Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Vivi­sek­tion eines Jahr­hun­derts: Autorin­por­trait Angela Rohr

Nicht jedes lite­ra­ri­sche Talent bekommt zu Leb­zeiten das Publikum, das es ver­dient. Die öster­rei­chisch-sowje­ti­sche Lite­ratin, Jour­na­listin, Medi­zi­nerin und Psy­cho­ana­ly­ti­kerin Angela Rohr ist ein sol­cher Fall. Erst in diesem Jahr­hun­dert nahm sich die Ger­ma­nistin Gesine Bey der Auf­gabe an, die Lebens­ge­schichte der 1985 in Moskau Ver­stor­benen zu rekon­stru­ieren sowie ihre lite­ra­ri­schen, jour­na­lis­ti­schen und auto­bio­gra­phi­schen Schriften (neu) herauszugeben.

„Von allem Anfang an über­sehen wir zwei Arten des Geschrie­benen: ‚Welt­flucht­li­te­ratur‘, die in Wün­schen, Hoff­nungen und Schön­heit lebt, und eine andere, die die Bezie­hungen zu einer Rea­lität her­zu­stellen trachtet, die Wahr­heit nicht scheut, die aber, wenn sie eben der alten Zeit ange­hört, auch ver­al­teten Wahr­heiten dient“. 

So beginnt Angela Rohr ihre Rezen­sion der Auto­bio­gra­phie Agnes Smed­leys, einer US-Jour­na­listin und ‑Autorin, die heute vor allem für ihre Berichte über die Chi­ne­si­sche Revo­lu­tion bekannt ist. Von Rohr wird sie in den höchsten Tönen gelobt und ein­deutig auf der zweiten Seite dieser Unter­schei­dung ver­ortet. Ihre Rezen­sion ist nicht nur ein Plä­doyer für Lite­ratur als dezi­diert enga­gierte Kunst und Tätig­keit, son­dern zeigt auch ein Bewusst­sein für die his­to­ri­sche Situ­iert­heit von Geschrie­benem. Das Trachten danach, „Bezie­hungen zu einer Rea­lität her­zu­stellen“, prägt auch Rohrs eigenes Schaffen: Ange­fangen bei ihren frühen expres­sio­nis­ti­schen Erzäh­lungen, die die Mög­lich­keit einer sol­chen Bezie­hung infrage stellen, über die in den Jahren 1928 bis 1937 als Kor­re­spon­dentin für die Frank­furter Zei­tung geschrie­benen Repor­tagen, Berichte und Geschichten aus Moskau, Sibi­rien und dem Kau­kasus, die dem deutsch­spra­chigen Publikum ein Bild von der Sowjet­union ver­mit­teln, bis zu ihren auto­bio­gra­phi­schen Texten über den Gulag, in denen sie von einer Rea­lität Zeugnis ablegt, die in Worten kaum aus­zu­drü­cken ist.

Ihre medi­zi­ni­schen, psy­cho­ana­ly­ti­schen und eth­no­gra­fi­schen Kennt­nisse ermög­li­chen ihr dabei „eine ‚beruf­liche‘, beob­ach­tende Distanz“, so Rohrs Her­aus­ge­berin Gesine Bey, die „ihr nach der ersten Fas­sungs­lo­sig­keit die Urteils­kraft zurück[gibt]“. Ein Wech­sel­spiel von Immersion und Abstand merkt man bereits ihren Arbeiten für die Frank­furter Zei­tung an: „Als Autorin, die im Land lebte, durch ihre Her­kunft aber eine Distanz hatte und als Schrift­stel­lerin nicht orga­ni­siert war“, hat sie „keine Sys­teme vor Augen“, bemüht „nicht den Hori­zont einer Welt­an­schauung“, schreibt Bey im Nach­wort zu Zehn Frauen am Amur, der 2018 erschie­nenen Samm­lung von Texten Rohrs für die FZ. Im Gegen­satz zu ihrem Vor­gänger dort, Joseph Roth, und vielen anderen Russ­land­be­rich­tenden, die sich teils nur für wenige Wochen oder gar Tage im Land auf­halten und oft­mals in abs­trakten Begriffen, teils sche­ma­tisch über das Gese­hene berichten, teilt Rohr ihren Alltag mit denen, über die sie schreibt, lebt an den Orten, von denen sie berichtet. Ihr Blick ist geduldig, eth­no­gra­fisch genau, teils mes­ser­scharf medi­zi­nisch-sezie­rend, aber nie bloßstellend.

 

Ent­de­ckung einer großen Unbekannten

Doch wer war Angela Rohr? Und warum ist sie in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft nur so wenigen ein Begriff? Nicht zuletzt mag das an ihrer ver­wor­renen Lebens­ge­schichte liegen, deren Rekon­struk­tion nicht gerade erleich­tert wird durch den Umstand, dass sie unter min­des­tens acht ver­schie­denen Namen in Erschei­nung tritt und publi­ziert. In den letzten zwei Jahr­zehnten begann die Ger­ma­nistin Bey, die zufällig über ein Emp­feh­lungs­schreiben Ber­tolt Brechts, dessen Grippe Rohr 1935 in Moskau behan­delt, an den spä­teren Vor­sit­zenden des Schrift­stel­ler­ver­bands der UdSSR Kon­stantin Fedin stol­perte, die Fäden zusam­men­zu­führen. Erste Puz­zle­teile hatte bereits die Rilke-Chro­nistin Inge­borg Schnack anein­an­der­ge­fügt, hiervon aus­ge­hend deckte Bey auf, dass es sich bei Angela Helene Müllner, Angela Huber­mann, Angela Gutt­mann, A. G., Angela Rohr, Angela oder Ange­lina Ror und Helene Gol­nipa um ein und die­selbe Person han­delt. Sonja Vogel ver­mutet in der Mos­kauer Deut­schen Zei­tung, Bey fol­gend, die Dada­istin Rohr hätte diese „Schnit­zel­jagd“ bewusst insze­niert, wohl­über­legt Hin­weise auf sich und Manu­skripte in den Nach­lässen ihrer berühmten Freund_innen und Bekannten hin­ter­legt. Deren Liste ist lang, liest sich wie ein Who is who der euro­päi­schen Intel­li­genz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Am 5. Februar 1890 im mäh­ri­schen Znaim geboren, zieht Angela Helene Müllner 1904 mit ihrer Familie nach Wien. Mit 17 Jahren ver­lässt sie nach dem Bruch mit ihrem auto­ri­tären, gewalt­tä­tigen Vater ihr streng katho­li­sches Eltern­haus, besucht zur Vor­be­rei­tung auf ein Medi­zin­stu­dium Abitur­kurse, die sie jedoch abbricht, als sie den expres­sio­nis­ti­schen Schrift­steller Leo­pold Huber­mann ken­nen­lernt. Die beiden reisen mit­tellos durch Öster­reich-Ungarn und Ita­lien, 1909 wird ihre nach einer Geschichte Edgar Alan Poes benannte Tochter Ligeia geboren, die bei Angelas Schwester Anna auf­wächst. Danach bringt Rohr wohl noch zwei wei­tere Kinder zur Welt, diese seien „kurz nach der Geburt gestorben, was bei ihr lebens­lange Schuld­ge­fühle aus­löste“, ver­mutet Bey im Nach­wort zum Erzähl­band Der Vogel.

Ein Jahr später folgt die Hoch­zeit, und da Leo­pold aus War­schau stammt, erhält die nun Huber­mann hei­ßende Angela die rus­si­sche Staats­bür­ger­schaft. Ab 1913 in Paris, kommen die im Quar­tier Latin lebenden Huber­manns mit Vertreter_innen der Avant­garde in Kon­takt und Angela ver­öf­fent­licht erste Texte in der Ähre und derAktion. Mitt­ler­weile von Leo­pold getrennt, geht sie im Juli 1914 für eine Tuber­ku­lose-Kur in die Schweiz, wo sie bis zum Herbst 1920 bleiben wird. In Zürich trifft sie alte Gesichter aus der Pariser Zeit und macht neue Bekannt­schaften, so z. B. mit Emmy Hen­nings und Hugo Ball. Auf Dada-Soi­reen in Balls Dada-Gale­rie­re­zi­tiert sie chi­ne­si­sche Mär­chen und ergreift auf dem Zür­cher Bahnhof die Hand des gen Russ­land davon­fah­renden Lenin – als „letzte, die von ihm Abschied nahm“, wird sie 1941 in ihrer Erin­ne­rung an Lenin schreiben. Um ein gemein­sames Zimmer in Zürich mieten zu können, geht sie 1916 eine Scheinehe mit dem spä­teren Geschäfts­führer der Ber­liner Foto­agentur Dephot, Simon Gutt­mann, ein.

 

„Diese kleine heim­ge­suchte Person“

Rohr führt ihr in Paris begon­nenes, größ­ten­teils auto­di­dak­ti­sches Medi­zin­stu­dium fort und beschäf­tigt sich par­allel dazu mit der Psy­cho­ana­lyse, aber auch mit ver­schie­denen mys­ti­schen Tra­di­tionen. Beides beein­flusst eine heute ver­schol­lene eth­no­gra­phi­sche Arbeit zu afri­ka­ni­schen Masken und hin­ter­lässt sicht­bare Spuren in Pro­sa­texten wie dem Erzäh­lungs­frag­ment Die Erfül­lung von 1919. In (alb‑)traumhaften Sequenzen ver­han­delt die Erzäh­lerin die eigene Sterb­lich­keit und Dis­so­zia­tion von sich selbst sowie von der Gesell­schaft und kommt über die Deu­tung ihrer Träume, in denen die eigene Leiche eine unter vielen unheim­li­chen Doppelgänger_innenfiguren ist, zu einem Abschluss, an dem die Ich-Erzäh­lerin ihre eigenen „Zufäl­lig­keiten an den Zufäl­lig­keiten dieser Welt“ erkennt. „[A]ber auch ihre Zusam­men­hänge wurden mir deut­li­cher; war die Unsi­cher­heit einer Form gegeben, wie­viel mehr mußte die Sicher­heit einer Idee bestehen, zu der eben­diese Formen nur vage Ver­suche der Ver­deut­li­chung aus­machten?“ Zu Anfang des Textes mit dem festen Vor­satz ange­treten, einen ‚harten‘ Beweis für die eigene Mensch­lich­keit und einen sicheren Anker in der Wirk­lich­keit zu finden, steht sie am Ende mit wenig mehr da als ‚vagen Ver­su­chen der Ver­deut­li­chung‘ einer nicht zu fas­senden Idee.

Die bedrü­ckende Stim­mung dieser und vieler anderer Erzäh­lungen aus jener Zeit wird auch der Autorin selbst attes­tiert, und zwar von Rainer Maria Rilke, den sie im Dezember 1919 trifft. Nachdem sie sich aus dem Zür­cher Dada-Trubel zurück­ge­zogen hat, bewohnt sie allein das alte Cas­tello di Ferro bei Locarno. Ver­wahr­lost, lun­gen­krank, in schlech­tester psy­chi­scher wie phy­si­scher Ver­fas­sung haust sie dort zwi­schen ver­staubten alten Möbeln in viel zu großen, zugigen Räumen – so das Bild, das er von ihr zeichnet. Meh­rere Monate lang sehen sich die beiden Dich­tenden regel­mäßig, wie aus Briefen Rilkes an seine Freundin Nanny Wun­derly-Vol­kart her­vor­geht, die voll von Bewun­de­rung für seine neue Bekannte sind:

„Diese kleine heim­ge­suchte Person, krank, ärmer als arm, von den uner­hör­testen Schick­salen hin- und her­ge­trieben über den Tod ihrer kleinen Kinder hin­über, hat Zeit, hat Fas­sung, ja, man muß schon sagen, hat die Macht gehabt, eine geis­tige Ebene in sich aus­zu­bilden, auf der alles, was sie schrift­lich aus­drückt, zu einer For­mung und Frei­heit kommt, die so man­chen Mann, der nur diesen Dingen gelebt hat, in Ver­wir­rung setzen müßte“.

Neben auf­rich­tiger Anteil­nahme schwingt eine Roman­ti­sie­rung der pre­kären Lage Rohrs mit – an anderer Stelle beneidet Rilke sie nahezu um die Ähn­lich­keit ihrer Lebens­um­stände zu denen seines Malte Lau­rids Brigge. Neben seinem „schwär­me­ri­schem Umgang mit dem Tod, den sie“, so Bey, „als Medi­zi­nerin mit anderen Augen ansah“, mag das einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Rohr Rilke Jahr­zehnte später im Gespräch mit Hans Marte als „Snob“ bezeich­nete. Ihr Ver­hältnis zu ihm ist von größter Bewun­de­rung und Dank­bar­keit einer­seits, einem leicht spöt­ti­schen Unterton ande­rer­seits geprägt. Um Rilke an der Nase her­um­zu­führen oder um seinen Sno­bismus selbst noch zu bedienen gibt sie ihm gegen­über eine adlige Abstam­mung vor.

 

Berichte aus der Sowjetunion

Hoch­stap­le­ri­sche Züge könnte man ihr auch andern­orts attes­tieren – so gibt sie 1921 einen Dok­tor­titel vor, um ein Stu­dium am Psy­cho­ana­ly­ti­schen Institut in Berlin auf­zu­nehmen. Hier lernt sie, wieder den Namen Huber­mann tra­gend, bei Karl Abraham, der sich in einem Schreiben an Freud für die Finan­zie­rung einer Kur für die erneut an Tuber­ku­lose Erkrankte ein­setzt: „Durch rasches Ein­greifen können wir der Psy­cho­ana­lyse eine wirk­lich wert­volle Arbeits­kraft sichern, ganz abge­sehen von der humanen Seite der Sache.“ Freud wil­ligt ein und tat­säch­lich sichert man somit „wert­volle Arbeits­kraft“ – wenn auch nicht unbe­dingt in der Weise, die beide vor­ge­sehen hätten. 1924 oder 1925 folgt Angela ihrem dritten Mann, dem Medizin- und Sozio­lo­gie­stu­denten Wil­helm Rohr, dessen Namen sie annimmt, nach Moskau. Beide arbeiten zunächst am Staat­li­chen Institut für Psy­cho­ana­lyse; zur Vor­be­rei­tung auf die Arbeit mit Schüler_innen und Besprizor­niki (dt. ver­wahr­loste Stra­ßen­kinder) besucht Angela 1926 zudem einen Kurs für Volks­pflege bei Ilse Arlt in Wien. Im selben Jahr nimmt sie ihre For­schungs­tä­tig­keit am Timir­jazev-Institut für Bio­logie auf, für das sie unter anderem nach Biro­bi­džan reist, die Haupt­stadt der spä­teren Jüdi­schen Auto­nomen Repu­blik. Vor­der­gründig für bak­te­rio­lo­gi­sche Unter­su­chungen ange­treten, erhält die Reise den Cha­rakter einer eth­no­lo­gi­schen Feld­for­schung und teil­neh­menden Beob­ach­tung. „Die kleine beweg­liche Person“, schreibt Selma Ruoff später, „war bei der Bevöl­ke­rung sehr beliebt und wurde ‚Ласточка‘ [las­točka (Schwalbe)] genannt.“

1928 ein vor­letztes Mal in ihrem Leben in West­eu­ropa, um einen medi­zi­ni­schen Kurs in Berlin zu absol­vieren, reicht Rohr erste Feuil­le­ton­texte und Rei­se­re­por­tagen bei deut­schen Zei­tungen ein und wird schließ­lich von der Frank­furter Zei­tung als Russ­land-Kor­re­spon­dentin enga­giert. Mehr als drei Viertel ihrer Bei­träge aus dem fol­genden Jahr­zehnt erscheinen dort pro­mi­nent auf der ersten Seite – ein Grund mehr, sich über ihre weit­ge­hende Unbe­kannt­heit in der For­schung zu wun­dern. Ihre Texte zeichnen sich nicht nur durch eine genaue Beob­ach­tungs­gabe und die Fähig­keit aus, bei aller Detail­ver­liebt­heit nie den Blick für das große Ganze zu ver­lieren, sie sind stets von einem feinen Humor durch­zogen, dem man sogar noch in ihren Erin­ne­rungen aus dem Lager begegnet. Im Laufe der 1930er Jahre werden die Berichte jedoch immer kri­ti­scher, nicht, was den Blick auf die ein­zelnen Men­schen, sehr wohl jedoch, was das sich immer deut­li­cher zei­gende sta­li­nis­ti­sche System betrifft, dessen zuneh­mende Büro­kra­ti­sie­rung sie unter dem Titel Kon­trolle des Sowjet­bür­gers. Zur Ein­füh­rung des Paß­zwanges in der Sowjet­union schil­dert. 1936 kri­ti­siert sie in der Inter­na­tio­nalen Lite­ratur die neue sowje­ti­sche Ver­fas­sung. Am 28. Juni 1941 schließ­lich wird sie selbst Opfer und kurz nach der Ver­haf­tung Wil­helms unter dem ‚lächer­li­chen‘ Vor­wurf der Spio­nage eben­falls inhaf­tiert. Helfen kann da auch Brechts Emp­feh­lungs­schreiben nicht mehr.

 

„Was könnte ich anderes wollen als schreiben und drucken?“

Wil­helm stirbt bereits 1942 im Gefängnis von Saratov, Angela wird als soge­nanntes „sozi­al­ge­fähr­li­ches Ele­ment“ ver­ur­teilt und ins Lager Nižnij Tagil, später nach Tavda gebracht. Dort arbeitet sie als Ärztin und rettet damit nicht nur sich, son­dern auch einer ganzen Reihe Gefan­gener mit äußerst begrenzten Mit­teln das Leben. Nach fünf Jahren aus der Lager­haft ent­lassen, bleibt sie als Ver­bannte noch ein wei­teres Jahr­zehnt in Sibi­rien, arbeitet zunächst als ‚freie‘ Ärztin im Lager und anschlie­ßend als ‚Taj­ga­ärztin‘, auf dem Hun­de­schlitten die ent­le­gensten Dörfer besu­chend. In diese Zeit fällt ihr zunächst prak­ti­scher, dann auch theo­re­ti­scher Nach­weis, dass die im Lager häufig auf­tre­tende Schier­lings­ver­gif­tung mit­tels Nar­kose the­ra­pierbar ist – ein Befund, den Bey mit einer medi­zi­ni­schen Abschluss­ar­beit vergleicht.

In den 1950er Jahren taucht in Kom­men­taren zu Rilkes Briefen die Falsch­in­for­ma­tion auf, Angela Gutt­mann sei bereits in den 1920ern ver­storben. Doch sie lebt weiter und gibt schließ­lich Zeugnis: Auf über 400 Seiten schreibt die mitt­ler­weile 67-Jäh­rige nach ihrer Reha­bi­li­ta­tion und Rück­kehr nach Moskau 1957 die Erleb­nisse der letzten 16 Jahre nieder. Die Manu­skripte sind voll von expli­ziten wie impli­ziten Bezügen zu den von Rohr ver­ehrten rus­si­schen Lite­raten des 19. Jahr­hun­derts, zum Expres­sio­nis­musund, wie so häufig in der soge­nannten Lager­li­te­ratur, Dantes Divina Com­media.In einem 1961 an Willi Bredel, den Prä­si­denten der Aka­demie der Künste der DDR gerich­teten Brief schreibt sie: „Sie fragen mich nach meinen Plänen, was könnte ich anderes wollen als schreiben und drucken?“

1964 kon­tak­tiert sie zum wie­der­holten Male Fedin, setzt unver­än­dert Hoff­nung, von der sie nicht ab könne, in die Aus­sicht auf Ver­öf­fent­li­chung ihrer Texte. Zu Leb­zeiten soll ihr Wunsch jedoch nicht erfüllt werden – trotz ihres eigenen Ein­satzes, trotz der tat­kräf­tigen Unter­stüt­zung ihrer lang­jäh­rigen Freun­dinnen Selma Ruoff und Sophie Lieb­knecht. Erst 1989 erscheint ihr auto­bio­gra­phi­sches Zeugnis posthum unter dem noch selbst­ge­wählten Pseud­onym Helene Gol­nipa, von der Wiener His­to­ri­kerin Isa­bella Ackerl her­aus­ge­geben, vom Verlag reich­lich pathe­tisch Im Ange­sicht der Todes­engel Sta­lins beti­telt. Nach Wien gelangt war das Manu­skript 1982 durch den öster­rei­chi­schen Bot­schafter Hans Marte, der Rohr 1977 in Moskau trifft. Die beiden führen lange Gespräche in ihrem mit Büchern und Zeit­schriften voll­ge­stopftem Kom­mu­nalka-Zimmer in einem Jun­gen­d­stil­haus am Gogo­levskij Bul‘var.

Gegen geringe Bezah­lung leistet Rohr, die sich, wie Marte erstaunt fest­stellt, nach all den Jahren ihren öster­rei­chi­schen Dia­lekt bei­be­halten hat, ärzt­liche Dienste, gibt Deutsch­stunden und ver­reist den Aus­sagen der Tochter ihrer guten Freundin Elena Il‘zen-Grin zufolge auch in hohem Alter noch, ist im Kau­kasus und in Mit­tel­asien unter­wegs. Ob sie über diese Reisen noch geschrieben hat, ist ebenso unsi­cher, wie die Frage, wie viel Unent­decktes, Ver­schol­lenes oder Ver­nich­tetes trotz der akri­bi­schen Recher­chen Beys noch nicht ans Licht gekommen ist. Ihr ist es jedoch zu ver­danken, dass mitt­ler­weile ein – wenn auch schmales – Oeuvre Rohrs in gedruckter Form vor­liegt, und somit das lite­ra­ri­sche Zeugnis einer beein­dru­ckenden Person, die stets ver­suchte, in ihren Texten eine Ver­bin­dung zur Wirk­lich­keit her­zu­stellen – um mit ihr umzu­gehen, um zu ver­stehen, was ‚das Mensch­liche‘ aus­macht, aber auch, um einen Bei­trag zur Doku­men­ta­tion von Ver­än­de­rung, von den Grau­sam­keiten der Sta­lin­herr­schaft, aber auch von Schönem zu leisten. Und auch, wenn sie manchmal ‚der alten Zeit ange­hö­rend‘ ‚ver­al­teten Wahr­heiten‘ dienen mögen – bei­spiels­weise dort, wo ihre anfäng­liche Begeis­te­rung für alles Sowje­ti­sche noch nicht dem kri­ti­schen Blick ihrer spä­teren Texte gewi­chen ist –, so beein­druckt doch vor allem ihre Aktua­lität in Pas­sagen wie diesen über die sowje­ti­sche Hauptstadt:

„Eine Mos­kauer Straße ist nicht mit einem raschen Blick zu über­sehen, sie ist viel­ge­staltig, zu ver­schie­denen Zeiten erbaut, mit nied­rigen, weit­läu­figen Häu­sern bestanden (wie viel gutes Empire ist doch hier vor­handen), die nur allzu oft von modernen hohen Bauten ver­nichtet werden. Dies natür­lich nicht bloß in dem Sinne, daß sie diesen wei­chen müssen, viel deut­li­cher ist es noch, wenn sie neben ihnen bestehen bleiben. Man kann sich dann des Ein­drucks nicht erwehren, als hätte ein unge­heurer Fuß diese alten Häuser breit und flach getreten.“

 

Lite­ratur:

Marte, Hans: Die Grenz­gän­gerin. Das außer­ge­wöhn­liche Schicksal der öster­rei­chi­schen Ärztin Dr. Angela Rohr. In: Der Grenz­gänger. Fest­schrift für Hans Marte. Hg. von Erhard Busek. Klagenfurt/Wien/Lubljana/Sarajewo 2000, S. 143–153.
Rilke, Rainer Maria: Briefe an Nanny Wun­derly-Vol­kart, Bd. 1. Besorgt durch Rätus Luck. Frank­furt a. M. 1977.
Rohr, Angela: Der Vogel. Gesam­melte Erzäh­lungen und Repor­tagen. Hg. und mit einem Nach­wort von Gesine Bey. Berlin 2013.
Rohr, Angela: Lager. Hg. und mit einem Nach­wort von Gesine Bey. Berlin 2015.
Rohr, Angela: Zehn Frauen am Amur. Feuil­le­tons für die ‚Frank­furter Zei­tung‘ aus der Sowjet­union (1929–1936). Hg. und mit einem Nach­wort von Gesine Bey. Berlin 2018.

 

Wei­ter­füh­rende Links

Vogel, Sonja: „‚Sta­lin­suppe!‘ riefen sie begeis­tert“. Mos­kauer Deut­sche Zei­tung, 29.04.2016.