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Visibilität, Repräsentation, Aneignung: Aktionen in Solidarität mit Buča

Posted on 22. April 2022 by Katharina Tönsmann
Seit dem vermehrten Eintreffen der internationalen Presse ab dem 02. April 2022 an Orten, wo ehemals die russische Armee stationiert war, häufen sich Berichte über durch die russischen Besatzer verübte Folterungen, Vergewaltigungen und Erschießungen an der Zivilbevölkerung. Neben Irpin’ und Motižin ist dabei insbesondere die Stadt Buča, wo man zur Zeit von mehr als 400 zivilen Todesopfern ausgeht, zur metonymischen Bezeichnung für die von russischen Soldaten an der ukrainischen Bevölkerung verübten brutalen Kriegsverbrechen geworden.

Seitdem ab dem 2. April vermehrt die internationale Presse in den Gebieten bei Kyiv eintraf, die seit Anfang März von russischen Truppen besetzt gehalten worden waren, häufen sich Berichte über durch die russischen Besatzer verübte Folterungen, Vergewaltigungen und Erschießungen an der Zivilbevölkerung. Neben Irpin’, Motižin und Borodjanka ist dabei insbesondere die Stadt Buča, wo man zur Zeit von mehr als 400 zivilen Todesopfern ausgeht, zur metonymischen Bezeichnung für die von russischen Soldaten an der ukrainischen Bevölkerung verübten brutalen Kriegsverbrechen geworden.

Die Aufnahmen aus den Orten und Kleinstädten in der Kyiver Oblast wurden Anlass für eine Reihe von Aktionen in Gedenken an und Solidarität mit den zivilen Opfern: Am 5. April veröffentlichte das russische Online-Magazin Cholod Bilder der Aktion „Buča-Moskva“, auf denen ein*e anonyme Aktivist*in an verschiedenen Orten im Zentrum Moskaus mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen auf dem Boden liegend zu sehen ist. Tags darauf fanden in Berlin, Tbilissi, Vilnius und Warschau, etwas später auch in Almaty, Bratislava, Helsinki und Krasnodar Aktionen statt, bei denen die Teilnehmenden sich in Positionen, ähnlich denen, in denen die ermordeten Zivilist*innen gefunden wurden, ausgestreckt auf die Erde legten.

 

Trotz ihres gemeinsamen Bezugs auf die Verbrechen von und die Bilder aus Buča sind die Aktionen in ihrem Gehalt und ihren Implikationen keinesfalls eindeutig und nicht ohne weiteres einander gleichzusetzen, weshalb sie sich nur schwer auf einen gemeinsamen Begriff bringen lassen. In klarer Unterscheidung von den Ereignissen selbst, bei denen es sich entgegen der Behauptung der russischen Propaganda in keiner Weise um eine Inszenierung handelt, lassen sich die hier besprochenen Aktionen vielleicht als performances im Sinne bewusster symbolischer Handlungen fassen. Auf höchst unterschiedliche und nicht immer eindeutige Weise setzen sich darin verschiedene Akteure in Beziehung zu den Opfern und richten sich in spezifischer Weise an ein bestimmtes Publikum – etwa durch die Details der Inszenierung der symbolischen Akte, aber auch durch diskursives Framing im Titel oder kommentierenden Begleittext. Diese Akte stehen dabei innerhalb von historischen und bestehenden geopolitischen Machtverhältnissen und nehmen aktiv Bezug auf diese. Im Vordergrund stehen dabei meist diejenigen zwischen der Imperialmacht Russland und denjenigen Staaten und Gebieten, auf die Russland entweder als ‚Teil des eigenen Territoriums‘ oder als ‚Einflusssphäre‘ einen Imperialanspruch erhebt, den es aggressiv durchgesetzt hat, durchsetzt oder durchzusetzen versucht.

 

Die zahlenmäßig größte der Aktionen war diejenige, die in Berlin im Rahmen einer Kundgebung für ein sofortiges Energieembargo gegen Russland am 6. April stattfand: Die Organisator*innen Vitsche Berlin, eine zivilgesellschaftliche Assoziation von Ukrainer*innen, sprachen von 5000 Teilnehmenden. Für zehn Minuten legten diese sich auf den Boden vor dem Bundestag, während die Namen ukrainischer Städte, die unter Belagerung, Angriff oder Okkupation durch russische Truppen standen oder stehen, darunter mehrmals wiederholt Buča, verlesen wurden. Viele der Teilnehmenden waren in ukrainische Flaggen gehüllt und hielten auch während der Aktion ihre Plakate mit Forderungen nach einem Importverbot für russisches Gas und Öl in die Höhe. Hier ging es weniger um eine exakte Nachstellung der Bilder aus Buča als vielmehr um ein Zeichen der Solidarität, das seinen Effekt vor allem über die große Zahl der Teilnehmenden entfaltet und seine direkten Adressat*innen im Deutschen Bundestag hat, vor dem Kundgebung und Aktion stattfanden.

 

Solidarität mit den Opfern aus Buča, 06.04.2022, Berlin, © Filip Trubač.

 

Der Anspruch, den Vitsche im die Bilder der Aktion begleitenden Kommentar formuliert, ist dementsprechend einer der (dezidiert auch politischen) Repräsentation: „5000 people laid down on the ground to represent the people killed, tortured and raped by russian soldiers.“ Die Differenz der teilnehmenden Demonstrant*innen zu den in Buča grausam Getöteten ist damit der Aktion explizit eingetragen. Wer aber kann und sollte einen Anspruch auf deren Repräsentation, deren Vertretung erheben? Nur die (in Berlin sehr zahlreich teilnehmenden) direkt vom derzeitigen russischen Angriffskrieg betroffenen Menschen aus der Ukraine? Oder in einem Akt der Solidarisierung auch andere: etwa Menschen in und aus Belarus, Russland, Deutschland etc.? Nur diejenigen, die sich schon 2014 gegen die Annexion der Krim durch Russland und im Folgenden gegen den Krieg im Donbass aussprachen und einsetzten? Jede*r, der*die sich jetzt aktiv dazu entscheidet? Dass einige Teilnehmende der Kundgebung zögerten, sich ebenfalls hinzulegen, und stattdessen während der Aktion am Rand stehenblieben, deutet vielleicht schon darauf hin, dass der Grat zwischen einer Solidarisierung mit den Opfern einerseits und einer Aneignung von deren Rolle andererseits ein schmaler ist. Denn während der Akt der Solidarisierung eine Verbundenheit über geteilte Ziele und Werte gerade unter Anerkennung dessen, dass man selbst nicht gleichermaßen betroffen ist, ausdrückt, liegt im Akt der Aneignung stets auch eine Anmaßung, die instrumentell sein kann.

 

Dies wird auch anhand der Aktion „Buča—Moskva“ deutlich, die wiederum ganz anders verfährt: Hier wurde ein bestimmtes Bild aus Buča herausgegriffen, das eine mit dem Gesicht nach unten auf der Straße liegende Person zeigt, der die Hände mit einer weißen Binde hinter dem Rücken gefesselt sind. Auf den Bildern aus Moskau liegt eine fast identische gekleidete Person mit ebenfalls zusammengebundenen Händen in ähnlicher Position auf dem Boden. Statt von Repräsentation ist hier fast schon von einer Imitation der Opfer zu sprechen. Im Kommentar zur Aktion, den Cholod zwei Tage später veröffentlichte, erklärt der*die anonyme Aktivist*in: „Als ich an diesem Tag die Fotos aus Buča anschaute , hatte ich nur ein Gefühl – dass auf diesen Aufnahmen ich liege, man mich vergewaltigt, gefoltert und ausgelöscht hat.“ Was möglicherweise als Ausdruck von Erschütterung und Empathie mit den Opfern intendiert ist, läuft letztlich auf eine Identifizierung mit diesen, vielleicht gar auf eine Usurpation von deren Position hinaus, die deshalb äußerst problematisch ist, weil die Aneignung der Opferrolle sowohl von jeglicher Mitverantwortung für die Verbrechen entlastet als auch die realen Opfer symbolisch verdrängen kann.

 

Angesichts der systematischen Angriffe des russischen Militärs auf die ukrainische Zivilbevölkerung (bei weitem nicht nur in der Kyiver Oblast) sowie des von der russischen Regierung und den russischen Staatsmedien propagierten Programms der „De-Ukrainisierung“ der Ukraine, das unter dem, wie Susanne Frank schreibt, „von jeder nachweisbaren Referentialität losgelöst“ Propagandabegriff der „Entnazifizierung“ nicht nur auf eine Auslöschung des ukrainischen Staates, sondern der eigenständigen ukrainischen Identität als solcher zielt, gehen viele Expert*innen mittlerweile von einer genozidalen Dimension dieser Verbrechen aus. Insbesondere deshalb scheint eine Loslösung der Opfer und damit auch der Verbrechen von eben dieser ukrainischen Identität extrem gefährlich.

 

Die Aktion vollzieht zugleich eine topologische Transposition der Verbrechen an die Orte der imperialen Macht: insbesondere die Aufnahmen vor der Christ-Erlöser-Kathedrale und den Mauern des Kremls als Zentralen dieser Macht führen die Opfer zurück ins „Zentrum“, von dem die Aggression ausgeht. Dies reproduziert einerseits das gewaltvolle hegemoniale Verhältnis von „Zentrum“ und „Peripherie“, konfrontiert andererseits symbolisch aber auch Opfer und Täter, wobei hier nicht nur die russische Regierung und die Russisch-Orthodoxe Kirche, sondern in den Passant*innen auch die russische Öffentlichkeit angesprochen ist. Die fast in Postkartenmanier eingefangenen Ansichten aus dem Zentrum Moskaus evozieren zudem unweigerlich den Vergleich mit den verwüsteten Straßen Bučas, auf denen nicht wie in Moskau Spaziergänger*innen, sondern weitere Tote zu sehen sind.

 

Eine weitere Dimension, die allen diesen Aktionen gemein, im russischen Kontext aber noch einmal von besonderer Relevanz ist, ist die eines Sichtbarmachens der Opfer im öffentlichen Raum: Die russischen Behörden hatten die Aufnahmen aus der Kyiver Oblast zunächst als „Fake“ bezeichnet, die russische Medienaufsichts- und Zensurbehörde dann offenbar die entsprechenden Suchergebnisse aus dem RuNet getilgt, wie eine in den sozialen Medien kursierende Gegenüberstellung der für den Suchbegiff „Buča“ bei Yandex angezeigten Bilder mit den bei Google verfügbaren zeigt. Die Website von Cholod wurde schließlich am 9. April blockiert. Aktuell versuchen die russischen staatlichen Medien, die eigenen Verbrechen als die Taten von Vertretern der ukrainischen Staatsgewalt – entweder im Sinne einer „Provokation“ oder als „Säuberungen“ unter angeblich „prorussischen“ oder auch russischsprachigen Bürger*innen – darzustellen und diese damit in einer grotesken Verkehrung der Tatsachen gar im Hinblick auf das eigene zentrale Propagandanarrativ vom Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine zu instrumentalisieren.

 

Solidarität mit den Opfern aus Buča, 06.04.2022, Berlin, © Olexiy Bardadym.

Aber auch dort, wo Informationen und Bilder der in Buča verübten Verbrechen ohne weiteres abrufbar sind, spielt Visibilität und öffentliche Wahrnehmung eine Rolle, jedoch unter jeweils veränderten Vorzeichen: Neben der Aktion vor dem Bundestag fand in Berlin etwa auch eine kleinere Aktion unter dem Titel „Buča —Berlin“ statt, die ähnlich wie „Buča —Moskva“ die Verbrechen von Buča nach Berlin – etwa vor das Brandenburger Tor oder auf den Alexanderplatz – verlegte. Die Initiatorinnen ukraine_girls_berlin erklären: „Diese Fotos werden gemacht, damit die Leute sehen, was in der Ukraine passiert, und sich einig sind, dass es Bucha ist und morgen eine Lieblingsstadt der Europäischen Union sein könnte.“ Die Bilder sind auf Instagram unter dem Hashtag #heutewirmorgenihr zu finden. Die Aktion formuliert damit einen von Ukrainer*innen an deutsche Behörden und die deutsche Öffentlichkeit gerichteten Appell, die Ukraine im Kampf um ihre Freiheit und Existenz zu unterstützen. Dieser wird von der Warnung gestützt, auch Deutschland könnte bald von der Aggression Russlands betroffen sein, und fordert damit zur Identifikation oder Einfühlung auf, wobei zugleich eine (einstweilen) klare Trennung zwischen „wir“ und „ihr“ etabliert wird.

 

In Tbilissi stellt sich dieses Verhältnis noch einmal anders dar. Hier fand die Aktion vor dem Parlamentsgebäude statt, wo am 9. April 1989 eine friedliche Demonstration für die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Georgiens von Sondereinheiten der sowjetischen Armee brutal niedergeschlagen und 21 Menschen getötet wurden. Ein Video der Aktion, bei der die Teilnehmenden mit gefesselten Händen zu sehen sind, veröffentlichte Echo Kavkaza unter dem Titel „Wer wird der nächste sein?“ Die Frage scheint vor dem Hintergrund des Massakers von 1989, des Georgienkriegs 2008 sowie der kürzlichen Ankündigung des Präsidenten des völkerrechtlich zu Georgien gehörenden de facto-Staates Südossetien, Mitte April ein Referendum über die Eingliederung in die Russische Föderation abhalten zu wollen, fast rhetorisch. Die Solidarisierung mit der Ukraine ist hier zugleich auch ein Akt des Gedenkens an die eigenen Opfer eines aggressiven russischen Imperialanspruchs und geht mit der sehr realen Angst einher, selbst „der nächste zu sein“ – oder zum wiederholten Male zu werden. Hier zeigt sich auch eine grundsätzliche Spannung, die die Transpositionen dort, wo sie eine wenigstens relative Transferierbarkeit der Ereignisse implizieren, erzeugen: die zwischen einer Sensibilität für die Spezifik der Verbrechen von Buča innerhalb des spezifischen Imperialverhältnisses Russland/Ukraine sowie speziell des derzeitigen russischen Angriffskriegs auf der einen Seite und einem Aufzeigen von historischen Zusammenhängen und Kontinuitäten eines russischen Imperialismus (inklusive möglicher zukünftiger Konsequenzen), der letztlich aber immer auch historisch konkrete Betrachtung verlangt, auf der anderen Seite.

 

Auch in Polen, dessen Staatlichkeit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität in seiner Geschichte immer wieder existentiell bedroht wurde – längst nicht nur, aber neben dem Deutschen Reich maßgeblich auch durch das Russische Zarenreich und die Sowjetunion – ist die Sorge, „der nächste zu sein“ groß. Unter explizitem Bezug auf die von Russland verübten Kriegsverbrechen in der Ukraine gab der polnische Präsident Andrzej Duda kürzlich bekannt, das Massaker von Katyn, das symbolisch für die Ermordung von über 22.000 Polen durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD im Jahre 1940 steht, vor einem internationalen Gericht anklagen zu wollen. Erst Gorbatschow hatte im Jahre 1990 offiziell die sowjetische Verantwortung für die Massenerschießungen anerkannt, die Aufarbeitung wurde von Seiten Russlands 2004 wieder eingestellt.

 

Gleichzeitig ist die Ukraine immer wieder auch von polnischer Seite eher als eigenes „Grenzgebiet“ zu Russland denn als eigenständiger Staat und eigenständige Kultur wahrgenommen und zur Projektionsfläche für Fragen der polnischen nationalen Identität gerade in Abgrenzung zur russischen geworden, wie Marta Figlerowicz ausführt. Die Aktion in Warschau, bei der sich eine Person mit gefesselten Händen und dem Gesicht nach unten auf die Straße legte, ist durch die ukrainische Flagge, die die Person dabei in den Händen hält, jedoch explizit als Akt der Solidarisierung und nicht der Identifizierung mit den Opfern von Buča gekennzeichnet.

 

Was die Originalaufnahmen aus Buča, auf die in den Aktionen Bezug genommen wird, nicht zeigen, sind die Täter. Dass es russische Truppen waren, die dort gefoltert, vergewaltigt und gemordet haben, ist durch verschiedene unabhängige Quellen belegt. Auch welche Einheiten genau an den Verbrechen beteiligt waren, lässt sich etwa über Handydaten, Satellitenaufnahmen und Geheimdiensterkenntnisse rekonstruieren, sogar einzelne Personen sollen mittlerweile durch Aufnahmen von Überwachungskameras und Daten aus sozialen Netzwerken als Täter identifiziert worden sein. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage nach Mitttäterschaft und ‑verantwortung nicht unmittelbar Beteiligter – nicht nur im russischen, sondern auch im europäischen Kontext. Und hier involvieren die Aktionen ganz entschieden auch ihr Publikum. Durch die Auswahl des Ortes innerhalb der verschiedenen Aktionen werden zunächst auch je verschiedene primäre Adressat*innen gewählt: Die Aktionen in Almaty, Bratislava und Helsinki etwa, die dort jeweils vor den Gebäuden der russischen Botschaft stattfanden, formulieren dadurch eine klare Anklage gegen den russischen Staat und seine Vertreter*innen. Die Aktion vor dem Bundestag erhebt gemeinsam mit ihrer Forderung nach einem Energiembargo gegen Russland auch den Vorwurf der Mittäterschaft gegen den deutschen Staat, der über Gas- und Ölimporte aus Russland dessen Kriegsführung bis dato mitfinanziert. In Krasnodar positionierte sich eine junge Frau vor einem Propagandaplakat mit der Aufschrift „Zа наших – Zа русский мир“ („Für die unseren – für die Russische Welt“) und adressiert damit die Ideologeme, in deren Zeichen der Krieg von russischer Seite geführt wird, und deren Träger*innen. Eine ‚Antwort‘ folgte hier auf dem Fuße: Ein Passant rief die Polizei, die Frau wurde – wie auch die Demonstrant*innen in Almaty – verhaftet. Allgemeiner aber stellen alle diese Aktionen, die im öffentlichen Raum die Verbrechen der russischen Truppen und deren Opfer sichtbar zu machen versuchen und die darüber hinaus in Form von Foto- und Videoaufnahmen über das Internet Verbreitung finden, auch die Frage nach der Mittäterschaft und ‑verantwortung eben jener Weltöffentlichkeit, vor deren Augen diese Morde begangen werden.

Quelle des Beitragsbildes: Ukraine-Solidarität vor dem Reichstag, 06.04.2022, © Sophie Tichinenko.

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Visi­bi­lität, Reprä­sen­ta­tion, Aneig­nung: Aktionen in Soli­da­rität mit Buča

Seitdem ab dem 2. April ver­mehrt die inter­na­tio­nale Presse in den Gebieten bei Kyiv ein­traf, die seit Anfang März von rus­si­schen Truppen besetzt gehalten worden waren, häufen sich Berichte über durch die rus­si­schen Besatzer ver­übte Fol­te­rungen, Ver­ge­wal­ti­gungen und Erschie­ßungen an der Zivil­be­völ­ke­rung. Neben Irpin’, Motižin und Borod­janka ist dabei ins­be­son­dere die Stadt Buča, wo man zur Zeit von mehr als 400 zivilen Todes­op­fern aus­geht, zur met­ony­mi­schen Bezeich­nung für die von rus­si­schen Sol­daten an der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung ver­übten bru­talen Kriegs­ver­bre­chen geworden.

Die Auf­nahmen aus den Orten und Klein­städten in der Kyiver Oblast wurden Anlass für eine Reihe von Aktionen in Gedenken an und Soli­da­rität mit den zivilen Opfern: Am 5. April ver­öf­fent­lichte das rus­si­sche Online-Magazin Cholod Bilder der Aktion „Buča-Moskva“, auf denen ein*e anonyme Aktivist*in an ver­schie­denen Orten im Zen­trum Mos­kaus mit hinter dem Rücken zusam­men­ge­bun­denen Händen auf dem Boden lie­gend zu sehen ist. Tags darauf fanden in Berlin, Tbi­lissi, Vil­nius und War­schau, etwas später auch in Almaty, Bra­tis­lava, Hel­sinki und Kras­nodar Aktionen statt, bei denen die Teil­neh­menden sich in Posi­tionen, ähn­lich denen, in denen die ermor­deten Zivilist*innen gefunden wurden, aus­ge­streckt auf die Erde legten.

 

Trotz ihres gemein­samen Bezugs auf die Ver­bre­chen von und die Bilder aus Buča sind die Aktionen in ihrem Gehalt und ihren Impli­ka­tionen kei­nes­falls ein­deutig und nicht ohne wei­teres ein­ander gleich­zu­setzen, wes­halb sie sich nur schwer auf einen gemein­samen Begriff bringen lassen. In klarer Unter­schei­dung von den Ereig­nissen selbst, bei denen es sich ent­gegen der Behaup­tung der rus­si­schen Pro­pa­ganda in keiner Weise um eine Insze­nie­rung han­delt, lassen sich die hier bespro­chenen Aktionen viel­leicht als per­for­mances im Sinne bewusster sym­bo­li­scher Hand­lungen fassen. Auf höchst unter­schied­liche und nicht immer ein­deu­tige Weise setzen sich darin ver­schie­dene Akteure in Bezie­hung zu den Opfern und richten sich in spe­zi­fi­scher Weise an ein bestimmtes Publikum – etwa durch die Details der Insze­nie­rung der sym­bo­li­schen Akte, aber auch durch dis­kur­sives Framing im Titel oder kom­men­tie­renden Begleit­text. Diese Akte stehen dabei inner­halb von his­to­ri­schen und bestehenden geo­po­li­ti­schen Macht­ver­hält­nissen und nehmen aktiv Bezug auf diese. Im Vor­der­grund stehen dabei meist die­je­nigen zwi­schen der Impe­ri­al­macht Russ­land und den­je­nigen Staaten und Gebieten, auf die Russ­land ent­weder als ‚Teil des eigenen Ter­ri­to­riums‘ oder als ‚Ein­fluss­sphäre‘ einen Impe­ri­al­an­spruch erhebt, den es aggressiv durch­ge­setzt hat, durch­setzt oder durch­zu­setzen versucht.

 

Die zah­len­mäßig größte der Aktionen war die­je­nige, die in Berlin im Rahmen einer Kund­ge­bung für ein sofor­tiges Ener­gie­em­bargo gegen Russ­land am 6. April statt­fand: Die Organisator*innen Vitsche Berlin, eine zivil­ge­sell­schaft­liche Asso­zia­tion von Ukrainer*innen, spra­chen von 5000 Teil­neh­menden. Für zehn Minuten legten diese sich auf den Boden vor dem Bun­destag, wäh­rend die Namen ukrai­ni­scher Städte, die unter Bela­ge­rung, Angriff oder Okku­pa­tion durch rus­si­sche Truppen standen oder stehen, dar­unter mehr­mals wie­der­holt Buča, ver­lesen wurden. Viele der Teil­neh­menden waren in ukrai­ni­sche Flaggen gehüllt und hielten auch wäh­rend der Aktion ihre Pla­kate mit For­de­rungen nach einem Import­verbot für rus­si­sches Gas und Öl in die Höhe. Hier ging es weniger um eine exakte Nach­stel­lung der Bilder aus Buča als viel­mehr um ein Zei­chen der Soli­da­rität, das seinen Effekt vor allem über die große Zahl der Teil­neh­menden ent­faltet und seine direkten Adressat*innen im Deut­schen Bun­destag hat, vor dem Kund­ge­bung und Aktion stattfanden.

 

Soli­da­rität mit den Opfern aus Buča, 06.04.2022, Berlin, © Filip Trubač.

 

Der Anspruch, den Vitsche im die Bilder der Aktion beglei­tenden Kom­mentar for­mu­liert, ist dem­entspre­chend einer der (dezi­diert auch poli­ti­schen) Reprä­sen­ta­tion: „5000 people laid down on the ground to repre­sent the people killed, tor­tured and raped by rus­sian sol­diers.“ Die Dif­fe­renz der teil­neh­menden Demonstrant*innen zu den in Buča grausam Getö­teten ist damit der Aktion explizit ein­ge­tragen. Wer aber kann und sollte einen Anspruch auf deren Reprä­sen­ta­tion, deren Ver­tre­tung erheben? Nur die (in Berlin sehr zahl­reich teil­neh­menden) direkt vom der­zei­tigen rus­si­schen Angriffs­krieg betrof­fenen Men­schen aus der Ukraine? Oder in einem Akt der Soli­da­ri­sie­rung auch andere: etwa Men­schen in und aus Belarus, Russ­land, Deutsch­land etc.? Nur die­je­nigen, die sich schon 2014 gegen die Anne­xion der Krim durch Russ­land und im Fol­genden gegen den Krieg im Don­bass aus­spra­chen und ein­setzten? Jede*r, der*die sich jetzt aktiv dazu ent­scheidet? Dass einige Teil­neh­mende der Kund­ge­bung zögerten, sich eben­falls hin­zu­legen, und statt­dessen wäh­rend der Aktion am Rand ste­hen­blieben, deutet viel­leicht schon darauf hin, dass der Grat zwi­schen einer Soli­da­ri­sie­rung mit den Opfern einer­seits und einer Aneig­nung von deren Rolle ande­rer­seits ein schmaler ist. Denn wäh­rend der Akt der Soli­da­ri­sie­rung eine Ver­bun­den­heit über geteilte Ziele und Werte gerade unter Aner­ken­nung dessen, dass man selbst nicht glei­cher­maßen betroffen ist, aus­drückt, liegt im Akt der Aneig­nung stets auch eine Anma­ßung, die instru­men­tell sein kann.

 

Dies wird auch anhand der Aktion „Buča—Moskva“ deut­lich, die wie­derum ganz anders ver­fährt: Hier wurde ein bestimmtes Bild aus Buča her­aus­ge­griffen, das eine mit dem Gesicht nach unten auf der Straße lie­gende Person zeigt, der die Hände mit einer weißen Binde hinter dem Rücken gefes­selt sind. Auf den Bil­dern aus Moskau liegt eine fast iden­ti­sche geklei­dete Person mit eben­falls zusam­men­ge­bun­denen Händen in ähn­li­cher Posi­tion auf dem Boden. Statt von Reprä­sen­ta­tion ist hier fast schon von einer Imi­ta­tion der Opfer zu spre­chen. Im Kom­mentar zur Aktion, den Cholod zwei Tage später ver­öf­fent­lichte, erklärt der*die anonyme Aktivist*in: „Als ich an diesem Tag die Fotos aus Buča anschaute […], hatte ich nur ein Gefühl – dass auf diesen Auf­nahmen ich liege, man mich ver­ge­wal­tigt, gefol­tert und aus­ge­löscht hat.“ Was mög­li­cher­weise als Aus­druck von Erschüt­te­rung und Empa­thie mit den Opfern inten­diert ist, läuft letzt­lich auf eine Iden­ti­fi­zie­rung mit diesen, viel­leicht gar auf eine Usur­pa­tion von deren Posi­tion hinaus, die des­halb äußerst pro­ble­ma­tisch ist, weil die Aneig­nung der Opfer­rolle sowohl von jeg­li­cher Mit­ver­ant­wor­tung für die Ver­bre­chen ent­lastet als auch die realen Opfer sym­bo­lisch ver­drängen kann.

 

Ange­sichts der sys­te­ma­ti­schen Angriffe des rus­si­schen Mili­tärs auf die ukrai­ni­sche Zivil­be­völ­ke­rung (bei weitem nicht nur in der Kyiver Oblast) sowie des von der rus­si­schen Regie­rung und den rus­si­schen Staats­me­dien pro­pa­gierten Pro­gramms der „De-Ukrai­ni­sie­rung“ der Ukraine, das unter dem, wie Susanne Frank schreibt, „von jeder nach­weis­baren Refe­ren­tia­lität losgelöst[en]“ Pro­pa­gan­da­be­griff der „Ent­na­zi­fi­zie­rung“ nicht nur auf eine Aus­lö­schung des ukrai­ni­schen Staates, son­dern der eigen­stän­digen ukrai­ni­schen Iden­tität als sol­cher zielt, gehen viele Expert*innen mitt­ler­weile von einer geno­zi­dalen Dimen­sion dieser Ver­bre­chen aus. Ins­be­son­dere des­halb scheint eine Los­lö­sung der Opfer und damit auch der Ver­bre­chen von eben dieser ukrai­ni­schen Iden­tität extrem gefährlich.

 

Die Aktion voll­zieht zugleich eine topo­lo­gi­sche Trans­po­si­tion der Ver­bre­chen an die Orte der impe­rialen Macht: ins­be­son­dere die Auf­nahmen vor der Christ-Erlöser-Kathe­drale und den Mauern des Kremls als Zen­tralen dieser Macht führen die Opfer zurück ins „Zen­trum“, von dem die Aggres­sion aus­geht. Dies repro­du­ziert einer­seits das gewalt­volle hege­mo­niale Ver­hältnis von „Zen­trum“ und „Peri­pherie“, kon­fron­tiert ande­rer­seits sym­bo­lisch aber auch Opfer und Täter, wobei hier nicht nur die rus­si­sche Regie­rung und die Rus­sisch-Ortho­doxe Kirche, son­dern in den Passant*innen auch die rus­si­sche Öffent­lich­keit ange­spro­chen ist. Die fast in Post­kar­ten­ma­nier ein­ge­fan­genen Ansichten aus dem Zen­trum Mos­kaus evo­zieren zudem unwei­ger­lich den Ver­gleich mit den ver­wüs­teten Straßen Bučas, auf denen nicht wie in Moskau Spaziergänger*innen, son­dern wei­tere Tote zu sehen sind.

 

Eine wei­tere Dimen­sion, die allen diesen Aktionen gemein, im rus­si­schen Kon­text aber noch einmal von beson­derer Rele­vanz ist, ist die eines Sicht­bar­ma­chens der Opfer im öffent­li­chen Raum: Die rus­si­schen Behörden hatten die Auf­nahmen aus der Kyiver Oblast zunächst als „Fake“ bezeichnet, die rus­si­sche Medi­en­auf­sichts- und Zen­sur­be­hörde dann offenbar die ent­spre­chenden Such­ergeb­nisse aus dem RuNet getilgt, wie eine in den sozialen Medien kur­sie­rende Gegen­über­stel­lung der für den Such­be­giff „Buča“ bei Yandex ange­zeigten Bilder mit den bei Google ver­füg­baren zeigt. Die Web­site von Cholod wurde schließ­lich am 9. April blo­ckiert. Aktuell ver­su­chen die rus­si­schen staat­li­chen Medien, die eigenen Ver­bre­chen als die Taten von Ver­tre­tern der ukrai­ni­schen Staats­ge­walt – ent­weder im Sinne einer „Pro­vo­ka­tion“ oder als „Säu­be­rungen“ unter angeb­lich „pro­rus­si­schen“ oder auch rus­sisch­spra­chigen Bürger*innen – dar­zu­stellen und diese damit in einer gro­tesken Ver­keh­rung der Tat­sa­chen gar im Hin­blick auf das eigene zen­trale Pro­pa­gan­da­nar­rativ vom Genozid an der rus­sisch­spra­chigen Bevöl­ke­rung in der Ukraine zu instrumentalisieren.

 

Soli­da­rität mit den Opfern aus Buča, 06.04.2022, Berlin, © Olexiy Bardadym.

Aber auch dort, wo Infor­ma­tionen und Bilder der in Buča ver­übten Ver­bre­chen ohne wei­teres abrufbar sind, spielt Visi­bi­lität und öffent­liche Wahr­neh­mung eine Rolle, jedoch unter jeweils ver­än­derten Vor­zei­chen: Neben der Aktion vor dem Bun­destag fand in Berlin etwa auch eine klei­nere Aktion unter dem Titel „Buča —Berlin“ statt, die ähn­lich wie „Buča —Moskva“ die Ver­bre­chen von Buča nach Berlin – etwa vor das Bran­den­burger Tor oder auf den Alex­an­der­platz – ver­legte. Die Initia­to­rinnen ukraine_girls_berlin erklären: „Diese Fotos werden gemacht, damit die Leute sehen, was in der Ukraine pas­siert, und sich einig sind, dass es Bucha ist und morgen eine Lieb­lings­stadt [in] der Euro­päi­schen Union sein könnte.“ Die Bilder sind auf Insta­gram unter dem Hashtag #heu­te­wirm­or­ge­nihr zu finden. Die Aktion for­mu­liert damit einen von Ukrainer*innen an deut­sche Behörden und die deut­sche Öffent­lich­keit gerich­teten Appell, die Ukraine im Kampf um ihre Frei­heit und Exis­tenz zu unter­stützen. Dieser wird von der War­nung gestützt, auch Deutsch­land könnte bald von der Aggres­sion Russ­lands betroffen sein, und for­dert damit zur Iden­ti­fi­ka­tion oder Ein­füh­lung auf, wobei zugleich eine (einst­weilen) klare Tren­nung zwi­schen „wir“ und „ihr“ eta­bliert wird.

 

In Tbi­lissi stellt sich dieses Ver­hältnis noch einmal anders dar. Hier fand die Aktion vor dem Par­la­ments­ge­bäude statt, wo am 9. April 1989 eine fried­liche Demons­tra­tion für die Wie­der­her­stel­lung der staat­li­chen Unab­hän­gig­keit Geor­giens von Son­der­ein­heiten der sowje­ti­schen Armee brutal nie­der­ge­schlagen und 21 Men­schen getötet wurden. Ein Video der Aktion, bei der die Teil­neh­menden mit gefes­selten Händen zu sehen sind, ver­öf­fent­lichte Echo Kav­kaza unter dem Titel „Wer wird der nächste sein?“ Die Frage scheint vor dem Hin­ter­grund des Mas­sa­kers von 1989, des Geor­gi­en­kriegs 2008 sowie der kürz­li­chen Ankün­di­gung des Prä­si­denten des völ­ker­recht­lich zu Geor­gien gehö­renden de facto-Staates Süd­os­se­tien, Mitte April ein Refe­rendum über die Ein­glie­de­rung in die Rus­si­sche Föde­ra­tion abhalten zu wollen, fast rhe­to­risch. Die Soli­da­ri­sie­rung mit der Ukraine ist hier zugleich auch ein Akt des Geden­kens an die eigenen Opfer eines aggres­siven rus­si­schen Impe­ri­al­an­spruchs und geht mit der sehr realen Angst einher, selbst „der nächste zu sein“ – oder zum wie­der­holten Male zu werden. Hier zeigt sich auch eine grund­sätz­liche Span­nung, die die Trans­po­si­tionen dort, wo sie eine wenigs­tens rela­tive Trans­fe­rier­bar­keit der Ereig­nisse impli­zieren, erzeugen: die zwi­schen einer Sen­si­bi­lität für die Spe­zifik der Ver­bre­chen von Buča inner­halb des spe­zi­fi­schen Impe­ri­al­ver­hält­nisses Russland/Ukraine sowie spe­ziell des der­zei­tigen rus­si­schen Angriffs­kriegs auf der einen Seite und einem Auf­zeigen von his­to­ri­schen Zusam­men­hängen und Kon­ti­nui­täten eines rus­si­schen Impe­ria­lismus (inklu­sive mög­li­cher zukünf­tiger Kon­se­quenzen), der letzt­lich aber immer auch his­to­risch kon­krete Betrach­tung ver­langt, auf der anderen Seite.

 

Auch in Polen, dessen Staat­lich­keit, Unab­hän­gig­keit und ter­ri­to­riale Inte­grität in seiner Geschichte immer wieder exis­ten­tiell bedroht wurde – längst nicht nur, aber neben dem Deut­schen Reich maß­geb­lich auch durch das Rus­si­sche Zaren­reich und die Sowjet­union – ist die Sorge, „der nächste zu sein“ groß. Unter expli­zitem Bezug auf die von Russ­land ver­übten Kriegs­ver­bre­chen in der Ukraine gab der pol­ni­sche Prä­si­dent Andrzej Duda kürz­lich bekannt, das Mas­saker von Katyn, das sym­bo­lisch für die Ermor­dung von über 22.000 Polen durch den sowje­ti­schen Geheim­dienst NKWD im Jahre 1940 steht, vor einem inter­na­tio­nalen Gericht anklagen zu wollen. Erst Gor­bat­schow hatte im Jahre 1990 offi­ziell die sowje­ti­sche Ver­ant­wor­tung für die Mas­sen­er­schie­ßungen aner­kannt, die Auf­ar­bei­tung wurde von Seiten Russ­lands 2004 wieder eingestellt.

 

Gleich­zeitig ist die Ukraine immer wieder auch von pol­ni­scher Seite eher als eigenes „Grenz­ge­biet“ zu Russ­land denn als eigen­stän­diger Staat und eigen­stän­dige Kultur wahr­ge­nommen und zur Pro­jek­ti­ons­fläche für Fragen der pol­ni­schen natio­nalen Iden­tität gerade in Abgren­zung zur rus­si­schen geworden, wie Marta Fig­le­ro­wicz aus­führt. Die Aktion in War­schau, bei der sich eine Person mit gefes­selten Händen und dem Gesicht nach unten auf die Straße legte, ist durch die ukrai­ni­sche Flagge, die die Person dabei in den Händen hält, jedoch explizit als Akt der Soli­da­ri­sie­rung und nicht der Iden­ti­fi­zie­rung mit den Opfern von Buča gekennzeichnet.

 

Was die Ori­gi­nal­auf­nahmen aus Buča, auf die in den Aktionen Bezug genommen wird, nicht zeigen, sind die Täter. Dass es rus­si­sche Truppen waren, die dort gefol­tert, ver­ge­wal­tigt und gemordet haben, ist durch ver­schie­dene unab­hän­gige Quellen belegt. Auch welche Ein­heiten genau an den Ver­bre­chen betei­ligt waren, lässt sich etwa über Han­dy­daten, Satel­li­ten­auf­nahmen und Geheim­dienst­er­kennt­nisse rekon­stru­ieren, sogar ein­zelne Per­sonen sollen mitt­ler­weile durch Auf­nahmen von Über­wa­chungs­ka­meras und Daten aus sozialen Netz­werken als Täter iden­ti­fi­ziert worden sein. Dar­über hinaus stellt sich aber auch die Frage nach Mitt­tä­ter­schaft und ‑ver­ant­wor­tung nicht unmit­telbar Betei­ligter – nicht nur im rus­si­schen, son­dern auch im euro­päi­schen Kon­text. Und hier invol­vieren die Aktionen ganz ent­schieden auch ihr Publikum. Durch die Aus­wahl des Ortes inner­halb der ver­schie­denen Aktionen werden zunächst auch je ver­schie­dene pri­märe Adressat*innen gewählt: Die Aktionen in Almaty, Bra­tis­lava und Hel­sinki etwa, die dort jeweils vor den Gebäuden der rus­si­schen Bot­schaft statt­fanden, for­mu­lieren dadurch eine klare Anklage gegen den rus­si­schen Staat und seine Vertreter*innen. Die Aktion vor dem Bun­destag erhebt gemeinsam mit ihrer For­de­rung nach einem Ener­giem­bargo gegen Russ­land auch den Vor­wurf der Mit­tä­ter­schaft gegen den deut­schen Staat, der über Gas- und Ölim­porte aus Russ­land dessen Kriegs­füh­rung bis dato mit­fi­nan­ziert. In Kras­nodar posi­tio­nierte sich eine junge Frau vor einem Pro­pa­gan­da­plakat mit der Auf­schrift „Zа наших – Zа русский мир“ („Für die unseren – für die Rus­si­sche Welt“) und adres­siert damit die Ideo­lo­geme, in deren Zei­chen der Krieg von rus­si­scher Seite geführt wird, und deren Träger*innen. Eine ‚Ant­wort‘ folgte hier auf dem Fuße: Ein Pas­sant rief die Polizei, die Frau wurde – wie auch die Demonstrant*innen in Almaty – ver­haftet. All­ge­meiner aber stellen alle diese Aktionen, die im öffent­li­chen Raum die Ver­bre­chen der rus­si­schen Truppen und deren Opfer sichtbar zu machen ver­su­chen und die dar­über hinaus in Form von Foto- und Video­auf­nahmen über das Internet Ver­brei­tung finden, auch die Frage nach der Mit­tä­ter­schaft und ‑ver­ant­wor­tung eben jener Welt­öf­fent­lich­keit, vor deren Augen diese Morde begangen werden.

Quelle des Bei­trags­bildes: Ukraine-Soli­da­rität vor dem Reichstag, 06.04.2022, © Sophie Tichinenko.