann, als ich schon in der Kolonie war, konnte ich sie dank eines Mithäftlings, der von uns war, wieder herausschmuggeln, denn diese Blätter hatte ich in einem Paket mit Briefen an seine Frau versteckt. Und daraus wurde dann das Buch Svetlyj put’.

 

D.F.: Innert zwei Tagen haben Sie es also geschafft, alle Texte wiederherzustellen. Das ist unglaublich schnell. Die Texte, die Sie in der Gefangenschaft geschrieben haben, konnten Sie aber nicht wiederherstellen, oder?

 

S.A.: Ja, das war schnell, denn ich hatte große Angst, etwas zu übersehen oder zu vergessen. Vielleicht habe ich fünf Prozent von dem, was ich geschrieben habe, vergessen. Leider habe ich die Texte, die in der Gefangenschaft auf Pappe geschrieben wurden, völlig verloren und kann mich nicht mehr an sie erinnern. Diese Texte tun mir leid, weil sie tiefgründig, intensiv und expressiv waren. Sie müssen verstehen, dass es sich um den ersten Monat nach dem Arrest handelte. Ich war in einer Einzelzelle im Keller, auch im Sommer dampft man dort aus dem Mund, ich meine, die Bedingungen waren schrecklich. Nach der Folter ist man in diesem Zustand, in dem man nicht unbedingt rationale, sondern eher irrationale Dinge schreiben kann. Das war fast wie ein Gebet für mich. Aber sie haben diese Texte noch. Vielleicht verkaufen sie sie mir irgendwann, es sind ja sehr unternehmerische Jungs .

 

D.F.: Ich kann mir vorstellen, wie sehr Ihnen das Schreiben dort geholfen hat. Hatten Sie Schwierigkeiten, die alten und neuen Texte im Kopf zu trennen?

 

S.A.: . Wissen Sie, ich hatte damals keine Probleme damit. Diese Probleme habe ich jetzt, weil ich mich immer noch an diese Texte erinnere, obwohl ich sie gerne vergessen würde. Aber wenn Sie mich jetzt bitten, genau diese Kapitel, die in Isolation entstanden sind, jetzt ohne Buch zu lesen, kann ich das tun, aber die, die ich schon in Freiheit geschrieben habe – nein, an die kann ich mich nicht erinnern. Diejenigen, die in Isolation geschrieben wurden, haben sich so sehr in mein Gedächtnis eingebrannt, auch weil ich sie nachts immer für mich wiederholt habe.

 

D.F.: Das erinnert mich an die Zeit des Samizdat, als Dichter_innen ihre Texte auswendig gelernt haben, weil es die einzige Möglichkeit war, diese zu speichern oder weiterzugeben…

 

S.A.: Ja, aber ich habe die Texte nicht nur auswendig gelernt, sondern auch im Kopf geschrieben. Man muss auch verstehen, dass das Einzige, was man an den Orten des Freiheitsentzugs, insbesondere in Einzelhaft, unternehmen kann, die Bewegung von einer Wand zur anderen ist. Die Menschen laufen dort stundenlang herum. Es ist eben kein Straflager, in dem man sich innerhalb des Territoriums (des Geländes) bewegen kann. Ich selbst bin fünf bis sechs Stunden pro Tag in der Einzelzelle herumgelaufen, um mir die Zeit zu vertreiben. Aber als ich mich bewegt habe, habe ich neue Texte erschaffen, die ich als Gedichte lernte. Und so ist die Zeit nicht umsonst vergangen.

 

D.F.: Haben Sie Ihre Texte verschlüsselt, damit Sie selbst alles wiederherstellen konnten?

 

S.A.: Ja, natürlich. Ja, genau so habe ich es getan. Ich habe die Texte extra so geschrieben, dass ich aus einem einzigen Absatz zwei bis drei Seiten machen kann. Es geht also nicht um eine Verschlüsselung im klassischen Sinne, ich habe keine Wörter oder Ideen verschlüsselt, sondern habe versucht, jene Assoziationen anzulegen, um die es mir beim Schreiben ging. Das heißt, ich habe zum Beispiel nicht über den Leiter der Isolation gesprochen, ich habe nicht seine Funktion erwähnt, ich habe nicht geschrieben, was er mit den Leuten gemacht hat, sondern es gab Andeutungen in einem einzigen Satz, die mir halfen, mich an alles zu erinnern. Ich schrieb, dass es eine hierarchische Struktur der Isolation war, es gab einen Leiter und es gab die ihm unterstellte Verwaltung. Das war also ein Skelett, dem später Fleisch und Haut wuchsen.

 

D.F.: Die psychologischen Skizzen in Svetlyj put’ kreisen um Macht und die Grenzen des Menschlichen. Was waren die wichtigsten Erkenntnisse für Sie?

 

S.A.: Svetlyj put – ist ein Buch über einen Menschen und darüber, wozu wir fähig sind, wenn wir uns in einem geschlossenen Raum absoluter Macht befinden. Wenn man einem Menschen absolute Macht über einen anderen Menschen gibt und ihm zusichert, dass er für seine Handlungen nicht bestraft wird. Isolation ist ein soziales Experiment. Es findet zwar unter dem Deckmantel des Krieges statt, und diese Leute tragen Tarnkleidung und MGB-Abzeichen, es gibt Panzer und Ausrüstung auf dem Gelände der Fabrik, in der sie Gefangene festhalten, aber all das ist zweitrangig. Was sie den Menschen dort angetan haben, geht über den Rahmen der Kriegsführung hinaus und ist als Kriegsverbrechen einzustufen. Das Spezielle daran ist, dass keiner gezwungen wurde, das zu tun, was sie den Menschen angetan haben. Deswegen ist das Buch tiefgründiger, es geht um den Menschen, um Humanismus.

 

D.F.: Unterscheiden sich beide Bücher auch in der Schreibweise?

 

S.A.: Der Stil beider Bücher ist völlig unterschiedlich. Sie würden nie denken, dass beide Bücher ein und dieselbe Person geschrieben hat. In Isolation beinhaltet trockene journalistische Reportagen. Svetlyj put ist von der Folter und den Verhören beeinflusst. Denn bei Verhören mit Folter lernt man, sehr kurz, prägnant und nur sinngemäß zu antworten. Wenn du den kleinsten Rückzug, die kleinste Emotion zeigst, wenn du sagst: „Leute, nicht schlagen, nicht mit Stromschlägen“, wirst du sofort geschlagen und sie fangen an, dich noch mehr mit Stromschlägen zu traktieren und du lernst buchstäblich, wie eine Laborratte in den ersten Minuten, sehr kurz, klar und umfassend zu antworten . Und das hat den Stil von Svetlyj put geprägt: Es beinhaltet klare, deutliche und kurze Sätze ohne Lyrik oder künstlerisches Sujet.

 

D.F.: Wie wichtig ist Literatur Ihrer Meinung nach in der heutigen Ukraine?

 

S.A.: Heutzutage ist die Literatur voll von Kriegsthemen. Ich bin keine Ausnahme. Obwohl Svetlyj put’, und das betone ich immer, kein Buch über den Krieg ist, es ist ein Produkt des Krieges. Dennoch ist die zeitgenössische Literatur in erster Linie mit dem Krieg beschäftigt. Aber vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Bücher kaum verbreitet sind, denn die Menschen sind dieses Themas sehr überdrüssig, sie bekommen den Krieg rund um die Uhr und auf allen Fernsehkanälen gezeigt. Ich glaube nicht, dass die Literatur in unserem Land einen vorrangigen Einfluss hat.

 

D.F.: Könnte die Literatur nicht eigentlich mehr erreichen als Journalismus?

 

S.A.: Qualitativ ja, wenn Bücher herauskommen, die nicht das Bewusstein eines Landes auf den Kopf stellen, sondern das der ganzen Welt. Im Fall einer globalen Verbreitung kann die Literatur dem Journalismus Konkurrenz machen. Aber auch der Journalismus hat gewaltige Vorteile: das visuelle Bild, Fotos, Videos, Kürze und Emotionalität. Journalismus ist nicht an den rationalen Intellekt gerichtet, sondern an den emotionalen.

 

D.F.: Planen Sie bereits ein neues Buch?

 

S.A.: In der Tat habe ich viele literarische Ideen, die nicht vollendet sind. Aber ich will mich ihnen nicht nähern, weil ich jetzt im Informationssumpf lebe – voll von Isolation, Folter, Donbass, Krieg. Und in diesem Zustand möchte ich mich nicht an künstlerische Dinge heranwagen, die literarische Ruhe erfordern. Und ich hoffe, dass ich eines Tages von diesem Thema der Isolation wegkomme und die Möglichkeit habe, wenigstens die Dinge, die ich vor langer Zeit begonnen habe, zu Ende zu bringen.

 

Das Gespräch führte Diliara Frühauf (Zürich).

Bildquelle: Stanislav Arseev, © Andrej Dubčak.

Verschlüsselte Texte. Interview mit Stanislav Aseev - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ver­schlüs­selte Texte. Inter­view mit Sta­nislav Aseev

2021 ist Sta­nislav Aseevs Buch In Iso­la­tion: Texte aus dem Don­bass (V izol­jacii, Kiev 2018) auf Deutsch erschienen, das nächste Buch wird schon über­setzt. Aseev ist Jour­na­list und Schrift­steller, seit 2011 ver­öf­fent­licht er Gedichte, Prosa und eine Roman-Auto­bio­gra­phie mit dem Titel Mel’chiorovoj slon, ili Čel­ovek, kotoryj dumal (dt. Der Ele­fant Mel­chior oder Der Mann, der dachte). Bekannt gemacht haben ihn vor allem seine unter dem Pseud­onym Sta­nislav Vasin geschrie­benen Essays für Radio Svo­boda (dt. Frei­heit), derent­wegen er am 2. Juni 2017 vom „Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit der Volks­re­pu­blik Donezk“ ver­schleppt und gefan­gen­ge­nommen wurde. Erst andert­halb Jahre später, am 29. Dezember 2019, wurde er anläss­lich eines Gefan­gen­aus­tauschs zwi­schen der Ukraine und den pro­rus­si­schen Volks­re­pu­bliken wieder frei­ge­lassen. Diliara Frühauf hat sich mit Sta­nislav Aseev über Zoom getroffen.

Diliara Frühauf: Sie haben zwei Bücher, In Iso­la­tion und Svetlyj put, isto­rija odnogo kon­cla­gerja (dt. Erleuch­teter Weg, Geschichte eines Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers), über ihre Zeit der Gefan­gen­schaft in der selbst­er­nannten „Volks­re­pu­blik Donezk“ ver­fasst? In Iso­la­tion ist gerade auf Deutsch erschienen, wird das zweite auch auf Deutsch übersetzt?

 

Sta­nislav Aseev: Das Buch In Iso­la­tion ist auf Deutsch erschienen, aber das ist kein Buch über die Iso­la­tion, son­dern ist es ein Sam­mel­band meiner Artikel, die ich für Radio Svo­boda und für andere Peri­odika vor meiner Haft zusam­men­ge­stellt habe. Svetlyj put ist ein Buch über die Iso­la­tion, über ein geheimes Gefängnis, das sich in Donezk befindet. Momentan wird die Über­set­zung von Svetlyj put auf Deutsch vor­be­reitet. Auf Eng­lisch ist das Buch bereits erschienen. Die Bücher In Iso­la­tion und Svetlyj put ver­wech­selt man oft, weil In Iso­la­tion erschien, als ich in Gefan­gen­schaft war. Das Buch haben meine Kol­legen, ein paar Jour­na­listen, publi­ziert. Sie haben alle Artikel zusam­men­ge­nommen und in Kiev ver­öf­fent­licht. Den Titel In Iso­la­tion hat das Buch erhalten, weil ich mich zum Zeit­punkt der Ver­öf­fent­li­chung in der Gefan­gen­schaft mit dem Namen „Iso­la­tion“ befand. Für mich per­sön­lich ist das zweite Buch bedeu­tender. Der Ort, der im Buch beschrieben wird, ist ein­zig­artig für Europa. Es ist mir wichtig, dass die Men­schen aus den deutsch­spra­chigen Län­dern wissen, was in der Ukraine geschieht.

 

D.F.: Spre­chen wir den­noch zuerst über In Iso­la­tion. Mir stellt sich die Frage, wie es ent­standen ist? Sie haben als Jour­na­list unter einem Pseud­onym aus dem okku­pierten Donezk für Radio Svo­boda berichtet? Wie war das? Warum haben sie unter Pseud­onym geschrieben?

 

S.A.: Das Pseud­onym war eine Sicher­heits­maß­nahme für mich und meine Familie, weil es in dieser Region schon ab Anfang 2014 ein hartes anti­ukrai­ni­sches Regime gab. Man kann es auch ein tota­li­täres Regime nennen, weil keine Kritik akzep­tiert wurde. Es gab keine Akkre­di­tie­rung, weder für ukrai­ni­sche noch für west­liche Journalist_innen, nur Graham Phil­lips [bri­ti­scher Jour­na­list, Mit­ar­beiter der rus­si­schen Medien „Russia Today“ und „Zvezda“] wurde zuge­lassen. Wenn ich also unter meinem Namen gear­beitet hätte, wäre ich schon inner­halb einer Woche im Keller gelandet.

 

D.F.: Was war wichtig für Ihre Repor­tagen bei Radio Svo­boda?

 

S.A.: Ursprüng­lich habe ich nicht jour­na­lis­ti­sche, son­dern publi­zis­ti­sche Repor­tagen pro­du­ziert, in denen ich mir auch einige bewer­tende Aus­sagen erlaubte. Später, als ich dort fak­tisch als ein­ziger proukrai­ni­scher Jour­na­list tätig war, der über die Lage berichten konnte, beschlossen wir, dass wir die nächste Stufe errei­chen mussten. Ich begann, jour­na­lis­ti­sche Repor­tagen mit Foto- und Video­in­halten zu erstellen, auch vom Ort des Gesche­hens. Ich inter­viewte die Leute und nahm alles mit einem Ton­band­gerät auf, wobei ich mich natür­lich als rus­si­scher Jour­na­list und nicht als ukrai­ni­scher vorstellte.

 

D.F.: War die Benut­zung des Pseud­onyms die ein­zige Sicherheitsmaßnahme?

 

S.A.: Ich hatte am Handy viele Pro­gramme, die die gedrehten Inhalte ver­bergen konnten. Für den Fall, dass mich eine Patrouille der mili­tä­ri­schen Ein­heiten über­prüft hätte, was regel­mäßig vorkam. Schließ­lich haben sie nach meiner Ver­haf­tung Zugang zu all diesen Dateien bekommen, weil ich erzählen musste, wie das Ganze funk­tio­niert. Aber den­noch waren solche Sicher­heits­maß­nahmen in einem sol­chen Gebiet not­wendig. Außerdem benutzte ich ein Tor-Brow­ser­system, das die IP-Adresse meiner per­sön­li­chen Face­book-Seite ver­schlüs­selt, so dass man im Falle eines Hacker­an­griffs nicht her­aus­finden konnte, wo ich mich auf­hielt und von wel­chem Ort in Donezk oder Makivka aus ich arbei­tete. Man muss es sich so vor­stellen: Wenn man an einem Ort erschien, wo gerade eine Schie­ßerei (Artil­le­rie­be­schuss) statt­fand, war dort die DNR-Polizei [Polizei der Donezker Volks­re­pu­blik] und das MGB [Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit]. Das MGB hat mich schluss­end­lich ver­haftet. Man musste sehr vor­sichtig sein, um keine Auf­merk­sam­keit auf sich zu ziehen. Dort gab es auch rus­si­sche Jour­na­listen. Ich habe ruhig und leise gear­beitet. Als all diese Leute schon weg waren, bin ich dann zu den Ein­woh­nern gegangen und habe sie aus­ge­fragt. Aber das pas­sierte nicht so oft. Meis­tens habe ich ein­fach Fotos und Videos auf­ge­nommen und später in meinen Text eingefügt.

 

D.F.: Haben Ihre Texte Sie ins Gefängnis gebracht?

 

S.A.: Ja. Wie sich später her­aus­ge­stellt hat, habe ich große Auf­merk­sam­keit auf mich gezogen, nachdem meine Repor­tagen ver­öf­fent­licht worden sind. Das MGB hat mich ein­ein­halb Jahre lang gesucht. Es war für sie wichtig zu zeigen, dass sie nicht nur einen Jour­na­listen ver­haftet haben. Sie wussten, wenn sie das tun, wird es eine „Infor­ma­ti­ons­welle“ bzw. einen Wider­stand in den ukrai­ni­schen, aber auch in den west­li­chen Medien geben. Sie haben mich des­halb nicht nur als Jour­na­listen bezeichnet, son­dern auch als einen Spion. Aber die Aus­sagen, dass ich einer bin, haben sie nur bekommen, weil sie mich gefol­tert haben. Als Beweis für die Spio­nage haben sie die glei­chen Fotos ver­wendet, die ich für Radio Svo­boda gemacht habe, und diese Fotos sind immer noch auf der Web­seite von Radio Svo­boda für alle zugäng­lich. Ich hatte zum Bei­spiel einen Bericht über Infra­struk­tur­ein­rich­tungen in Donezk geschrieben, die vor dem Krieg eine zivile Bedeu­tung hatten und nach dem Krieg in Mili­tär­basen und Lager­häuser umge­wan­delt wurden. Eines dieser Gebäude war das Hotel Vik­toria. Das Hotel steht im Zen­trum, in der Nähe der Don­bass-Arena, und ist für jeden sichtbar, der mit einem Trol­leybus oder einem Bus die Allee ent­lang­fährt. Ich habe das Gebäude ein­fach foto­gra­fiert, und diese Foto­grafie wurde als Beweis der Spio­nage ver­wendet. Sie recht­fer­tigten es so, dass es sich um ein Objekt mit beson­derem Zweck han­dele. Des­halb könne das Wei­ter­geben von Infor­ma­tionen über dieses Objekt die Sicher­heit von Donezk gefährden. Und dafür kann man 10 Jahre Haft bekommen.

 

D.F.: Während Sie im Gefängis waren, ist ihr Buch In Iso­la­tion erschienen. Erzählen Sie bitte, wie das geschah und wie Sie davon erfahren haben? 

 

S.A.: Es war im Sommer 2018. Damals war ich schon seit einem Jahr in Haft. Ich habe erfahren, dass das Buch quasi „dank“ jenes MGB her­aus­ge­kommen war, der mich gerade aus der Iso­la­tion in das Minis­te­rium in Donezk brachte. Dort haben sie eine Prä­sen­ta­tion meines Buches in Kiev gezeigt. Sie fragten mich: „Ist das dein Buch?“ Ich habe selbst­ver­ständ­lich „Nein“ geant­wortet, weil ich über­haupt nicht ver­stand, worum es geht. Als ich mir die Buch­vor­stel­lung genauer angeschaut habe, an der unter anderem auch Poli­tiker, der US-Bot­schafter und Men­schen­rechtler betei­ligt waren, habe ich begriffen, dass es ein­fach ein Sam­mel­band meiner Artikel war, und ant­wor­tete mit „Ja“ und sagte: „Ich war nicht an der Her­aus­gabe betei­ligt, aber alle Inhalte, die es darin gibt, sind meine und ihr bestraft mich doch dafür“ [lacht]. Aber sie haben sich geär­gert, dass das Buch erschienen ist, dass man mich nicht ver­gessen hat und dass die Publi­ka­tion zu einem regel­rechten „Medi­en­hype“ geführt hatte. Sie sagten mir, dass ich ein Inter­view geben müsse, in dem ich sage, dass ich nicht wisse, was das für ein Buch sei und für den Inhalt nicht ver­ant­wort­lich sei. Schließ­lich habe ich das Inter­view gegeben. Es ging aber nicht um das Buch, son­dern wieder um Spio­nage. Ich gab vor der Kamera zu, dass ich ein Spion bin.

 

D.F.: Wie war es über­haupt möglich, in der Iso­la­tion zu schreiben?

 

S.A.: Ich habe noch vor der Iso­la­tion, als ich in Gefan­gen­schaft war, ange­fangen zu schreiben. Die ersten ein­ein­halb Monate habe ich in einem Keller des MGB in Ein­zel­haft ver­bracht. Nach einem Monat habe ich einen Blei­stift­stummel auf dem Boden gefunden und einen alten Papier­ordner, und so hat meine lite­ra­ri­sche Tätig­keit ange­fangen. Ein paar Tage später hat man mich zu einem wei­teren Verhör gebracht und ich habe nach Papier gefragt. Ich sagte, dass ich keine Namen erwähne und dass es sich nur um lite­ra­ri­sche, nicht um jour­na­lis­ti­sche Sachen han­dele. Sie ant­wor­teten, das sei ihnen völlig egal und gaben mir einen Stapel Papier, den ich mit in den Keller nehmen konnte. Ich brachte alles in den Keller, sagte dem Wach­per­sonal, dass ich von der Direk­tion die Erlaubnis zum Schreiben erhalten habe. Wäh­rend der nächsten zwei Wochen habe ich eine Menge Texte geschrieben, die ich dann in die Iso­la­tion mit­ge­nommen habe. Als ich dorthin kam, habe ich gleich der Admi­nis­tra­tion mit­ge­teilt, dass ich diese Texte habe und dass man mir erlaubt hat, sie zu schreiben. Sie sagten: „Das inter­es­siert uns nicht“. Und in den nächsten ein­ein­halb Jahren konnte ich von Zeit zu Zeit einige Texte in Iso­la­tion ver­fassen. Die Texte waren sehr zurück­hal­tend. Es waren „psy­cho­lo­gi­sche Notizen“ über das Ver­halten des Men­schen in der Gefan­gen­schaft, nach der Folter, über die Trans­for­ma­tion ihrer Psyche, Per­sön­lich­keit usw. Wie sich aber später her­aus­ge­stellt hatte, hat man mir das Schreiben nur erlaubt, um mir die Texte dann schließ­lich weg­nehmen zu können. Nach ein­ein­halb Jahren führten sie eine demons­tra­tive Durch­su­chung durch, obwohl wäh­rend der Iso­la­tion nie­mand zu mir kommen und mir etwas mit­bringen konnte. Selbst­ver­ständ­lich fanden sie die 6 Manu­skript­blätter und haben alles Wort für Wort gelesen. Bei den nächsten Abend­essen, die wir immer durch die Fut­ter­klappe bekamen, haben sie eine ganze Woche lang meine Texte zitiert und sich auf diese Weise über mich lustig gemacht. Des­halb weiß ich, dass sie diese Texte nicht zer­stört haben. Aber sie konnten mich nicht wirk­lich schi­ka­nieren, weil es darin nichts Pro­vo­ka­tives gab.

Und sobald ich die Iso­la­tion ver­ließ und mich in einem offi­zi­ellen Gefängnis, in der Unter­su­chungs­haft­an­stalt (SIZO) in Donezk, wie­der­fand, rekon­stru­ierte ich sofort aus dem Gedächtnis all diese Texte, die ich in den ersten beiden Tagen in der Iso­la­tion geschrieben hatte, denn ich hatte sie als Gedichte aus­wendig gelernt, wohl wis­send, dass man sie mir weg­nehmen würde. Und dann, als ich schon in der Kolonie war, konnte ich sie dank eines Mit­häft­lings, der von uns war, wieder her­aus­schmug­geln, denn diese Blätter hatte ich in einem Paket mit Briefen an seine Frau ver­steckt. Und daraus wurde dann das Buch Svetlyj put’.

 

D.F.: Innert zwei Tagen haben Sie es also geschafft, alle Texte wie­der­her­zu­stellen. Das ist unglaub­lich schnell. Die Texte, die Sie in der Gefan­gen­schaft geschrieben haben, konnten Sie aber nicht wie­der­her­stellen, oder?

 

S.A.: Ja, das war schnell, denn ich hatte große Angst, etwas zu über­sehen oder zu ver­gessen. Viel­leicht habe ich fünf Pro­zent von dem, was ich geschrieben habe, ver­gessen. Leider habe ich die Texte, die in der Gefan­gen­schaft auf Pappe geschrieben wurden, völlig ver­loren und kann mich nicht mehr an sie erin­nern. Diese Texte tun mir leid, weil sie tief­gründig, intensiv und expressiv waren. Sie müssen ver­stehen, dass es sich um den ersten Monat nach dem Arrest han­delte. Ich war in einer Ein­zel­zelle im Keller, auch im Sommer dampft man dort aus dem Mund, ich meine, die Bedin­gungen waren schreck­lich. Nach der Folter ist man in diesem Zustand, in dem man nicht unbe­dingt ratio­nale, son­dern eher irra­tio­nale Dinge schreiben kann. Das war fast wie ein Gebet für mich. Aber sie haben diese Texte noch. Viel­leicht ver­kaufen sie sie mir irgend­wann, es sind ja sehr unter­neh­me­ri­sche Jungs [lacht].

 

D.F.: Ich kann mir vor­stellen, wie sehr Ihnen das Schreiben dort geholfen hat. Hatten Sie Schwie­rig­keiten, die alten und neuen Texte im Kopf zu trennen? 

 

S.A.: [Lacht]. Wissen Sie, ich hatte damals keine Pro­bleme damit. Diese Pro­bleme habe ich jetzt, weil ich mich immer noch an diese Texte erin­nere, obwohl ich sie gerne ver­gessen würde. Aber wenn Sie mich jetzt bitten, genau diese Kapitel, die in Iso­la­tion ent­standen sind, jetzt ohne Buch zu lesen, kann ich das tun, aber die, die ich schon in Frei­heit geschrieben habe – nein, an die kann ich mich nicht erin­nern. Die­je­nigen, die in Iso­la­tion geschrieben wurden, haben sich so sehr in mein Gedächtnis ein­ge­brannt, auch weil ich sie nachts immer für mich wie­der­holt habe.

 

D.F.: Das erin­nert mich an die Zeit des Sami­zdat, als Dichter_innen ihre Texte aus­wendig gelernt haben, weil es die ein­zige Mög­lich­keit war, diese zu spei­chern oder weiterzugeben…

 

S.A.: Ja, aber ich habe die Texte nicht nur aus­wendig gelernt, son­dern auch im Kopf geschrieben. Man muss auch ver­stehen, dass das Ein­zige, was man an den Orten des Frei­heits­ent­zugs, ins­be­son­dere in Ein­zel­haft, unter­nehmen kann, die Bewe­gung von einer Wand zur anderen ist. Die Men­schen laufen dort stun­den­lang herum. Es ist eben kein Straf­lager, in dem man sich inner­halb des Ter­ri­to­riums (des Geländes) bewegen kann. Ich selbst bin fünf bis sechs Stunden pro Tag in der Ein­zel­zelle her­um­ge­laufen, um mir die Zeit zu ver­treiben. Aber als ich mich bewegt habe, habe ich neue Texte erschaffen, die ich als Gedichte lernte. Und so ist die Zeit nicht umsonst vergangen.

 

D.F.: Haben Sie Ihre Texte ver­schlüs­selt, damit Sie selbst alles wie­der­her­stellen konnten?

 

S.A.: Ja, natür­lich. Ja, genau so habe ich es getan. Ich habe die Texte extra so geschrieben, dass ich aus einem ein­zigen Absatz zwei bis drei Seiten machen kann. Es geht also nicht um eine Ver­schlüs­se­lung im klas­si­schen Sinne, ich habe keine Wörter oder Ideen ver­schlüs­selt, son­dern habe ver­sucht, jene Asso­zia­tionen anzu­legen, um die es mir beim Schreiben ging. Das heißt, ich habe zum Bei­spiel nicht über den Leiter der Iso­la­tion gespro­chen, ich habe nicht seine Funk­tion erwähnt, ich habe nicht geschrieben, was er mit den Leuten gemacht hat, son­dern es gab Andeu­tungen in einem ein­zigen Satz, die mir halfen, mich an alles zu erin­nern. Ich schrieb, dass es eine hier­ar­chi­sche Struktur der Iso­la­tion war, es gab einen Leiter und es gab die ihm unter­stellte Ver­wal­tung. Das war also ein Ske­lett, dem später Fleisch und Haut wuchsen.

 

D.F.: Die psy­cho­lo­gi­schen Skizzen in Svetlyj put’ kreisen um Macht und die Grenzen des Mensch­li­chen. Was waren die wich­tigsten Erkennt­nisse für Sie?

 

S.A.: Svetlyj put – ist ein Buch über einen Men­schen und dar­über, wozu wir fähig sind, wenn wir uns in einem geschlos­senen Raum abso­luter Macht befinden. Wenn man einem Men­schen abso­lute Macht über einen anderen Men­schen gibt und ihm zusi­chert, dass er für seine Hand­lungen nicht bestraft wird. Iso­la­tion ist ein soziales Expe­ri­ment. Es findet zwar unter dem Deck­mantel des Krieges statt, und diese Leute tragen Tarn­klei­dung und MGB-Abzei­chen, es gibt Panzer und Aus­rüs­tung auf dem Gelände der Fabrik, in der sie Gefan­gene fest­halten, aber all das ist zweit­rangig. Was sie den Men­schen dort angetan haben, geht über den Rahmen der Kriegs­füh­rung hinaus und ist als Kriegs­ver­bre­chen ein­zu­stufen. Das Spe­zi­elle daran ist, dass keiner gezwungen wurde, das zu tun, was sie den Men­schen angetan haben. Des­wegen ist das Buch tief­grün­diger, es geht um den Men­schen, um Humanismus.

 

D.F.: Unter­scheiden sich beide Bücher auch in der Schreibweise?

 

S.A.: Der Stil beider Bücher ist völlig unter­schied­lich. Sie würden nie denken, dass beide Bücher ein und die­selbe Person geschrieben hat. In Iso­la­tion beinhaltet tro­ckene jour­na­lis­ti­sche Repor­tagen. Svetlyj put ist von der Folter und den Ver­hören beein­flusst. Denn bei Ver­hören mit Folter lernt man, sehr kurz, prä­gnant und nur sinn­gemäß zu ant­worten. Wenn du den kleinsten Rückzug, die kleinste Emo­tion zeigst, wenn du sagst: „Leute, nicht schlagen, nicht mit Strom­schlägen“, wirst du sofort geschlagen und sie fangen an, dich noch mehr mit Strom­schlägen zu trak­tieren und du lernst buch­stäb­lich, wie eine Labor­ratte in den ersten Minuten, sehr kurz, klar und umfas­send zu ant­worten [lacht]. Und das hat den Stil von Svetlyj put geprägt: Es beinhaltet klare, deut­liche und kurze Sätze ohne Lyrik oder künst­le­ri­sches Sujet.

 

D.F.: Wie wichtig ist Lite­ratur Ihrer Mei­nung nach in der heu­tigen Ukraine?

 

S.A.: Heut­zu­tage ist die Lite­ratur voll von Kriegs­themen. Ich bin keine Aus­nahme. Obwohl Svetlyj put’, und das betone ich immer, kein Buch über den Krieg ist, es ist ein Pro­dukt des Krieges. Den­noch ist die zeit­ge­nös­si­sche Lite­ratur in erster Linie mit dem Krieg beschäf­tigt. Aber viel­leicht ist das der Grund dafür, dass die Bücher kaum ver­breitet sind, denn die Men­schen sind dieses Themas sehr über­drüssig, sie bekommen den Krieg rund um die Uhr und auf allen Fern­seh­ka­nälen gezeigt. Ich glaube nicht, dass die Lite­ratur in unserem Land einen vor­ran­gigen Ein­fluss hat.

 

D.F.: Könnte die Lite­ratur nicht eigent­lich mehr errei­chen als Journalismus?

 

S.A.: Qua­li­tativ ja, wenn Bücher her­aus­kommen, die nicht das Bewus­stein eines Landes auf den Kopf stellen, son­dern das der ganzen Welt. Im Fall einer glo­balen Ver­brei­tung kann die Lite­ratur dem Jour­na­lismus Kon­kur­renz machen. Aber auch der Jour­na­lismus hat gewal­tige Vor­teile: das visu­elle Bild, Fotos, Videos, Kürze und Emo­tio­na­lität. Jour­na­lismus ist nicht an den ratio­nalen Intel­lekt gerichtet, son­dern an den emotionalen.

 

D.F.: Planen Sie bereits ein neues Buch?

 

S.A.: In der Tat habe ich viele lite­ra­ri­sche Ideen, die nicht voll­endet sind. Aber ich will mich ihnen nicht nähern, weil ich jetzt im Infor­ma­ti­ons­sumpf lebe – voll von Iso­la­tion, Folter, Don­bass, Krieg. Und in diesem Zustand möchte ich mich nicht an künst­le­ri­sche Dinge her­an­wagen, die lite­ra­ri­sche Ruhe erfor­dern. Und ich hoffe, dass ich eines Tages von diesem Thema der Iso­la­tion weg­komme und die Mög­lich­keit habe, wenigs­tens die Dinge, die ich vor langer Zeit begonnen habe, zu Ende zu bringen.

 

Das Gespräch führte Diliara Frühauf (Zürich).

Bild­quelle: Sta­nislav Arseev, © Andrej Dubčak.