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Vivisektion eines Jahrhunderts: Autorinportrait Angela Rohr

Posted on 30. Januar 2020 by Georgia Lummert
Nicht jedes literarische Talent bekommt zu Lebzeiten das Publikum, das es verdient. Die österreichisch-sowjetische Literatin, Journalistin, Medizinerin und Psychoanalytikerin Angela Rohr ist ein solcher Fall. Erst in diesem Jahrhundert nahm sich die Germanistin Gesine Bey der Aufgabe an, die Lebensgeschichte der 1985 in Moskau Verstorbenen zu rekonstruieren sowie ihre literarischen, journalistischen und autobiographischen Schriften (neu) herauszugeben.

Nicht jedes literarische Talent bekommt zu Lebzeiten das Publikum, das es verdient. Die österreichisch-sowjetische Literatin, Journalistin, Medizinerin und Psychoanalytikerin Angela Rohr ist ein solcher Fall. Erst in diesem Jahrhundert nahm sich die Germanistin Gesine Bey der Aufgabe an, die Lebensgeschichte der 1985 in Moskau Verstorbenen zu rekonstruieren sowie ihre literarischen, journalistischen und autobiographischen Schriften (neu) herauszugeben.

„Von allem Anfang an übersehen wir zwei Arten des Geschriebenen: ‚Weltfluchtliteratur‘, die in Wünschen, Hoffnungen und Schönheit lebt, und eine andere, die die Beziehungen zu einer Realität herzustellen trachtet, die Wahrheit nicht scheut, die aber, wenn sie eben der alten Zeit angehört, auch veralteten Wahrheiten dient“.

So beginnt Angela Rohr ihre Rezension der Autobiographie Agnes Smedleys, einer US-Journalistin und ‑Autorin, die heute vor allem für ihre Berichte über die Chinesische Revolution bekannt ist. Von Rohr wird sie in den höchsten Tönen gelobt und eindeutig auf der zweiten Seite dieser Unterscheidung verortet. Ihre Rezension ist nicht nur ein Plädoyer für Literatur als dezidiert engagierte Kunst und Tätigkeit, sondern zeigt auch ein Bewusstsein für die historische Situiertheit von Geschriebenem. Das Trachten danach, „Beziehungen zu einer Realität herzustellen“, prägt auch Rohrs eigenes Schaffen: Angefangen bei ihren frühen expressionistischen Erzählungen, die die Möglichkeit einer solchen Beziehung infrage stellen, über die in den Jahren 1928 bis 1937 als Korrespondentin für die Frankfurter Zeitung geschriebenen Reportagen, Berichte und Geschichten aus Moskau, Sibirien und dem Kaukasus, die dem deutschsprachigen Publikum ein Bild von der Sowjetunion vermitteln, bis zu ihren autobiographischen Texten über den Gulag, in denen sie von einer Realität Zeugnis ablegt, die in Worten kaum auszudrücken ist.

Ihre medizinischen, psychoanalytischen und ethnografischen Kenntnisse ermöglichen ihr dabei „eine ‚berufliche‘, beobachtende Distanz“, so Rohrs Herausgeberin Gesine Bey, die „ihr nach der ersten Fassungslosigkeit die Urteilskraft zurück“. Ein Wechselspiel von Immersion und Abstand merkt man bereits ihren Arbeiten für die Frankfurter Zeitung an: „Als Autorin, die im Land lebte, durch ihre Herkunft aber eine Distanz hatte und als Schriftstellerin nicht organisiert war“, hat sie „keine Systeme vor Augen“, bemüht „nicht den Horizont einer Weltanschauung“, schreibt Bey im Nachwort zu Zehn Frauen am Amur, der 2018 erschienenen Sammlung von Texten Rohrs für die FZ. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger dort, Joseph Roth, und vielen anderen Russlandberichtenden, die sich teils nur für wenige Wochen oder gar Tage im Land aufhalten und oftmals in abstrakten Begriffen, teils schematisch über das Gesehene berichten, teilt Rohr ihren Alltag mit denen, über die sie schreibt, lebt an den Orten, von denen sie berichtet. Ihr Blick ist geduldig, ethnografisch genau, teils messerscharf medizinisch-sezierend, aber nie bloßstellend.

 

Entdeckung einer großen Unbekannten

Doch wer war Angela Rohr? Und warum ist sie in der Literaturwissenschaft nur so wenigen ein Begriff? Nicht zuletzt mag das an ihrer verworrenen Lebensgeschichte liegen, deren Rekonstruktion nicht gerade erleichtert wird durch den Umstand, dass sie unter mindestens acht verschiedenen Namen in Erscheinung tritt und publiziert. In den letzten zwei Jahrzehnten begann die Germanistin Bey, die zufällig über ein Empfehlungsschreiben Bertolt Brechts, dessen Grippe Rohr 1935 in Moskau behandelt, an den späteren Vorsitzenden des Schriftstellerverbands der UdSSR Konstantin Fedin stolperte, die Fäden zusammenzuführen. Erste Puzzleteile hatte bereits die Rilke-Chronistin Ingeborg Schnack aneinandergefügt, hiervon ausgehend deckte Bey auf, dass es sich bei Angela Helene Müllner, Angela Hubermann, Angela Guttmann, A. G., Angela Rohr, Angela oder Angelina Ror und Helene Golnipa um ein und dieselbe Person handelt. Sonja Vogel vermutet in der Moskauer Deutschen Zeitung, Bey folgend, die Dadaistin Rohr hätte diese „Schnitzeljagd“ bewusst inszeniert, wohlüberlegt Hinweise auf sich und Manuskripte in den Nachlässen ihrer berühmten Freund_innen und Bekannten hinterlegt. Deren Liste ist lang, liest sich wie ein Who is who der europäischen Intelligenz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Am 5. Februar 1890 im mährischen Znaim geboren, zieht Angela Helene Müllner 1904 mit ihrer Familie nach Wien. Mit 17 Jahren verlässt sie nach dem Bruch mit ihrem autoritären, gewalttätigen Vater ihr streng katholisches Elternhaus, besucht zur Vorbereitung auf ein Medizinstudium Abiturkurse, die sie jedoch abbricht, als sie den expressionistischen Schriftsteller Leopold Hubermann kennenlernt. Die beiden reisen mittellos durch Österreich-Ungarn und Italien, 1909 wird ihre nach einer Geschichte Edgar Alan Poes benannte Tochter Ligeia geboren, die bei Angelas Schwester Anna aufwächst. Danach bringt Rohr wohl noch zwei weitere Kinder zur Welt, diese seien „kurz nach der Geburt gestorben, was bei ihr lebenslange Schuldgefühle auslöste“, vermutet Bey im Nachwort zum Erzählband Der Vogel.

Ein Jahr später folgt die Hochzeit, und da Leopold aus Warschau stammt, erhält die nun Hubermann heißende Angela die russische Staatsbürgerschaft. Ab 1913 in Paris, kommen die im Quartier Latin lebenden Hubermanns mit Vertreter_innen der Avantgarde in Kontakt und Angela veröffentlicht erste Texte in der Ähre und derAktion. Mittlerweile von Leopold getrennt, geht sie im Juli 1914 für eine Tuberkulose-Kur in die Schweiz, wo sie bis zum Herbst 1920 bleiben wird. In Zürich trifft sie alte Gesichter aus der Pariser Zeit und macht neue Bekanntschaften, so z. B. mit Emmy Hennings und Hugo Ball. Auf Dada-Soireen in Balls Dada-Galerierezitiert sie chinesische Märchen und ergreift auf dem Zürcher Bahnhof die Hand des gen Russland davonfahrenden Lenin – als „letzte, die von ihm Abschied nahm“, wird sie 1941 in ihrer Erinnerung an Lenin schreiben. Um ein gemeinsames Zimmer in Zürich mieten zu können, geht sie 1916 eine Scheinehe mit dem späteren Geschäftsführer der Berliner Fotoagentur Dephot, Simon Guttmann, ein.

 

„Diese kleine heimgesuchte Person“

Rohr führt ihr in Paris begonnenes, größtenteils autodidaktisches Medizinstudium fort und beschäftigt sich parallel dazu mit der Psychoanalyse, aber auch mit verschiedenen mystischen Traditionen. Beides beeinflusst eine heute verschollene ethnographische Arbeit zu afrikanischen Masken und hinterlässt sichtbare Spuren in Prosatexten wie dem Erzählungsfragment Die Erfüllung von 1919. In (alb‑)traumhaften Sequenzen verhandelt die Erzählerin die eigene Sterblichkeit und Dissoziation von sich selbst sowie von der Gesellschaft und kommt über die Deutung ihrer Träume, in denen die eigene Leiche eine unter vielen unheimlichen Doppelgänger_innenfiguren ist, zu einem Abschluss, an dem die Ich-Erzählerin ihre eigenen „Zufälligkeiten an den Zufälligkeiten dieser Welt“ erkennt. „ber auch ihre Zusammenhänge wurden mir deutlicher; war die Unsicherheit einer Form gegeben, wieviel mehr mußte die Sicherheit einer Idee bestehen, zu der ebendiese Formen nur vage Versuche der Verdeutlichung ausmachten?“ Zu Anfang des Textes mit dem festen Vorsatz angetreten, einen ‚harten‘ Beweis für die eigene Menschlichkeit und einen sicheren Anker in der Wirklichkeit zu finden, steht sie am Ende mit wenig mehr da als ‚vagen Versuchen der Verdeutlichung‘ einer nicht zu fassenden Idee.

Die bedrückende Stimmung dieser und vieler anderer Erzählungen aus jener Zeit wird auch der Autorin selbst attestiert, und zwar von Rainer Maria Rilke, den sie im Dezember 1919 trifft. Nachdem sie sich aus dem Zürcher Dada-Trubel zurückgezogen hat, bewohnt sie allein das alte Castello di Ferro bei Locarno. Verwahrlost, lungenkrank, in schlechtester psychischer wie physischer Verfassung haust sie dort zwischen verstaubten alten Möbeln in viel zu großen, zugigen Räumen – so das Bild, das er von ihr zeichnet. Mehrere Monate lang sehen sich die beiden Dichtenden regelmäßig, wie aus Briefen Rilkes an seine Freundin Nanny Wunderly-Volkart hervorgeht, die voll von Bewunderung für seine neue Bekannte sind:

„Diese kleine heimgesuchte Person, krank, ärmer als arm, von den unerhörtesten Schicksalen hin- und hergetrieben über den Tod ihrer kleinen Kinder hinüber, hat Zeit, hat Fassung, ja, man muß schon sagen, hat die Macht gehabt, eine geistige Ebene in sich auszubilden, auf der alles, was sie schriftlich ausdrückt, zu einer Formung und Freiheit kommt, die so manchen Mann, der nur diesen Dingen gelebt hat, in Verwirrung setzen müßte“.

Neben aufrichtiger Anteilnahme schwingt eine Romantisierung der prekären Lage Rohrs mit – an anderer Stelle beneidet Rilke sie nahezu um die Ähnlichkeit ihrer Lebensumstände zu denen seines Malte Laurids Brigge. Neben seinem „schwärmerischem Umgang mit dem Tod, den sie“, so Bey, „als Medizinerin mit anderen Augen ansah“, mag das einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Rohr Rilke Jahrzehnte später im Gespräch mit Hans Marte als „Snob“ bezeichnete. Ihr Verhältnis zu ihm ist von größter Bewunderung und Dankbarkeit einerseits, einem leicht spöttischen Unterton andererseits geprägt. Um Rilke an der Nase herumzuführen oder um seinen Snobismus selbst noch zu bedienen gibt sie ihm gegenüber eine adlige Abstammung vor.

 

Berichte aus der Sowjetunion

Hochstaplerische Züge könnte man ihr auch andernorts attestieren – so gibt sie 1921 einen Doktortitel vor, um ein Studium am Psychoanalytischen Institut in Berlin aufzunehmen. Hier lernt sie, wieder den Namen Hubermann tragend, bei Karl Abraham, der sich in einem Schreiben an Freud für die Finanzierung einer Kur für die erneut an Tuberkulose Erkrankte einsetzt: „Durch rasches Eingreifen können wir der Psychoanalyse eine wirklich wertvolle Arbeitskraft sichern, ganz abgesehen von der humanen Seite der Sache.“ Freud willigt ein und tatsächlich sichert man somit „wertvolle Arbeitskraft“ – wenn auch nicht unbedingt in der Weise, die beide vorgesehen hätten. 1924 oder 1925 folgt Angela ihrem dritten Mann, dem Medizin- und Soziologiestudenten Wilhelm Rohr, dessen Namen sie annimmt, nach Moskau. Beide arbeiten zunächst am Staatlichen Institut für Psychoanalyse; zur Vorbereitung auf die Arbeit mit Schüler_innen und Besprizorniki (dt. verwahrloste Straßenkinder) besucht Angela 1926 zudem einen Kurs für Volkspflege bei Ilse Arlt in Wien. Im selben Jahr nimmt sie ihre Forschungstätigkeit am Timirjazev-Institut für Biologie auf, für das sie unter anderem nach Birobidžan reist, die Hauptstadt der späteren Jüdischen Autonomen Republik. Vordergründig für bakteriologische Untersuchungen angetreten, erhält die Reise den Charakter einer ethnologischen Feldforschung und teilnehmenden Beobachtung. „Die kleine bewegliche Person“, schreibt Selma Ruoff später, „war bei der Bevölkerung sehr beliebt und wurde ‚Ласточка‘ genannt.“

1928 ein vorletztes Mal in ihrem Leben in Westeuropa, um einen medizinischen Kurs in Berlin zu absolvieren, reicht Rohr erste Feuilletontexte und Reisereportagen bei deutschen Zeitungen ein und wird schließlich von der Frankfurter Zeitung als Russland-Korrespondentin engagiert. Mehr als drei Viertel ihrer Beiträge aus dem folgenden Jahrzehnt erscheinen dort prominent auf der ersten Seite – ein Grund mehr, sich über ihre weitgehende Unbekanntheit in der Forschung zu wundern. Ihre Texte zeichnen sich nicht nur durch eine genaue Beobachtungsgabe und die Fähigkeit aus, bei aller Detailverliebtheit nie den Blick für das große Ganze zu verlieren, sie sind stets von einem feinen Humor durchzogen, dem man sogar noch in ihren Erinnerungen aus dem Lager begegnet. Im Laufe der 1930er Jahre werden die Berichte jedoch immer kritischer, nicht, was den Blick auf die einzelnen Menschen, sehr wohl jedoch, was das sich immer deutlicher zeigende stalinistische System betrifft, dessen zunehmende Bürokratisierung sie unter dem Titel Kontrolle des Sowjetbürgers. Zur Einführung des Paßzwanges in der Sowjetunion schildert. 1936 kritisiert sie in der Internationalen Literatur die neue sowjetische Verfassung. Am 28. Juni 1941 schließlich wird sie selbst Opfer und kurz nach der Verhaftung Wilhelms unter dem ‚lächerlichen‘ Vorwurf der Spionage ebenfalls inhaftiert. Helfen kann da auch Brechts Empfehlungsschreiben nicht mehr.

 

„Was könnte ich anderes wollen als schreiben und drucken?“

Wilhelm stirbt bereits 1942 im Gefängnis von Saratov, Angela wird als sogenanntes „sozialgefährliches Element“ verurteilt und ins Lager Nižnij Tagil, später nach Tavda gebracht. Dort arbeitet sie als Ärztin und rettet damit nicht nur sich, sondern auch einer ganzen Reihe Gefangener mit äußerst begrenzten Mitteln das Leben. Nach fünf Jahren aus der Lagerhaft entlassen, bleibt sie als Verbannte noch ein weiteres Jahrzehnt in Sibirien, arbeitet zunächst als ‚freie‘ Ärztin im Lager und anschließend als ‚Tajgaärztin‘, auf dem Hundeschlitten die entlegensten Dörfer besuchend. In diese Zeit fällt ihr zunächst praktischer, dann auch theoretischer Nachweis, dass die im Lager häufig auftretende Schierlingsvergiftung mittels Narkose therapierbar ist – ein Befund, den Bey mit einer medizinischen Abschlussarbeit vergleicht.

In den 1950er Jahren taucht in Kommentaren zu Rilkes Briefen die Falschinformation auf, Angela Guttmann sei bereits in den 1920ern verstorben. Doch sie lebt weiter und gibt schließlich Zeugnis: Auf über 400 Seiten schreibt die mittlerweile 67-Jährige nach ihrer Rehabilitation und Rückkehr nach Moskau 1957 die Erlebnisse der letzten 16 Jahre nieder. Die Manuskripte sind voll von expliziten wie impliziten Bezügen zu den von Rohr verehrten russischen Literaten des 19. Jahrhunderts, zum Expressionismusund, wie so häufig in der sogenannten Lagerliteratur, Dantes Divina Commedia.In einem 1961 an Willi Bredel, den Präsidenten der Akademie der Künste der DDR gerichteten Brief schreibt sie: „Sie fragen mich nach meinen Plänen, was könnte ich anderes wollen als schreiben und drucken?“

1964 kontaktiert sie zum wiederholten Male Fedin, setzt unverändert Hoffnung, von der sie nicht ab könne, in die Aussicht auf Veröffentlichung ihrer Texte. Zu Lebzeiten soll ihr Wunsch jedoch nicht erfüllt werden – trotz ihres eigenen Einsatzes, trotz der tatkräftigen Unterstützung ihrer langjährigen Freundinnen Selma Ruoff und Sophie Liebknecht. Erst 1989 erscheint ihr autobiographisches Zeugnis posthum unter dem noch selbstgewählten Pseudonym Helene Golnipa, von der Wiener Historikerin Isabella Ackerl herausgegeben, vom Verlag reichlich pathetisch Im Angesicht der Todesengel Stalins betitelt. Nach Wien gelangt war das Manuskript 1982 durch den österreichischen Botschafter Hans Marte, der Rohr 1977 in Moskau trifft. Die beiden führen lange Gespräche in ihrem mit Büchern und Zeitschriften vollgestopftem Kommunalka-Zimmer in einem Jungendstilhaus am Gogolevskij Bul‘var.

Gegen geringe Bezahlung leistet Rohr, die sich, wie Marte erstaunt feststellt, nach all den Jahren ihren österreichischen Dialekt beibehalten hat, ärztliche Dienste, gibt Deutschstunden und verreist den Aussagen der Tochter ihrer guten Freundin Elena Il‘zen-Grin zufolge auch in hohem Alter noch, ist im Kaukasus und in Mittelasien unterwegs. Ob sie über diese Reisen noch geschrieben hat, ist ebenso unsicher, wie die Frage, wie viel Unentdecktes, Verschollenes oder Vernichtetes trotz der akribischen Recherchen Beys noch nicht ans Licht gekommen ist. Ihr ist es jedoch zu verdanken, dass mittlerweile ein – wenn auch schmales – Oeuvre Rohrs in gedruckter Form vorliegt, und somit das literarische Zeugnis einer beeindruckenden Person, die stets versuchte, in ihren Texten eine Verbindung zur Wirklichkeit herzustellen – um mit ihr umzugehen, um zu verstehen, was ‚das Menschliche‘ ausmacht, aber auch, um einen Beitrag zur Dokumentation von Veränderung, von den Grausamkeiten der Stalinherrschaft, aber auch von Schönem zu leisten. Und auch, wenn sie manchmal ‚der alten Zeit angehörend‘ ‚veralteten Wahrheiten‘ dienen mögen – beispielsweise dort, wo ihre anfängliche Begeisterung für alles Sowjetische noch nicht dem kritischen Blick ihrer späteren Texte gewichen ist –, so beeindruckt doch vor allem ihre Aktualität in Passagen wie diesen über die sowjetische Hauptstadt:

„Eine Moskauer Straße ist nicht mit einem raschen Blick zu übersehen, sie ist vielgestaltig, zu verschiedenen Zeiten erbaut, mit niedrigen, weitläufigen Häusern bestanden (wie viel gutes Empire ist doch hier vorhanden), die nur allzu oft von modernen hohen Bauten vernichtet werden. Dies natürlich nicht bloß in dem Sinne, daß sie diesen weichen müssen, viel deutlicher ist es noch, wenn sie neben ihnen bestehen bleiben. Man kann sich dann des Eindrucks nicht erwehren, als hätte ein ungeheurer Fuß diese alten Häuser breit und flach getreten.“

 

Literatur:

Marte, Hans: Die Grenzgängerin. Das außergewöhnliche Schicksal der österreichischen Ärztin Dr. Angela Rohr. In: Der Grenzgänger. Festschrift für Hans Marte. Hg. von Erhard Busek. Klagenfurt/Wien/Lubljana/Sarajewo 2000, S. 143–153.
Rilke, Rainer Maria: Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, Bd. 1. Besorgt durch Rätus Luck. Frankfurt a. M. 1977.
Rohr, Angela: Der Vogel. Gesammelte Erzählungen und Reportagen. Hg. und mit einem Nachwort von Gesine Bey. Berlin 2013.
Rohr, Angela: Lager. Hg. und mit einem Nachwort von Gesine Bey. Berlin 2015.
Rohr, Angela: Zehn Frauen am Amur. Feuilletons für die ‚Frankfurter Zeitung‘ aus der Sowjetunion (1929–1936). Hg. und mit einem Nachwort von Gesine Bey. Berlin 2018.

 

Weiterführende Links

Vogel, Sonja: „‚Stalinsuppe!‘ riefen sie begeistert“. Moskauer Deutsche Zeitung, 29.04.2016.

Vivisektion eines Jahrhunderts: Autorinportrait Angela Rohr - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Vivi­sek­tion eines Jahr­hun­derts: Autorin­por­trait Angela Rohr

Nicht jedes lite­ra­ri­sche Talent bekommt zu Leb­zeiten das Publikum, das es ver­dient. Die öster­rei­chisch-sowje­ti­sche Lite­ratin, Jour­na­listin, Medi­zi­nerin und Psy­cho­ana­ly­ti­kerin Angela Rohr ist ein sol­cher Fall. Erst in diesem Jahr­hun­dert nahm sich die Ger­ma­nistin Gesine Bey der Auf­gabe an, die Lebens­ge­schichte der 1985 in Moskau Ver­stor­benen zu rekon­stru­ieren sowie ihre lite­ra­ri­schen, jour­na­lis­ti­schen und auto­bio­gra­phi­schen Schriften (neu) herauszugeben.

„Von allem Anfang an über­sehen wir zwei Arten des Geschrie­benen: ‚Welt­flucht­li­te­ratur‘, die in Wün­schen, Hoff­nungen und Schön­heit lebt, und eine andere, die die Bezie­hungen zu einer Rea­lität her­zu­stellen trachtet, die Wahr­heit nicht scheut, die aber, wenn sie eben der alten Zeit ange­hört, auch ver­al­teten Wahr­heiten dient“. 

So beginnt Angela Rohr ihre Rezen­sion der Auto­bio­gra­phie Agnes Smed­leys, einer US-Jour­na­listin und ‑Autorin, die heute vor allem für ihre Berichte über die Chi­ne­si­sche Revo­lu­tion bekannt ist. Von Rohr wird sie in den höchsten Tönen gelobt und ein­deutig auf der zweiten Seite dieser Unter­schei­dung ver­ortet. Ihre Rezen­sion ist nicht nur ein Plä­doyer für Lite­ratur als dezi­diert enga­gierte Kunst und Tätig­keit, son­dern zeigt auch ein Bewusst­sein für die his­to­ri­sche Situ­iert­heit von Geschrie­benem. Das Trachten danach, „Bezie­hungen zu einer Rea­lität her­zu­stellen“, prägt auch Rohrs eigenes Schaffen: Ange­fangen bei ihren frühen expres­sio­nis­ti­schen Erzäh­lungen, die die Mög­lich­keit einer sol­chen Bezie­hung infrage stellen, über die in den Jahren 1928 bis 1937 als Kor­re­spon­dentin für die Frank­furter Zei­tung geschrie­benen Repor­tagen, Berichte und Geschichten aus Moskau, Sibi­rien und dem Kau­kasus, die dem deutsch­spra­chigen Publikum ein Bild von der Sowjet­union ver­mit­teln, bis zu ihren auto­bio­gra­phi­schen Texten über den Gulag, in denen sie von einer Rea­lität Zeugnis ablegt, die in Worten kaum aus­zu­drü­cken ist.

Ihre medi­zi­ni­schen, psy­cho­ana­ly­ti­schen und eth­no­gra­fi­schen Kennt­nisse ermög­li­chen ihr dabei „eine ‚beruf­liche‘, beob­ach­tende Distanz“, so Rohrs Her­aus­ge­berin Gesine Bey, die „ihr nach der ersten Fas­sungs­lo­sig­keit die Urteils­kraft zurück[gibt]“. Ein Wech­sel­spiel von Immersion und Abstand merkt man bereits ihren Arbeiten für die Frank­furter Zei­tung an: „Als Autorin, die im Land lebte, durch ihre Her­kunft aber eine Distanz hatte und als Schrift­stel­lerin nicht orga­ni­siert war“, hat sie „keine Sys­teme vor Augen“, bemüht „nicht den Hori­zont einer Welt­an­schauung“, schreibt Bey im Nach­wort zu Zehn Frauen am Amur, der 2018 erschie­nenen Samm­lung von Texten Rohrs für die FZ. Im Gegen­satz zu ihrem Vor­gänger dort, Joseph Roth, und vielen anderen Russ­land­be­rich­tenden, die sich teils nur für wenige Wochen oder gar Tage im Land auf­halten und oft­mals in abs­trakten Begriffen, teils sche­ma­tisch über das Gese­hene berichten, teilt Rohr ihren Alltag mit denen, über die sie schreibt, lebt an den Orten, von denen sie berichtet. Ihr Blick ist geduldig, eth­no­gra­fisch genau, teils mes­ser­scharf medi­zi­nisch-sezie­rend, aber nie bloßstellend.

 

Ent­de­ckung einer großen Unbekannten

Doch wer war Angela Rohr? Und warum ist sie in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft nur so wenigen ein Begriff? Nicht zuletzt mag das an ihrer ver­wor­renen Lebens­ge­schichte liegen, deren Rekon­struk­tion nicht gerade erleich­tert wird durch den Umstand, dass sie unter min­des­tens acht ver­schie­denen Namen in Erschei­nung tritt und publi­ziert. In den letzten zwei Jahr­zehnten begann die Ger­ma­nistin Bey, die zufällig über ein Emp­feh­lungs­schreiben Ber­tolt Brechts, dessen Grippe Rohr 1935 in Moskau behan­delt, an den spä­teren Vor­sit­zenden des Schrift­stel­ler­ver­bands der UdSSR Kon­stantin Fedin stol­perte, die Fäden zusam­men­zu­führen. Erste Puz­zle­teile hatte bereits die Rilke-Chro­nistin Inge­borg Schnack anein­an­der­ge­fügt, hiervon aus­ge­hend deckte Bey auf, dass es sich bei Angela Helene Müllner, Angela Huber­mann, Angela Gutt­mann, A. G., Angela Rohr, Angela oder Ange­lina Ror und Helene Gol­nipa um ein und die­selbe Person han­delt. Sonja Vogel ver­mutet in der Mos­kauer Deut­schen Zei­tung, Bey fol­gend, die Dada­istin Rohr hätte diese „Schnit­zel­jagd“ bewusst insze­niert, wohl­über­legt Hin­weise auf sich und Manu­skripte in den Nach­lässen ihrer berühmten Freund_innen und Bekannten hin­ter­legt. Deren Liste ist lang, liest sich wie ein Who is who der euro­päi­schen Intel­li­genz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Am 5. Februar 1890 im mäh­ri­schen Znaim geboren, zieht Angela Helene Müllner 1904 mit ihrer Familie nach Wien. Mit 17 Jahren ver­lässt sie nach dem Bruch mit ihrem auto­ri­tären, gewalt­tä­tigen Vater ihr streng katho­li­sches Eltern­haus, besucht zur Vor­be­rei­tung auf ein Medi­zin­stu­dium Abitur­kurse, die sie jedoch abbricht, als sie den expres­sio­nis­ti­schen Schrift­steller Leo­pold Huber­mann ken­nen­lernt. Die beiden reisen mit­tellos durch Öster­reich-Ungarn und Ita­lien, 1909 wird ihre nach einer Geschichte Edgar Alan Poes benannte Tochter Ligeia geboren, die bei Angelas Schwester Anna auf­wächst. Danach bringt Rohr wohl noch zwei wei­tere Kinder zur Welt, diese seien „kurz nach der Geburt gestorben, was bei ihr lebens­lange Schuld­ge­fühle aus­löste“, ver­mutet Bey im Nach­wort zum Erzähl­band Der Vogel.

Ein Jahr später folgt die Hoch­zeit, und da Leo­pold aus War­schau stammt, erhält die nun Huber­mann hei­ßende Angela die rus­si­sche Staats­bür­ger­schaft. Ab 1913 in Paris, kommen die im Quar­tier Latin lebenden Huber­manns mit Vertreter_innen der Avant­garde in Kon­takt und Angela ver­öf­fent­licht erste Texte in der Ähre und derAktion. Mitt­ler­weile von Leo­pold getrennt, geht sie im Juli 1914 für eine Tuber­ku­lose-Kur in die Schweiz, wo sie bis zum Herbst 1920 bleiben wird. In Zürich trifft sie alte Gesichter aus der Pariser Zeit und macht neue Bekannt­schaften, so z. B. mit Emmy Hen­nings und Hugo Ball. Auf Dada-Soi­reen in Balls Dada-Gale­rie­re­zi­tiert sie chi­ne­si­sche Mär­chen und ergreift auf dem Zür­cher Bahnhof die Hand des gen Russ­land davon­fah­renden Lenin – als „letzte, die von ihm Abschied nahm“, wird sie 1941 in ihrer Erin­ne­rung an Lenin schreiben. Um ein gemein­sames Zimmer in Zürich mieten zu können, geht sie 1916 eine Scheinehe mit dem spä­teren Geschäfts­führer der Ber­liner Foto­agentur Dephot, Simon Gutt­mann, ein.

 

„Diese kleine heim­ge­suchte Person“

Rohr führt ihr in Paris begon­nenes, größ­ten­teils auto­di­dak­ti­sches Medi­zin­stu­dium fort und beschäf­tigt sich par­allel dazu mit der Psy­cho­ana­lyse, aber auch mit ver­schie­denen mys­ti­schen Tra­di­tionen. Beides beein­flusst eine heute ver­schol­lene eth­no­gra­phi­sche Arbeit zu afri­ka­ni­schen Masken und hin­ter­lässt sicht­bare Spuren in Pro­sa­texten wie dem Erzäh­lungs­frag­ment Die Erfül­lung von 1919. In (alb‑)traumhaften Sequenzen ver­han­delt die Erzäh­lerin die eigene Sterb­lich­keit und Dis­so­zia­tion von sich selbst sowie von der Gesell­schaft und kommt über die Deu­tung ihrer Träume, in denen die eigene Leiche eine unter vielen unheim­li­chen Doppelgänger_innenfiguren ist, zu einem Abschluss, an dem die Ich-Erzäh­lerin ihre eigenen „Zufäl­lig­keiten an den Zufäl­lig­keiten dieser Welt“ erkennt. „[A]ber auch ihre Zusam­men­hänge wurden mir deut­li­cher; war die Unsi­cher­heit einer Form gegeben, wie­viel mehr mußte die Sicher­heit einer Idee bestehen, zu der eben­diese Formen nur vage Ver­suche der Ver­deut­li­chung aus­machten?“ Zu Anfang des Textes mit dem festen Vor­satz ange­treten, einen ‚harten‘ Beweis für die eigene Mensch­lich­keit und einen sicheren Anker in der Wirk­lich­keit zu finden, steht sie am Ende mit wenig mehr da als ‚vagen Ver­su­chen der Ver­deut­li­chung‘ einer nicht zu fas­senden Idee.

Die bedrü­ckende Stim­mung dieser und vieler anderer Erzäh­lungen aus jener Zeit wird auch der Autorin selbst attes­tiert, und zwar von Rainer Maria Rilke, den sie im Dezember 1919 trifft. Nachdem sie sich aus dem Zür­cher Dada-Trubel zurück­ge­zogen hat, bewohnt sie allein das alte Cas­tello di Ferro bei Locarno. Ver­wahr­lost, lun­gen­krank, in schlech­tester psy­chi­scher wie phy­si­scher Ver­fas­sung haust sie dort zwi­schen ver­staubten alten Möbeln in viel zu großen, zugigen Räumen – so das Bild, das er von ihr zeichnet. Meh­rere Monate lang sehen sich die beiden Dich­tenden regel­mäßig, wie aus Briefen Rilkes an seine Freundin Nanny Wun­derly-Vol­kart her­vor­geht, die voll von Bewun­de­rung für seine neue Bekannte sind:

„Diese kleine heim­ge­suchte Person, krank, ärmer als arm, von den uner­hör­testen Schick­salen hin- und her­ge­trieben über den Tod ihrer kleinen Kinder hin­über, hat Zeit, hat Fas­sung, ja, man muß schon sagen, hat die Macht gehabt, eine geis­tige Ebene in sich aus­zu­bilden, auf der alles, was sie schrift­lich aus­drückt, zu einer For­mung und Frei­heit kommt, die so man­chen Mann, der nur diesen Dingen gelebt hat, in Ver­wir­rung setzen müßte“.

Neben auf­rich­tiger Anteil­nahme schwingt eine Roman­ti­sie­rung der pre­kären Lage Rohrs mit – an anderer Stelle beneidet Rilke sie nahezu um die Ähn­lich­keit ihrer Lebens­um­stände zu denen seines Malte Lau­rids Brigge. Neben seinem „schwär­me­ri­schem Umgang mit dem Tod, den sie“, so Bey, „als Medi­zi­nerin mit anderen Augen ansah“, mag das einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Rohr Rilke Jahr­zehnte später im Gespräch mit Hans Marte als „Snob“ bezeich­nete. Ihr Ver­hältnis zu ihm ist von größter Bewun­de­rung und Dank­bar­keit einer­seits, einem leicht spöt­ti­schen Unterton ande­rer­seits geprägt. Um Rilke an der Nase her­um­zu­führen oder um seinen Sno­bismus selbst noch zu bedienen gibt sie ihm gegen­über eine adlige Abstam­mung vor.

 

Berichte aus der Sowjetunion

Hoch­stap­le­ri­sche Züge könnte man ihr auch andern­orts attes­tieren – so gibt sie 1921 einen Dok­tor­titel vor, um ein Stu­dium am Psy­cho­ana­ly­ti­schen Institut in Berlin auf­zu­nehmen. Hier lernt sie, wieder den Namen Huber­mann tra­gend, bei Karl Abraham, der sich in einem Schreiben an Freud für die Finan­zie­rung einer Kur für die erneut an Tuber­ku­lose Erkrankte ein­setzt: „Durch rasches Ein­greifen können wir der Psy­cho­ana­lyse eine wirk­lich wert­volle Arbeits­kraft sichern, ganz abge­sehen von der humanen Seite der Sache.“ Freud wil­ligt ein und tat­säch­lich sichert man somit „wert­volle Arbeits­kraft“ – wenn auch nicht unbe­dingt in der Weise, die beide vor­ge­sehen hätten. 1924 oder 1925 folgt Angela ihrem dritten Mann, dem Medizin- und Sozio­lo­gie­stu­denten Wil­helm Rohr, dessen Namen sie annimmt, nach Moskau. Beide arbeiten zunächst am Staat­li­chen Institut für Psy­cho­ana­lyse; zur Vor­be­rei­tung auf die Arbeit mit Schüler_innen und Besprizor­niki (dt. ver­wahr­loste Stra­ßen­kinder) besucht Angela 1926 zudem einen Kurs für Volks­pflege bei Ilse Arlt in Wien. Im selben Jahr nimmt sie ihre For­schungs­tä­tig­keit am Timir­jazev-Institut für Bio­logie auf, für das sie unter anderem nach Biro­bi­džan reist, die Haupt­stadt der spä­teren Jüdi­schen Auto­nomen Repu­blik. Vor­der­gründig für bak­te­rio­lo­gi­sche Unter­su­chungen ange­treten, erhält die Reise den Cha­rakter einer eth­no­lo­gi­schen Feld­for­schung und teil­neh­menden Beob­ach­tung. „Die kleine beweg­liche Person“, schreibt Selma Ruoff später, „war bei der Bevöl­ke­rung sehr beliebt und wurde ‚Ласточка‘ [las­točka (Schwalbe)] genannt.“

1928 ein vor­letztes Mal in ihrem Leben in West­eu­ropa, um einen medi­zi­ni­schen Kurs in Berlin zu absol­vieren, reicht Rohr erste Feuil­le­ton­texte und Rei­se­re­por­tagen bei deut­schen Zei­tungen ein und wird schließ­lich von der Frank­furter Zei­tung als Russ­land-Kor­re­spon­dentin enga­giert. Mehr als drei Viertel ihrer Bei­träge aus dem fol­genden Jahr­zehnt erscheinen dort pro­mi­nent auf der ersten Seite – ein Grund mehr, sich über ihre weit­ge­hende Unbe­kannt­heit in der For­schung zu wun­dern. Ihre Texte zeichnen sich nicht nur durch eine genaue Beob­ach­tungs­gabe und die Fähig­keit aus, bei aller Detail­ver­liebt­heit nie den Blick für das große Ganze zu ver­lieren, sie sind stets von einem feinen Humor durch­zogen, dem man sogar noch in ihren Erin­ne­rungen aus dem Lager begegnet. Im Laufe der 1930er Jahre werden die Berichte jedoch immer kri­ti­scher, nicht, was den Blick auf die ein­zelnen Men­schen, sehr wohl jedoch, was das sich immer deut­li­cher zei­gende sta­li­nis­ti­sche System betrifft, dessen zuneh­mende Büro­kra­ti­sie­rung sie unter dem Titel Kon­trolle des Sowjet­bür­gers. Zur Ein­füh­rung des Paß­zwanges in der Sowjet­union schil­dert. 1936 kri­ti­siert sie in der Inter­na­tio­nalen Lite­ratur die neue sowje­ti­sche Ver­fas­sung. Am 28. Juni 1941 schließ­lich wird sie selbst Opfer und kurz nach der Ver­haf­tung Wil­helms unter dem ‚lächer­li­chen‘ Vor­wurf der Spio­nage eben­falls inhaf­tiert. Helfen kann da auch Brechts Emp­feh­lungs­schreiben nicht mehr.

 

„Was könnte ich anderes wollen als schreiben und drucken?“

Wil­helm stirbt bereits 1942 im Gefängnis von Saratov, Angela wird als soge­nanntes „sozi­al­ge­fähr­li­ches Ele­ment“ ver­ur­teilt und ins Lager Nižnij Tagil, später nach Tavda gebracht. Dort arbeitet sie als Ärztin und rettet damit nicht nur sich, son­dern auch einer ganzen Reihe Gefan­gener mit äußerst begrenzten Mit­teln das Leben. Nach fünf Jahren aus der Lager­haft ent­lassen, bleibt sie als Ver­bannte noch ein wei­teres Jahr­zehnt in Sibi­rien, arbeitet zunächst als ‚freie‘ Ärztin im Lager und anschlie­ßend als ‚Taj­ga­ärztin‘, auf dem Hun­de­schlitten die ent­le­gensten Dörfer besu­chend. In diese Zeit fällt ihr zunächst prak­ti­scher, dann auch theo­re­ti­scher Nach­weis, dass die im Lager häufig auf­tre­tende Schier­lings­ver­gif­tung mit­tels Nar­kose the­ra­pierbar ist – ein Befund, den Bey mit einer medi­zi­ni­schen Abschluss­ar­beit vergleicht.

In den 1950er Jahren taucht in Kom­men­taren zu Rilkes Briefen die Falsch­in­for­ma­tion auf, Angela Gutt­mann sei bereits in den 1920ern ver­storben. Doch sie lebt weiter und gibt schließ­lich Zeugnis: Auf über 400 Seiten schreibt die mitt­ler­weile 67-Jäh­rige nach ihrer Reha­bi­li­ta­tion und Rück­kehr nach Moskau 1957 die Erleb­nisse der letzten 16 Jahre nieder. Die Manu­skripte sind voll von expli­ziten wie impli­ziten Bezügen zu den von Rohr ver­ehrten rus­si­schen Lite­raten des 19. Jahr­hun­derts, zum Expres­sio­nis­musund, wie so häufig in der soge­nannten Lager­li­te­ratur, Dantes Divina Com­media.In einem 1961 an Willi Bredel, den Prä­si­denten der Aka­demie der Künste der DDR gerich­teten Brief schreibt sie: „Sie fragen mich nach meinen Plänen, was könnte ich anderes wollen als schreiben und drucken?“

1964 kon­tak­tiert sie zum wie­der­holten Male Fedin, setzt unver­än­dert Hoff­nung, von der sie nicht ab könne, in die Aus­sicht auf Ver­öf­fent­li­chung ihrer Texte. Zu Leb­zeiten soll ihr Wunsch jedoch nicht erfüllt werden – trotz ihres eigenen Ein­satzes, trotz der tat­kräf­tigen Unter­stüt­zung ihrer lang­jäh­rigen Freun­dinnen Selma Ruoff und Sophie Lieb­knecht. Erst 1989 erscheint ihr auto­bio­gra­phi­sches Zeugnis posthum unter dem noch selbst­ge­wählten Pseud­onym Helene Gol­nipa, von der Wiener His­to­ri­kerin Isa­bella Ackerl her­aus­ge­geben, vom Verlag reich­lich pathe­tisch Im Ange­sicht der Todes­engel Sta­lins beti­telt. Nach Wien gelangt war das Manu­skript 1982 durch den öster­rei­chi­schen Bot­schafter Hans Marte, der Rohr 1977 in Moskau trifft. Die beiden führen lange Gespräche in ihrem mit Büchern und Zeit­schriften voll­ge­stopftem Kom­mu­nalka-Zimmer in einem Jun­gen­d­stil­haus am Gogo­levskij Bul‘var.

Gegen geringe Bezah­lung leistet Rohr, die sich, wie Marte erstaunt fest­stellt, nach all den Jahren ihren öster­rei­chi­schen Dia­lekt bei­be­halten hat, ärzt­liche Dienste, gibt Deutsch­stunden und ver­reist den Aus­sagen der Tochter ihrer guten Freundin Elena Il‘zen-Grin zufolge auch in hohem Alter noch, ist im Kau­kasus und in Mit­tel­asien unter­wegs. Ob sie über diese Reisen noch geschrieben hat, ist ebenso unsi­cher, wie die Frage, wie viel Unent­decktes, Ver­schol­lenes oder Ver­nich­tetes trotz der akri­bi­schen Recher­chen Beys noch nicht ans Licht gekommen ist. Ihr ist es jedoch zu ver­danken, dass mitt­ler­weile ein – wenn auch schmales – Oeuvre Rohrs in gedruckter Form vor­liegt, und somit das lite­ra­ri­sche Zeugnis einer beein­dru­ckenden Person, die stets ver­suchte, in ihren Texten eine Ver­bin­dung zur Wirk­lich­keit her­zu­stellen – um mit ihr umzu­gehen, um zu ver­stehen, was ‚das Mensch­liche‘ aus­macht, aber auch, um einen Bei­trag zur Doku­men­ta­tion von Ver­än­de­rung, von den Grau­sam­keiten der Sta­lin­herr­schaft, aber auch von Schönem zu leisten. Und auch, wenn sie manchmal ‚der alten Zeit ange­hö­rend‘ ‚ver­al­teten Wahr­heiten‘ dienen mögen – bei­spiels­weise dort, wo ihre anfäng­liche Begeis­te­rung für alles Sowje­ti­sche noch nicht dem kri­ti­schen Blick ihrer spä­teren Texte gewi­chen ist –, so beein­druckt doch vor allem ihre Aktua­lität in Pas­sagen wie diesen über die sowje­ti­sche Hauptstadt:

„Eine Mos­kauer Straße ist nicht mit einem raschen Blick zu über­sehen, sie ist viel­ge­staltig, zu ver­schie­denen Zeiten erbaut, mit nied­rigen, weit­läu­figen Häu­sern bestanden (wie viel gutes Empire ist doch hier vor­handen), die nur allzu oft von modernen hohen Bauten ver­nichtet werden. Dies natür­lich nicht bloß in dem Sinne, daß sie diesen wei­chen müssen, viel deut­li­cher ist es noch, wenn sie neben ihnen bestehen bleiben. Man kann sich dann des Ein­drucks nicht erwehren, als hätte ein unge­heurer Fuß diese alten Häuser breit und flach getreten.“

 

Lite­ratur:

Marte, Hans: Die Grenz­gän­gerin. Das außer­ge­wöhn­liche Schicksal der öster­rei­chi­schen Ärztin Dr. Angela Rohr. In: Der Grenz­gänger. Fest­schrift für Hans Marte. Hg. von Erhard Busek. Klagenfurt/Wien/Lubljana/Sarajewo 2000, S. 143–153.
Rilke, Rainer Maria: Briefe an Nanny Wun­derly-Vol­kart, Bd. 1. Besorgt durch Rätus Luck. Frank­furt a. M. 1977.
Rohr, Angela: Der Vogel. Gesam­melte Erzäh­lungen und Repor­tagen. Hg. und mit einem Nach­wort von Gesine Bey. Berlin 2013.
Rohr, Angela: Lager. Hg. und mit einem Nach­wort von Gesine Bey. Berlin 2015.
Rohr, Angela: Zehn Frauen am Amur. Feuil­le­tons für die ‚Frank­furter Zei­tung‘ aus der Sowjet­union (1929–1936). Hg. und mit einem Nach­wort von Gesine Bey. Berlin 2018.

 

Wei­ter­füh­rende Links

Vogel, Sonja: „‚Sta­lin­suppe!‘ riefen sie begeis­tert“. Mos­kauer Deut­sche Zei­tung, 29.04.2016.