Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Zweites Miłosz-Fes­tival in Krakau

Żebym wreszcie powied­zieć mógł, co siedzi we mnie
Damit ich end­lich sagen kann, was sitzt in mir

 

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Schnell zur Hand ist die Vor­stel­lung von Krakau als einer Haupt­stadt für Poesie. Der stei­nere Mickie­wicz im Blitz­licht­ge­witter, stellt man sich vor, trifft sich hier mit dem Renais­sance­dichter Jan Kocha­nowski, den eine Skulptur in den Tuch­hallen zeigt. „Genau der rich­tige Ort“, dachten Wisława Szym­borska und Czesław Miłosz und besorgten hier 1997 und 2000 die Kra­kauer Dich­ter­treffen. Auch 2011 hält man Krakau noch für die geeig­nete Kulisse eines Poe­sie­fes­ti­vals. Es soll dem Miłosz-Jahr seinen Höhe­punkt geben. Als Thema wählte der Fes­ti­val­di­rektor Jerzy Illg den Buch­titel Rod­zinna Europa (1998, Deutsch als West und Öst­li­ches Gelände erschienen): Es könne kein Zufall sein, dass gleich auf den Geburtstag der erste pol­ni­sche Rats­vor­sitz in der EU folgt. In Gazeta Wyborcza fragte Illg nach der Wört­lich­keit des Titels: „Es stellt sich die Frage: Ver­hält sich Europa auch in Zukunft wie eine Familie, wie werden Neu­an­kömm­linge, Immi­granten auf­ge­nommen?“ Ohne Migra­ti­ons­er­fah­rungen wäre Rod­zinna Europa nicht zu schreiben gewesen. Zu deut­lich arti­ku­liert es die Schmerz­haf­tig­keit von Grenzen, die oft unna­tür­lich bleiben und von denen wenig als das Staunen der Bewohner bleibt. Hat das etwas damit zu tun, wenn sich heute tune­si­sche Intel­lek­tu­elle beschweren, dass die EU mit ihren Grenz­erwei­te­rungen viel zu lange nach Osten geschielt habe?

 

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Fast 200 Autoren, Über­setzer und Wis­sen­schaftler waren für Lesungen, Kon­zerte, Dis­kus­sionen und aka­de­mi­sche Vor­träge geladen. Oft­mals war Miłosz eher der Ver­an­stal­tungs­an­lass als das Thema. In dem Panel Tumult der vielen Reli­gionen spricht die tür­ki­sche Sozio­login Nilüfer Göle über die psy­chi­schen Aus­wir­kungen von Migra­tion. Refle­xion und „relear­ning“ bewirken ein neues Selbst­ver­hältnis. Es ist bei­nahe ein glück­li­cher Zufall, wenn Göle einen Aspekt von Miłoszs Bezie­hung zur litau­isch-pol­ni­schen Heimat und der euro­päi­schen Kultur trifft. Ein glück­li­cher Zufall ist es denn auch, wenn Bei Dao in dem Panel Geburtsort Exil­ein­drücke teilt und erzählt, wie schwer es war, nach vier­zehn Jahren seine Straße in Bei­jing wie­der­zu­finden. Oder wenn Irena Grud­zińska-Gross den pol­ni­schen Emi­granten eigen­tüm­liche Kom­plexe unter­stellt, die sich aus der steten Unsi­cher­heit und einer „unfer­tigen Iden­tität“ ergeben. Was für Miłosz die Geburts­stätte Europas gewesen sei, wird sie von einem Stu­denten aus dem Publikum gefragt. „Nicht so sehr Grie­chen­land, wie das bei Zbi­gniew Her­bert der Fall war“, meint Grud­zińska-Gross. „Der Kern seines Europas war viel­mehr die latei­ni­sche Welt mit ihrem Zen­trum Rom. Sicher­lich auch das Chris­tentum.“ …worauf Egi­dijus Alek­san­dra­vičius’ Hand in die Höhe schnellt wie bei einem wil­ligen Schüler und er eilig hin­zu­fügt: „Und die Heiden in Litauen“.

 

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Oleh Lyšecha freut sich über die Neue Syn­agoge als Leseort. Fein klingt Adonis’ Stimme im Klang­raum von Św. Piotra i Pawła. In der Kirche Bożego Ciała stellt Müt­ter­chen Szym­borska ihre Hand­ta­sche auf das weiße Leder­sofa vor dem Altar. Zu den sakralen Ein­heiten gesellt sich im Mai der weiße Pavillon auf dem Plac Szc­ze­pański. Für Lesungen eine Schnaps­idee. Das Geräusch des Luft­ab­zugs ver­breitet eine Hüpf­burg­at­mo­sphäre. Luft gerät zwi­schen den Men­schen­massen ins Sto­cken und der Pavillon platzt aus allen Nähten – schließ­lich gibt es keinen Ein­tritt und Polen sind neu­gierig! Wer so ins Flu­chen kommt auf die Ver­an­stalter, sollte den­selben Ort abends besu­chen, hin­ein­schmö­kern in die Instal­la­tion Miłosz-Orte. Der Besu­cher wählt zwi­schen Gedichten und Pro­sa­stü­cken. Auf­nahmen der dazu­ge­hö­rigen Orte werden als 360°-Panorama auf eine Lein­wand geworfen. Die Bilder sind meist ver­pi­xelt, ein­zelne Manu­skript­seiten fliegen einher. Zu dem Gedicht Durch das Spie­gel­ka­bi­nett zeigt M. Łuc­zyński Video­ma­te­rial aus den kali­for­ni­schen Klippen. Keine Urlaubs­fotos. Die Natur in ihrer kan­tigen Unmensch­lich­keit. Die Kamera fährt in einen Nadel­wald mit rie­sigen Bäumen ein, um wieder beim unru­higen Meer zu landen.
Ein Mann mit Brille und Mantel wählt das Gedicht Saal: Die Brü­cken von Paris sind zu sehen, asia­ti­sche Tou­risten winken in die Kamera, Notre-Dame.

 

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“Freunde“ ist eines der Lieb­lings­worte Jerzy Illgs. Das Wort zer­geht ihm auf der Zunge. Und sal­bungs­voll erklärt er, dass es sich um eine Feier unter Freunden han­delt. Gleich­wohl betonte Illg (sal­bungs­voll) in Inter­views, dass man nur in Dis­kus­sion und Aus­ein­an­der­set­zung dem Dichter gerecht werden könne, nicht in Ver­eh­rung. Ein zweiter Seliger neben Johannes Paul im Monat seiner Bea­ti­fi­ka­tion, das wäre wohl schwer zu ver­dauen gewesen für Krakau. Wie alle Ver­an­stal­tungen war das Treffen Freunde erin­nern Czesław Miłosz von Fern­seh­teams bela­gert. Fünf Kameras jagen Adam Zaga­jew­skis Minen, der sich ein wenig beschwert und sich wei­gert auf­zu­stehen. Er spricht über Miłoszs Untaug­lich­keit zur Ikone. Seine Bio­gra­phie sei zu kom­plex, als dass es einen Miłosz gebe. „Es gab einen Rilke, einen Man­del­stam, nur in ihm ist diese wun­der­bare Viel­falt.“ Als die Freunde darum gebeten werden ein Gedicht vor­zu­stellen, ent­scheidet sich Zaga­jewski für Das*, vom fast Neun­zig­jäh­rigen geschrieben.

 

Damit ich end­lich sagen kann, was sitzt in mir.
Aus­rufen: Leute, ange­logen hab ich euch
Zu sagen, dass das in mir nicht ist,
Wäh­rend das dau­ernd da ist, im Tag und der Nacht.
Obgleich dem ver­dank ichs gerade
Dass ich konnt beschreiben eure leicht­ent­zünd­li­chen Städte,
Eure kurzen Lieben und Ver­gnügen, brö­ckeln sie wie Mulm,
Ohr­ringe, Spiegel, zart ver­rut­schender Träger,
Szenen in Schlaf­zim­mern, auf Schlachtfeldern.

Schreiben war für mich die Abwehrstrategie
des Ver­wi­schens von Spuren. Weil nicht gefallen kann den Leuten
der, wer greift nach Verbotenem.

2000

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Tomas Ven­clova erzählt von einem Gespräch mit Miłosz in Ber­keley. Sie waren irgendwie auf den Nobel­preis gekommen, als Ven­clova plötz­lich mit der Frage kon­fron­tiert wurde: „Was denkst du? Wel­cher der pol­ni­schen Autoren könnte den Nobel­preis erhalten?“ Ven­clova nannte Lem, der auf der ganzen Welt gelesen wird. Miłosz über­legte kurz und erwi­derte: „Im Grunde ist mir der Nobel­preis egal. Aber ehr­lich gesagt, wäre ich nicht beson­ders glück­lich, wenn ihn ein anderer Pole als ich bekäme.“
Jane Hir­sh­field erin­nert sich an die letzten Begeg­nungen. Sie sah den gefassten Miłosz beim Begräbnis seiner Frau Carol. Wie konnte er so ruhig sein? Erst später hatte sie etwas ver­standen: „Sein ganzes Leben war Ein­üben in Leiden gewesen.“ Aus­ge­wählt hat sie diese Geschichte, weil Miłosz am Ende einer von Robert Faggen aus­ge­rich­teten Kon­fe­renz bemerkte: „Ihr habt viel Kluges über mich gesagt. Aber eines habt ihr ver­gessen. Das Leiden.“

 

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„Mit pol­ni­scher Poesie gegen den Rest der Welt“, mit diesem Essay­titel wurde im Pro­gramm­heft der wis­sen­schaft­liche Part ange­kün­digt. Alek­sander Fiut leitet die Dis­kus­sion, Łukasz Tischer, für die Ein­hal­tung des Zeit­limit ver­ant­wort­lich, wippt nervös mit den Füßen. Miłosz, der Anti­mo­der­nist. So wird er vorgestellt. Denn wel­cher Dichter des zwan­zigsten Jahr­hun­derts glaubte sonst an die Ursünde? In Das Land Ulro liest er Blake und Swe­den­borg gegen, um schließ­lich hängen zu bleiben bei der Vor­stel­lung, dass die Men­schen von etwas geschwächt sind, wofür sie selbst nicht zu ver­ant­worten sind. Ähn­liche Gedanken ent­hält der Theo­lo­gi­sche Traktat, dessen Rhe­torik Mag­da­lena Lubelska unter­sucht. Gleich­falls liegt in der Poesie selbst eine Ursünde, für die sie nie­mals gänz­lich auf­kommen kann.
Und Miłosz war anti­sen­ti­mental, indem er es für naiv hielt, die Welten zu ver­mi­schen. Ein Gott soll zu Göt­tern spre­chen, ein Toter spricht zu Toten, der Dichter kann sich nur an Men­schen richten. Das ist weit mehr als tri­vial, wenn es um die Frage geht, wie den Krieg und das Ghetto beschreiben. Joanna Zach weist darauf hin, dass ein sol­cher Natu­ra­lismus vom Schmerz lebt und Scho­pen­hauers Gedanken gilt, dass ein Mensch gerade so viel Mensch ist, wie er Schmerzen in sich trägt.

 

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Für viele Neu­erschei­nungen zum Jubi­lä­ums­jahr kann man dankbar sein. Sicher­lich für die Biblio­grafie von Agnieszka Kosińska, für Andrzej Fra­nas­zeks Bio­gra­phie, zehn Jahre saß er an ihr, für einen Band mit Gesprä­chen, den Band Rosja, der Miłoszs Artikel zum Thema Russ­land ver­sam­melt. Ohne Zweifel auch für die erschwing­liche Aus­gabe der gesam­melten Gedichte beim Verlag Znak, wofür Julia Hartwig eine Ein­lei­tung verfasste:
„Durch die Schön­heit seiner Gedichte und die Kraft, mit der er Fragen auf­wirft, lässt der Auf­ent­halt im Kreis seiner Erfah­rungen zuweilen den Garten der Poesie zum Vorhof der Hölle werden. Auch des­halb nannte er sich Meister der über­wun­denen Ver­zweif­lung. Wie­derum konnte er auch Meister der bezau­bernd-mär­chen­haften Momente sein, als er Welt. Naive Gedichte schrieb.“
Von Zes­zyty Liter­ackie erschien 2011 eine Son­der­nummer mit dem Titel „Und Bücher haben ihr Los“. Sie ent­hält ein bisher unver­öf­fent­lichtes Gedicht, den Brief­wechsel zwi­schen Miłosz und Kon­stantin A. Jeleński und Wesent­li­ches zum Ver­hältnis zu Alek­sander Wat. Das Gedicht Aber Bücher** steht am Ende dieses Bandes. Als die eng­li­sche Über­set­zerin Clare Cava­nagh mit Miłosz einmal den Ablauf einer Lesung vor Stu­denten besprach, meinte Miłosz, unbe­dingt müsse man zuerst den Lebens­lauf bespre­chen und über­haupt dis­ku­tieren und als letztes kämen seine Gedichte an die Reihe. „Sie sollen zuerst glauben, dass ich ein ganz nor­maler Mensch bin“.

Ich male mir die Erde aus, wenn ich nicht bin
– nichts, kein Abgän­giger, weiter dies Wunderliche,
Kleider der Frauen, nasser Jasmin, Lied im Tal.
Aber Bücher sind in den Regalen; gut geboren,
Von Men­schen, aber auch von Klar­heit, Hoheit.
1986

 

Illus­tra­tion von Nastasia Louveau
Fotos von Paweł Ulatowski

 

Videos und Infor­ma­tionen zum Fes­tival und seinen Gästen:
www.milosz365.pl/pl,goscie.php
www.milosz365.pl/pl,2festiwal-milosz.php

 

*   Erst­druck: Zes­zyty Liter­ackie 2000, Nr.69. Übers. p.w.
** Erst­druck: Zes­zyty Liter­ackie 1987, Nr.18. Übers. p.w.