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…wäre Andrić noch am Leben, würde ich keine Tagung über ihn finanzieren lassen…

Posted on 30. Januar 2013 by novinki

Interview mit Salmir Kaplan, Kulturminister der Föderation Bosnien-Herzegowina, Sarajevo

novinki: Welchen Platz nimmt Ivo Andrić in der Kultur Bosnien-Herzegowinas ein?

Salmir Kaplan: In Bosnien-Herzegowina haben die Menschen unterschiedliche Ansichten in Bezug auf Ivo Andrić, so wie andernorts auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens auch. Es gibt Menschen, die ihn unterstützen, es gibt Menschen, die gegen ihn sind, und es gibt welche, die sich in einem Zwiespalt befinden. Wir als Ministerium finanzieren eine internationale wissenschaftliche Tagung in Sarajevo anlässlich des 50. Jahrestags seines Nobelpreises. Das zeigt ja eine positive Einstellung zu Ivo Andrić. Den künstlerischen Wert der Werke von Ivo Andrić stellt in Bosnien-Herzegowina praktisch niemand in Frage. Es gibt solche Kreise, die das ideologische Moment in seiner Literatur betonen. Wir als Ministerium haben uns entschieden, diese Tagung zu unterstützen, um einen der größten Schriftsteller dieser Region nicht denjenigen zu überlassen, die ausschließlich ideologische Aspekte in ihm sehen.

n.: Werden Andrićs Bücher in den Schulen der Föderation Bosnien-Herzegowina gelesen?

S.K.: Ich bin kein Bildungsminister und weiß nicht genau, welche Autoren zur Pflichtlektüre gehören, aber ich erinnere mich an meine Zeiten in der Sekundarstufe und daran, dass ich im Einklang mit den Curricula Ivo Andrić las. Das war 1998 oder 1999.

n.: Was für ein Bosnien beschreibt Andrić? Welches Bild zeichnet er von den Religionsgemeinschaften?

S.K.: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es mir nicht gefällt, wenn man Andrić extrem positiv oder extrem negativ sieht. Mich persönlich störte die Beschreibung der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina in Andrićs Roman Wesire und Konsuln (Travnička hronika) aus der Sicht des französischen Botschafters, der gerade dort angekommen ist. Auf zahllosen Seiten werden die Bewohner von Bosnien-Herzegowina – grob gesprochen – als Barbaren geschildert. Damit wir uns verstehen, ich möchte kein Utopist sein und erwarte nicht, dass ein Konsul Frankreichs bei seiner Ankunft in Bosnien-Herzegowina lauter gute Eindrücke hat oder gar begeistert ist. Natürlich wird er auch negative Eindrücke haben und natürlich darf das ein literarisches Werk abbilden und natürlich darf man das alles nicht so tragisch nehmen. Aber ich glaube, dass die Schilderung der Bewohner Bosnien-Herzegowinas in dieser Travniker Chronik zu den Teilen von Andrićs Werk gehört, in denen die Ideologie im Vordergrund steht, wo die künstlerischen Beschreibungen die Grenze zwischen Kunst und Ideologie überschreiten, also das Feld der Ideologie betreten. Wenn man Andrić in Bosnien-Herzegowina kritisiert, dann bezieht man sich in der Regel auf den Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) und die berüchtigte Pfählung. Damit wir uns richtig verstehen, die Handlung spielt im Mittelalter, es geht nicht um ein historiographisches Werk, sondern um einen Roman, der sich mit Geschichte befasst. Die Phantasie des Autors spielt mit. Das kann man nicht wie einen wissenschaftlichen Artikel über Pfählungen verstehen. Die Sachlage ist die, dass der Staat eine Brücke baut, und da kommt jemand, der den Staat sabotiert und die Brücke zerstört. Das Natürlichste und Normalste ist es, dass er bestraft wird, daraus soll man kein Drama machen. Nun ja, da es sich um das Mittelalter handelt, wurde er auf unangemessene Weise bestraft, auf eine Weise, die uns in der modernen Welt erschaudern lässt. Und ob das Ganze überhaupt passiert ist, das bleibt offen. Man vergisst oft, dass es um einen Roman geht und der Schriftsteller die Freiheit hat, seine Phantasien auszuleben. Gleichwohl ist es wegen dieses Romans und insbesondere dieses Beispiels zu vielen Konflikten gekommen.

n.: Wenn Sie sagen, dass Ihnen die Darstellung der Bewohner von Bosnien-Herzegowina nicht gefällt, meinen Sie damit die muslimischen Bewohner oder alle Bewohner ohne Rücksicht auf die Religion oder die osmanischen Herrscher?

S.K.: Ich meine vor allem die einheimischen Bewohner. Soweit ich mich erinnern kann, liegt der Schwerpunkt auf der muslimischen, d.h. bosniakischen einheimischen Bevölkerung, die primitive Gewohnheiten und keine Manieren hat und sich unzivilisiert verhält. Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass die Menschen damals nicht die Entwicklungsstufe der modernen Menschen erreicht hatten, aber sicher kann ich – auch als jemand, der die osmanische Geschichte in Istanbul studierte – nicht akzeptieren, dass die Einwohner Bosnien-Herzegowinas dermaßen unterentwickelt gewesen wären.

n.: Erst in jüngster Zeit sind im Westen Arbeiten erschienen, welche die Rolle des Osmanischen Reiches auf dem Balkan neu bewerten und auch positive Momente herausarbeiten. In Jugoslawien herrschte ein Schwarz-Weiß-Bild vom Osmanischen Reich, in dem die einheimischen Menschen ausschließlich als Opfer und die Osmanen als Unterdrücker auftauchten. Stand Andrić unter dem Einfluss dieses Bildes?

S.K.: Ich würde nicht sagen, dass Andrić zu denen gehörte, die unter dem Einfluss dieses Bildes standen, vielmehr zählt er zu denen, die dieses Bild produzierten, die also den breiten Massen ein verfälschtes Bild des Osmanischen Reiches vermittelten. Ich bin kein Idealist, ich möchte nichts idealisieren, auch das Osmanische Reich nicht, aber sicher bot dieser Staat eine für damalige Zeit bemerkenswerte Stufe der Toleranz und Demokratie – insbesondere für die Angehörigen anderer Religionen. Eines der Privilegien bestand darin, dass die nicht-muslimischen Bewohner im Osmanischen Reich nicht an Kriegen teilnehmen mussten. Meiner Ansicht nach konzipierte Andrić diese negative Ideologie. Wenn er heute noch lebte, würde ich als Minister niemals der Finanzierung einer wissenschaftlichen Tagung über ihn zustimmen. Aber da es um eine Persönlichkeit geht, die seit langem nicht mehr unter den Lebenden weilt, und um ein literarisches Werk, auf das wir keinen Einfluss mehr nehmen können, möchte ich der Position so nahe wie möglich kommen, aus der Andrić positiv erscheint. Das Werk ist abgeschlossen, was gesagt worden ist, ist gesagt worden, jetzt hängt es von uns ab, wie wir seine Texte interpretieren wollen, positiv oder negativ. Ich gehöre zu denen, die sagen: Lasst uns das Maximum an Positivem aus ihm herausziehen. Lasst uns sagen: Ja, das ist unser Schriftsteller, geboren in Travnik, ein bosnisch-herzegowinischer Schriftsteller, überlassen wir ihn nicht denjenigen, die ihn weiterhin für ideologische Zwecke ausnutzen wollen.

n.: Wen meinen Sie damit?

S.K.: Ich meine Herrn Kusturica. Die Regierung der Republika Srpska stellt in einer großen wirtschaftlichen Krise – in einer Zeit riesiger Defizite im Staatshaushalt, in einer Zeit, wo die niedrigste Rente 160 Konvertible Mark beträgt – Millionen für den Bau irgendeiner „Steinstadt“ zur Verfügung, die ganz sicher nicht die Versöhnung der Menschen in Bosnien-Herzegowina fördern wird.

n.: Warum wird sie die Versöhnung nicht fördern?

S.K.: Herr Kusturica ist in einer traditionell islamischen Familie geboren, er ist ein anerkannter Name in der Filmwelt und es ist bekannt, auf welche Seite er sich im Krieg geschlagen hat. Bestimmt baut er die „Steinstadt“ nicht, um das literarische Œuvre von Ivo Andrić zu fördern, sondern um seine ideologische Zugehörigkeit herauszustreichen. Er möchte ihn also aus dem Bereich des Literarischen in die Sphäre des Ideologischen versetzen.

n.: Um welche Ideologie handelt es sich? Wie sieht Kusturica Ihrer Meinung nach Andrić?

S.K.: Bereits durch die Änderung seines Namens und den Wechsel der Religion sowie der Nation, in die er hineingeboren wurde, schickte Kusturica eine bestimmte Botschaft an Bosnien-Herzegowina und seine Heimatstadt Sarajevo. Es handelt sich hierbei um sein demokratisches Recht, niemand kann ihm dieses Recht bestreiten. Anders sieht es aus mit seiner Parteinahme im Krieg für diejenigen, die vier Jahre lang Sarajevo bombardierten. Das sagt etwas über ihn und seine ideologischen Präferenzen aus. Die „Steinstadt“ wird ein weiterer Ausdruck dieser ideologischen Präferenzen werden. Ich habe hier keine Aussagen von Herrn Kusturica parat, um der deutschen Öffentlichkeit mit Zitaten illustrieren zu können, um was für eine Person es sich handelt, doch es reicht, glaube ich, zu sagen, dass Herr Kusturica die Rolle von Slobodan Milošević im vergangenen Krieg positiv sah. Die Fehler sucht er bei den Menschen, die vier Jahre lang im belagerten Sarajevo dem Granatenbeschuss ausgesetzt waren und an Hunger litten, anstatt bei denen, die die Granaten abfeuerten. Mir wäre es lieber, Herrn Kusturica beim Filmemachen zu sehen. Soweit mir bekannt ist, hat er in den vergangenen fünf bis sechs Jahren keinen Film gedreht. Wahrscheinlich sucht er einen Ausweg aus seiner Schaffenskrise in der Ideologie und in der Bautätigkeit, denn wir wissen, dass die „Steinstadt“ von seiner eigenen Firma gebaut wird. Da geht es um Geldwäsche in Reinform sowie um ein billiges Projekt für die Massen, das – ich kann es im Moment nicht beweisen, aber die Zeit wird es zeigen – die Menschen in die Stimmung der 1990er Jahre versetzen möchte, anstatt zu helfen, dass die 1990er Jahre langsam in Vergessenheit geraten.

Das Interview führten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander.

Übersetzung von Ksenija Cvetković-Sander

…wäre Andrić noch am Leben, würde ich keine Tagung über ihn finanzieren lassen… - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

…wäre Andrić noch am Leben, würde ich keine Tagung über ihn finan­zieren lassen…

Inter­view mit Salmir Kaplan, Kul­tur­mi­nister der Föde­ra­tion Bos­nien-Her­ze­go­wina, Sarajevo

novinki: Wel­chen Platz nimmt Ivo Andrić in der Kultur Bos­nien-Her­ze­go­winas ein?

Salmir Kaplan: In Bos­nien-Her­ze­go­wina haben die Men­schen unter­schied­liche Ansichten in Bezug auf Ivo Andrić, so wie andern­orts auf dem Gebiet des ehe­ma­ligen Jugo­sla­wiens auch. Es gibt Men­schen, die ihn unter­stützen, es gibt Men­schen, die gegen ihn sind, und es gibt welche, die sich in einem Zwie­spalt befinden. Wir als Minis­te­rium finan­zieren eine inter­na­tio­nale wis­sen­schaft­liche Tagung in Sara­jevo anläss­lich des 50. Jah­res­tags seines Nobel­preises. Das zeigt ja eine posi­tive Ein­stel­lung zu Ivo Andrić. Den künst­le­ri­schen Wert der Werke von Ivo Andrić stellt in Bos­nien-Her­ze­go­wina prak­tisch nie­mand in Frage. Es gibt solche Kreise, die das ideo­lo­gi­sche Moment in seiner Lite­ratur betonen. Wir als Minis­te­rium haben uns ent­schieden, diese Tagung zu unter­stützen, um einen der größten Schrift­steller dieser Region nicht den­je­nigen zu über­lassen, die aus­schließ­lich ideo­lo­gi­sche Aspekte in ihm sehen.

n.: Werden Andrićs Bücher in den Schulen der Föde­ra­tion Bos­nien-Her­ze­go­wina gelesen?

S.K.: Ich bin kein Bil­dungs­mi­nister und weiß nicht genau, welche Autoren zur Pflicht­lek­türe gehören, aber ich erin­nere mich an meine Zeiten in der Sekun­dar­stufe und daran, dass ich im Ein­klang mit den Cur­ri­cula Ivo Andrić las. Das war 1998 oder 1999.

n.: Was für ein Bos­nien beschreibt Andrić? Wel­ches Bild zeichnet er von den Religionsgemeinschaften?

S.K.: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es mir nicht gefällt, wenn man Andrić extrem positiv oder extrem negativ sieht. Mich per­sön­lich störte die Beschrei­bung der Bevöl­ke­rung von Bos­nien-Her­ze­go­wina in Andrićs Roman Wesire und Kon­suln (Trav­nička hro­nika) aus der Sicht des fran­zö­si­schen Bot­schaf­ters, der gerade dort ange­kommen ist. Auf zahl­losen Seiten werden die Bewohner von Bos­nien-Her­ze­go­wina – grob gespro­chen – als Bar­baren geschil­dert. Damit wir uns ver­stehen, ich möchte kein Uto­pist sein und erwarte nicht, dass ein Konsul Frank­reichs bei seiner Ankunft in Bos­nien-Her­ze­go­wina lauter gute Ein­drücke hat oder gar begeis­tert ist. Natür­lich wird er auch nega­tive Ein­drücke haben und natür­lich darf das ein lite­ra­ri­sches Werk abbilden und natür­lich darf man das alles nicht so tra­gisch nehmen. Aber ich glaube, dass die Schil­de­rung der Bewohner Bos­nien-Her­ze­go­winas in dieser Trav­niker Chronik zu den Teilen von Andrićs Werk gehört, in denen die Ideo­logie im Vor­der­grund steht, wo die künst­le­ri­schen Beschrei­bungen die Grenze zwi­schen Kunst und Ideo­logie über­schreiten, also das Feld der Ideo­logie betreten. Wenn man Andrić in Bos­nien-Her­ze­go­wina kri­ti­siert, dann bezieht man sich in der Regel auf den Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) und die berüch­tigte Pfäh­lung. Damit wir uns richtig ver­stehen, die Hand­lung spielt im Mit­tel­alter, es geht nicht um ein his­to­rio­gra­phi­sches Werk, son­dern um einen Roman, der sich mit Geschichte befasst. Die Phan­tasie des Autors spielt mit. Das kann man nicht wie einen wis­sen­schaft­li­chen Artikel über Pfäh­lungen ver­stehen. Die Sach­lage ist die, dass der Staat eine Brücke baut, und da kommt jemand, der den Staat sabo­tiert und die Brücke zer­stört. Das Natür­lichste und Nor­malste ist es, dass er bestraft wird, daraus soll man kein Drama machen. Nun ja, da es sich um das Mit­tel­alter han­delt, wurde er auf unan­ge­mes­sene Weise bestraft, auf eine Weise, die uns in der modernen Welt erschau­dern lässt. Und ob das Ganze über­haupt pas­siert ist, das bleibt offen. Man ver­gisst oft, dass es um einen Roman geht und der Schrift­steller die Frei­heit hat, seine Phan­ta­sien aus­zu­leben. Gleich­wohl ist es wegen dieses Romans und ins­be­son­dere dieses Bei­spiels zu vielen Kon­flikten gekommen.

n.: Wenn Sie sagen, dass Ihnen die Dar­stel­lung der Bewohner von Bos­nien-Her­ze­go­wina nicht gefällt, meinen Sie damit die mus­li­mi­schen Bewohner oder alle Bewohner ohne Rück­sicht auf die Reli­gion oder die osma­ni­schen Herrscher?

S.K.: Ich meine vor allem die ein­hei­mi­schen Bewohner. Soweit ich mich erin­nern kann, liegt der Schwer­punkt auf der mus­li­mi­schen, d.h. bos­nia­ki­schen ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung, die pri­mi­tive Gewohn­heiten und keine Manieren hat und sich unzi­vi­li­siert ver­hält. Natür­lich bin ich mir dessen bewusst, dass die Men­schen damals nicht die Ent­wick­lungs­stufe der modernen Men­schen erreicht hatten, aber sicher kann ich – auch als jemand, der die osma­ni­sche Geschichte in Istanbul stu­dierte – nicht akzep­tieren, dass die Ein­wohner Bos­nien-Her­ze­go­winas der­maßen unter­ent­wi­ckelt gewesen wären.

n.: Erst in jüngster Zeit sind im Westen Arbeiten erschienen, welche die Rolle des Osma­ni­schen Rei­ches auf dem Balkan neu bewerten und auch posi­tive Momente her­aus­ar­beiten. In Jugo­sla­wien herrschte ein Schwarz-Weiß-Bild vom Osma­ni­schen Reich, in dem die ein­hei­mi­schen Men­schen aus­schließ­lich als Opfer und die Osmanen als Unter­drü­cker auf­tauchten. Stand Andrić unter dem Ein­fluss dieses Bildes?

S.K.: Ich würde nicht sagen, dass Andrić zu denen gehörte, die unter dem Ein­fluss dieses Bildes standen, viel­mehr zählt er zu denen, die dieses Bild pro­du­zierten, die also den breiten Massen ein ver­fälschtes Bild des Osma­ni­schen Rei­ches ver­mit­telten. Ich bin kein Idea­list, ich möchte nichts idea­li­sieren, auch das Osma­ni­sche Reich nicht, aber sicher bot dieser Staat eine für dama­lige Zeit bemer­kens­werte Stufe der Tole­ranz und Demo­kratie – ins­be­son­dere für die Ange­hö­rigen anderer Reli­gionen. Eines der Pri­vi­le­gien bestand darin, dass die nicht-mus­li­mi­schen Bewohner im Osma­ni­schen Reich nicht an Kriegen teil­nehmen mussten. Meiner Ansicht nach kon­zi­pierte Andrić diese nega­tive Ideo­logie. Wenn er heute noch lebte, würde ich als Minister nie­mals der Finan­zie­rung einer wis­sen­schaft­li­chen Tagung über ihn zustimmen. Aber da es um eine Per­sön­lich­keit geht, die seit langem nicht mehr unter den Lebenden weilt, und um ein lite­ra­ri­sches Werk, auf das wir keinen Ein­fluss mehr nehmen können, möchte ich der Posi­tion so nahe wie mög­lich kommen, aus der Andrić positiv erscheint. Das Werk ist abge­schlossen, was gesagt worden ist, ist gesagt worden, jetzt hängt es von uns ab, wie wir seine Texte inter­pre­tieren wollen, positiv oder negativ. Ich gehöre zu denen, die sagen: Lasst uns das Maximum an Posi­tivem aus ihm her­aus­ziehen. Lasst uns sagen: Ja, das ist unser Schrift­steller, geboren in Travnik, ein bos­nisch-her­ze­go­wi­ni­scher Schrift­steller, über­lassen wir ihn nicht den­je­nigen, die ihn wei­terhin für ideo­lo­gi­sche Zwecke aus­nutzen wollen.

n.: Wen meinen Sie damit?

S.K.: Ich meine Herrn Kus­tu­rica. Die Regie­rung der Repu­blika Srpska stellt in einer großen wirt­schaft­li­chen Krise – in einer Zeit rie­siger Defi­zite im Staats­haus­halt, in einer Zeit, wo die nied­rigste Rente 160 Kon­ver­tible Mark beträgt – Mil­lionen für den Bau irgend­einer „Stein­stadt“ zur Ver­fü­gung, die ganz sicher nicht die Ver­söh­nung der Men­schen in Bos­nien-Her­ze­go­wina för­dern wird.

n.: Warum wird sie die Ver­söh­nung nicht fördern?

S.K.: Herr Kus­tu­rica ist in einer tra­di­tio­nell isla­mi­schen Familie geboren, er ist ein aner­kannter Name in der Film­welt und es ist bekannt, auf welche Seite er sich im Krieg geschlagen hat. Bestimmt baut er die „Stein­stadt“ nicht, um das lite­ra­ri­sche Œuvre von Ivo Andrić zu för­dern, son­dern um seine ideo­lo­gi­sche Zuge­hö­rig­keit her­aus­zu­strei­chen. Er möchte ihn also aus dem Bereich des Lite­ra­ri­schen in die Sphäre des Ideo­lo­gi­schen versetzen.

n.: Um welche Ideo­logie han­delt es sich? Wie sieht Kus­tu­rica Ihrer Mei­nung nach Andrić?

S.K.: Bereits durch die Ände­rung seines Namens und den Wechsel der Reli­gion sowie der Nation, in die er hin­ein­ge­boren wurde, schickte Kus­tu­rica eine bestimmte Bot­schaft an Bos­nien-Her­ze­go­wina und seine Hei­mat­stadt Sara­jevo. Es han­delt sich hierbei um sein demo­kra­ti­sches Recht, nie­mand kann ihm dieses Recht bestreiten. Anders sieht es aus mit seiner Par­tei­nahme im Krieg für die­je­nigen, die vier Jahre lang Sara­jevo bom­bar­dierten. Das sagt etwas über ihn und seine ideo­lo­gi­schen Prä­fe­renzen aus. Die „Stein­stadt“ wird ein wei­terer Aus­druck dieser ideo­lo­gi­schen Prä­fe­renzen werden. Ich habe hier keine Aus­sagen von Herrn Kus­tu­rica parat, um der deut­schen Öffent­lich­keit mit Zitaten illus­trieren zu können, um was für eine Person es sich han­delt, doch es reicht, glaube ich, zu sagen, dass Herr Kus­tu­rica die Rolle von Slo­bodan Milošević im ver­gan­genen Krieg positiv sah. Die Fehler sucht er bei den Men­schen, die vier Jahre lang im bela­gerten Sara­jevo dem Gra­na­ten­be­schuss aus­ge­setzt waren und an Hunger litten, anstatt bei denen, die die Gra­naten abfeu­erten. Mir wäre es lieber, Herrn Kus­tu­rica beim Fil­me­ma­chen zu sehen. Soweit mir bekannt ist, hat er in den ver­gan­genen fünf bis sechs Jahren keinen Film gedreht. Wahr­schein­lich sucht er einen Ausweg aus seiner Schaf­fens­krise in der Ideo­logie und in der Bau­tä­tig­keit, denn wir wissen, dass die „Stein­stadt“ von seiner eigenen Firma gebaut wird. Da geht es um Geld­wä­sche in Rein­form sowie um ein bil­liges Pro­jekt für die Massen, das – ich kann es im Moment nicht beweisen, aber die Zeit wird es zeigen – die Men­schen in die Stim­mung der 1990er Jahre ver­setzen möchte, anstatt zu helfen, dass die 1990er Jahre langsam in Ver­ges­sen­heit geraten.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.

Über­set­zung von Kse­nija Cvetković-Sander