Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

…wäre Andrić noch am Leben, würde ich keine Tagung über ihn finan­zieren lassen…

Inter­view mit Salmir Kaplan, Kul­tur­mi­nister der Föde­ra­tion Bos­nien-Her­ze­go­wina, Sarajevo

novinki: Wel­chen Platz nimmt Ivo Andrić in der Kultur Bos­nien-Her­ze­go­winas ein?

Salmir Kaplan: In Bos­nien-Her­ze­go­wina haben die Men­schen unter­schied­liche Ansichten in Bezug auf Ivo Andrić, so wie andern­orts auf dem Gebiet des ehe­ma­ligen Jugo­sla­wiens auch. Es gibt Men­schen, die ihn unter­stützen, es gibt Men­schen, die gegen ihn sind, und es gibt welche, die sich in einem Zwie­spalt befinden. Wir als Minis­te­rium finan­zieren eine inter­na­tio­nale wis­sen­schaft­liche Tagung in Sara­jevo anläss­lich des 50. Jah­res­tags seines Nobel­preises. Das zeigt ja eine posi­tive Ein­stel­lung zu Ivo Andrić. Den künst­le­ri­schen Wert der Werke von Ivo Andrić stellt in Bos­nien-Her­ze­go­wina prak­tisch nie­mand in Frage. Es gibt solche Kreise, die das ideo­lo­gi­sche Moment in seiner Lite­ratur betonen. Wir als Minis­te­rium haben uns ent­schieden, diese Tagung zu unter­stützen, um einen der größten Schrift­steller dieser Region nicht den­je­nigen zu über­lassen, die aus­schließ­lich ideo­lo­gi­sche Aspekte in ihm sehen.

n.: Werden Andrićs Bücher in den Schulen der Föde­ra­tion Bos­nien-Her­ze­go­wina gelesen?

S.K.: Ich bin kein Bil­dungs­mi­nister und weiß nicht genau, welche Autoren zur Pflicht­lek­türe gehören, aber ich erin­nere mich an meine Zeiten in der Sekun­dar­stufe und daran, dass ich im Ein­klang mit den Cur­ri­cula Ivo Andrić las. Das war 1998 oder 1999.

n.: Was für ein Bos­nien beschreibt Andrić? Wel­ches Bild zeichnet er von den Religionsgemeinschaften?

S.K.: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es mir nicht gefällt, wenn man Andrić extrem positiv oder extrem negativ sieht. Mich per­sön­lich störte die Beschrei­bung der Bevöl­ke­rung von Bos­nien-Her­ze­go­wina in Andrićs Roman Wesire und Kon­suln (Trav­nička hro­nika) aus der Sicht des fran­zö­si­schen Bot­schaf­ters, der gerade dort ange­kommen ist. Auf zahl­losen Seiten werden die Bewohner von Bos­nien-Her­ze­go­wina – grob gespro­chen – als Bar­baren geschil­dert. Damit wir uns ver­stehen, ich möchte kein Uto­pist sein und erwarte nicht, dass ein Konsul Frank­reichs bei seiner Ankunft in Bos­nien-Her­ze­go­wina lauter gute Ein­drücke hat oder gar begeis­tert ist. Natür­lich wird er auch nega­tive Ein­drücke haben und natür­lich darf das ein lite­ra­ri­sches Werk abbilden und natür­lich darf man das alles nicht so tra­gisch nehmen. Aber ich glaube, dass die Schil­de­rung der Bewohner Bos­nien-Her­ze­go­winas in dieser Trav­niker Chronik zu den Teilen von Andrićs Werk gehört, in denen die Ideo­logie im Vor­der­grund steht, wo die künst­le­ri­schen Beschrei­bungen die Grenze zwi­schen Kunst und Ideo­logie über­schreiten, also das Feld der Ideo­logie betreten. Wenn man Andrić in Bos­nien-Her­ze­go­wina kri­ti­siert, dann bezieht man sich in der Regel auf den Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) und die berüch­tigte Pfäh­lung. Damit wir uns richtig ver­stehen, die Hand­lung spielt im Mit­tel­alter, es geht nicht um ein his­to­rio­gra­phi­sches Werk, son­dern um einen Roman, der sich mit Geschichte befasst. Die Phan­tasie des Autors spielt mit. Das kann man nicht wie einen wis­sen­schaft­li­chen Artikel über Pfäh­lungen ver­stehen. Die Sach­lage ist die, dass der Staat eine Brücke baut, und da kommt jemand, der den Staat sabo­tiert und die Brücke zer­stört. Das Natür­lichste und Nor­malste ist es, dass er bestraft wird, daraus soll man kein Drama machen. Nun ja, da es sich um das Mit­tel­alter han­delt, wurde er auf unan­ge­mes­sene Weise bestraft, auf eine Weise, die uns in der modernen Welt erschau­dern lässt. Und ob das Ganze über­haupt pas­siert ist, das bleibt offen. Man ver­gisst oft, dass es um einen Roman geht und der Schrift­steller die Frei­heit hat, seine Phan­ta­sien aus­zu­leben. Gleich­wohl ist es wegen dieses Romans und ins­be­son­dere dieses Bei­spiels zu vielen Kon­flikten gekommen.

n.: Wenn Sie sagen, dass Ihnen die Dar­stel­lung der Bewohner von Bos­nien-Her­ze­go­wina nicht gefällt, meinen Sie damit die mus­li­mi­schen Bewohner oder alle Bewohner ohne Rück­sicht auf die Reli­gion oder die osma­ni­schen Herrscher?

S.K.: Ich meine vor allem die ein­hei­mi­schen Bewohner. Soweit ich mich erin­nern kann, liegt der Schwer­punkt auf der mus­li­mi­schen, d.h. bos­nia­ki­schen ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung, die pri­mi­tive Gewohn­heiten und keine Manieren hat und sich unzi­vi­li­siert ver­hält. Natür­lich bin ich mir dessen bewusst, dass die Men­schen damals nicht die Ent­wick­lungs­stufe der modernen Men­schen erreicht hatten, aber sicher kann ich – auch als jemand, der die osma­ni­sche Geschichte in Istanbul stu­dierte – nicht akzep­tieren, dass die Ein­wohner Bos­nien-Her­ze­go­winas der­maßen unter­ent­wi­ckelt gewesen wären.

n.: Erst in jüngster Zeit sind im Westen Arbeiten erschienen, welche die Rolle des Osma­ni­schen Rei­ches auf dem Balkan neu bewerten und auch posi­tive Momente her­aus­ar­beiten. In Jugo­sla­wien herrschte ein Schwarz-Weiß-Bild vom Osma­ni­schen Reich, in dem die ein­hei­mi­schen Men­schen aus­schließ­lich als Opfer und die Osmanen als Unter­drü­cker auf­tauchten. Stand Andrić unter dem Ein­fluss dieses Bildes?

S.K.: Ich würde nicht sagen, dass Andrić zu denen gehörte, die unter dem Ein­fluss dieses Bildes standen, viel­mehr zählt er zu denen, die dieses Bild pro­du­zierten, die also den breiten Massen ein ver­fälschtes Bild des Osma­ni­schen Rei­ches ver­mit­telten. Ich bin kein Idea­list, ich möchte nichts idea­li­sieren, auch das Osma­ni­sche Reich nicht, aber sicher bot dieser Staat eine für dama­lige Zeit bemer­kens­werte Stufe der Tole­ranz und Demo­kratie – ins­be­son­dere für die Ange­hö­rigen anderer Reli­gionen. Eines der Pri­vi­le­gien bestand darin, dass die nicht-mus­li­mi­schen Bewohner im Osma­ni­schen Reich nicht an Kriegen teil­nehmen mussten. Meiner Ansicht nach kon­zi­pierte Andrić diese nega­tive Ideo­logie. Wenn er heute noch lebte, würde ich als Minister nie­mals der Finan­zie­rung einer wis­sen­schaft­li­chen Tagung über ihn zustimmen. Aber da es um eine Per­sön­lich­keit geht, die seit langem nicht mehr unter den Lebenden weilt, und um ein lite­ra­ri­sches Werk, auf das wir keinen Ein­fluss mehr nehmen können, möchte ich der Posi­tion so nahe wie mög­lich kommen, aus der Andrić positiv erscheint. Das Werk ist abge­schlossen, was gesagt worden ist, ist gesagt worden, jetzt hängt es von uns ab, wie wir seine Texte inter­pre­tieren wollen, positiv oder negativ. Ich gehöre zu denen, die sagen: Lasst uns das Maximum an Posi­tivem aus ihm her­aus­ziehen. Lasst uns sagen: Ja, das ist unser Schrift­steller, geboren in Travnik, ein bos­nisch-her­ze­go­wi­ni­scher Schrift­steller, über­lassen wir ihn nicht den­je­nigen, die ihn wei­terhin für ideo­lo­gi­sche Zwecke aus­nutzen wollen.

n.: Wen meinen Sie damit?

S.K.: Ich meine Herrn Kus­tu­rica. Die Regie­rung der Repu­blika Srpska stellt in einer großen wirt­schaft­li­chen Krise – in einer Zeit rie­siger Defi­zite im Staats­haus­halt, in einer Zeit, wo die nied­rigste Rente 160 Kon­ver­tible Mark beträgt – Mil­lionen für den Bau irgend­einer „Stein­stadt“ zur Ver­fü­gung, die ganz sicher nicht die Ver­söh­nung der Men­schen in Bos­nien-Her­ze­go­wina för­dern wird.

n.: Warum wird sie die Ver­söh­nung nicht fördern?

S.K.: Herr Kus­tu­rica ist in einer tra­di­tio­nell isla­mi­schen Familie geboren, er ist ein aner­kannter Name in der Film­welt und es ist bekannt, auf welche Seite er sich im Krieg geschlagen hat. Bestimmt baut er die „Stein­stadt“ nicht, um das lite­ra­ri­sche Œuvre von Ivo Andrić zu för­dern, son­dern um seine ideo­lo­gi­sche Zuge­hö­rig­keit her­aus­zu­strei­chen. Er möchte ihn also aus dem Bereich des Lite­ra­ri­schen in die Sphäre des Ideo­lo­gi­schen versetzen.

n.: Um welche Ideo­logie han­delt es sich? Wie sieht Kus­tu­rica Ihrer Mei­nung nach Andrić?

S.K.: Bereits durch die Ände­rung seines Namens und den Wechsel der Reli­gion sowie der Nation, in die er hin­ein­ge­boren wurde, schickte Kus­tu­rica eine bestimmte Bot­schaft an Bos­nien-Her­ze­go­wina und seine Hei­mat­stadt Sara­jevo. Es han­delt sich hierbei um sein demo­kra­ti­sches Recht, nie­mand kann ihm dieses Recht bestreiten. Anders sieht es aus mit seiner Par­tei­nahme im Krieg für die­je­nigen, die vier Jahre lang Sara­jevo bom­bar­dierten. Das sagt etwas über ihn und seine ideo­lo­gi­schen Prä­fe­renzen aus. Die „Stein­stadt“ wird ein wei­terer Aus­druck dieser ideo­lo­gi­schen Prä­fe­renzen werden. Ich habe hier keine Aus­sagen von Herrn Kus­tu­rica parat, um der deut­schen Öffent­lich­keit mit Zitaten illus­trieren zu können, um was für eine Person es sich han­delt, doch es reicht, glaube ich, zu sagen, dass Herr Kus­tu­rica die Rolle von Slo­bodan Milošević im ver­gan­genen Krieg positiv sah. Die Fehler sucht er bei den Men­schen, die vier Jahre lang im bela­gerten Sara­jevo dem Gra­na­ten­be­schuss aus­ge­setzt waren und an Hunger litten, anstatt bei denen, die die Gra­naten abfeu­erten. Mir wäre es lieber, Herrn Kus­tu­rica beim Fil­me­ma­chen zu sehen. Soweit mir bekannt ist, hat er in den ver­gan­genen fünf bis sechs Jahren keinen Film gedreht. Wahr­schein­lich sucht er einen Ausweg aus seiner Schaf­fens­krise in der Ideo­logie und in der Bau­tä­tig­keit, denn wir wissen, dass die „Stein­stadt“ von seiner eigenen Firma gebaut wird. Da geht es um Geld­wä­sche in Rein­form sowie um ein bil­liges Pro­jekt für die Massen, das – ich kann es im Moment nicht beweisen, aber die Zeit wird es zeigen – die Men­schen in die Stim­mung der 1990er Jahre ver­setzen möchte, anstatt zu helfen, dass die 1990er Jahre langsam in Ver­ges­sen­heit geraten.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.

Über­set­zung von Kse­nija Cvetković-Sander