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Inmitten der Zeitflussschleife. Olga Martynovas erster Roman Sogar Papageien überleben uns

Posted on 12. Juni 2011 by Roman Widder
Gattungen sind Sprachen: Sie kennen bestimmte Tonlagen, ihr eigenes Gedächtnis und ihre eigenen Unaussprechlichkeiten. Vielleicht ist es darum kein Zufall, dass die in Deutschland lebende und bisher russischsprachige Lyrikerin Olga Martynova bei ihrem Wechsel in die Prosa auch die Sprache eintauschte, oder umgekehrt: dass sie den Eintritt in die deutsche Sprache zum Anlass nahm, sich eine neue Gattung anzueignen.

Gattungen sind Sprachen: Sie kennen bestimmte Tonlagen, ihr eigenes Gedächtnis und ihre eigenen Unaussprechlichkeiten. Vielleicht ist es darum kein Zufall, dass die in Deutschland lebende und bisher russischsprachige Lyrikerin Olga Martynova bei ihrem Wechsel in die Prosa auch die Sprache eintauschte, oder umgekehrt: dass sie den Eintritt in die deutsche Sprache zum Anlass nahm, sich eine neue Gattung anzueignen. Ihr 2010 erschienener Roman Sogar Papageien überleben uns macht sie auf jeden Fall zu einer der wenigen wirklich zweisprachigen oder, wie man neuerdings sagt, interkulturellen Autorinnen. Deshalb wurde ihr auch gerade erst der Förderpreis der Robert-Bosch-Stiftung (Adalbert-von-Chamisso-Preis) verliehen.

Martynovas Roman ist ein Erinnerungsbuch. Es beginnt mit einer Kindheitserinnerung: In den Armen der Mutter, des „Zeitflussweibs“, in der Mitte eines Gebirgsbaches. Schon bald kehrt die Erzählung zurück in die Mitte eines Flusses – diesmal ist es die gefrorene Newa, auf der die Erzählerin als Leningrader Studentin den ersten Abend mit dem deutschen Austauschstudenten Andreas verbringt. Und letztlich kommt das Buch aus diesem Fluss der Zeit und des Erzählens nicht mehr heraus. In vielleicht nicht zufällig genau 88 träumerisch assoziativen und zugleich minimalistisch konzentrierten Kapiteln trägt die Erzählerin den Leser spielerisch durch einen beträchtlichen Geschichtsraum. In diesem Erinnerungsfluss – unterbrochen und kommentiert durch Zwischenrufe, poetologische Einwände und Zitate – wird aus einem Satz schnell eine ganze Seite. Zur Orientierung ist das Erzählprogramm, die „Zeitflussschleife“, zu einem Zeitstrahl geronnen und jedem Kapitel mit einigen fett gedruckten Jahreszahlen graphisch vorangesetzt, sodass der Leser sogleich weiß, wo er sich befindet: nämlich immer zugleich in der Gegenwart, im Jahr 2006, und in einem der Kindheits- oder Jugendjahre.

Dabei wird das erzählende Erinnern von einem gewissen Bedauern der Unumkehrbarkeit des Zeit-Flusses grundiert. Es ist als handele es sich um den Versuch, mittels einer vom Handwerk der Literatur gestützten Erinnerung die Zeit zu überwinden, einzufrieren oder in ihr „zu baden“. Die Momente der Einfrierung des Flusses, wie im Falle der winterlichen Newa, scheinen die glücklichsten zu sein, der Traum, von dem dieses Schreiben getrieben ist. „Ich wollte die Zeit verlängern. Die Zeit eines idiotischen Lächelns des Verliebtseins.“

Die aus der eigenen Vergangenheit auftauchenden Bilder werden multipliziert durch Erinnerungen an Erinnerungen, vermittelt etwa durch die Großmutter, eine „ägyptische Gottheit“. So führt das Buch in Szenen zurück, welche die Lebenszeit der Protagonistin weit überschreiten: etwa die Abschaffung der als gefährlich erachteten Tannenbäume durch die „neuen Menschen“ in den 1920er Jahren oder der in Stalingrad liegen gebliebene Arm von Andreas Vater. Als Dichterin befindet sich die Erzählerin in einem überindividuellen literarischen Gedächtnis: Sie denkt an Marina Malitsch, die durch das zerbombte Berlin irrende Witwe von Daniil Charms, über den sie eine Promotion schreibt, oder an den Todesvogel, der sich im Berliner Zoo auf die Schulter von Witold Gombrowicz gesetzt hat. Eine riesige Vor-Vergangenheit taucht auf: hungernde Leningrader, die während der Belagerung Katzen essen, und manchmal ganz Unerwartetes, zum Beispiel ein Stalin, der die Geistlichen aller Konfessionen während des Zweiten Weltkriegs gebeten hat, für den Sieg zu beten.
Am Kreuzungspunkt dieses literarischen Gedächtnisses und des individuellen der Erzählerin gräbt dieser Roman sich in das 20. Jahrhundert hinein. Aus dem Fluss der Zeit taucht eine ziemlich verrückte späte Sowjetzeit auf: Hasch rauchende Hippies, Expeditionen auf den Pamir zur Entdeckung des Schneemenschen, und vor allem eine Sibirienreise zum Baikalsee und nach Ulan Ude, wo die Erzählerin, umgeben von Nomaden, Schamanen und Lamas, den Zusammenbruch der Sowjetunion nur im Fernsehen erlebt. Als sie einige Tage später wieder nach Petersburg zurückkehrt, ist die Energie des Wandels schon erschlafft – die Revolution hat nicht statt gefunden. Die alte Welt jedoch, aus der sie ausbrechen wollte, wird trotzdem verschwinden.

Erzählt wird hauptsächlich die zwanzig Jahre zurückliegende Liebschaft der russischen Erzählerin mit dem deutschen Austauschstudenten Andreas: Eine zwanzig Jahre zurück liegende Kränkung strukturiert, ordnet, bündelt die Erinnerungen. Diese Kränkung, die damalige Abweisung, so scheint es, saugt den ganzen sowjetischen Erinnerungsschmerz auf, konzentriert ihn und befreit damit zugleich den ganzen Rest der Erinnerung von allzu großem Gewicht. Nach zwanzig Jahren ist die Petersburger Literaturprofessorin in Berlin zu einer Charms-Tagung und Andreas hat sich wieder gemeldet. Erzählt wird also eine der „zwischendurch unterirdisch fließenden Lebenslinien“, die mit einer Email und einem Heiratsantrag wieder auftaucht, der sich folgendermaßen anhört: „nach so vielen jahren von missverständnissen aller art könnten wir nun endlich einfach zusammen sein, zusammenziehen, ich meine, du könntest mich heiraten, denk darüber nach, bis bald, gruß.“ Vor diese Frage gestellt beginnt und endet das Buch. Im Angesicht der banal wirkenden Entscheidung erzählt das Buch, aus dem langen Moment eines einzigen Zauderns lässt sich das halbe Leben erinnern.

So korrespondieren zwischen Vergangenheit und Zukunft zwei Welten, die getrennt sind durch einen – da besteht kein Zweifel – unkittbaren Riss: „es ist zwanzig Jahre her, dass wir uns getroffen haben, in einer nicht mehr existierenden Welt, in einem nicht mehr existierenden Staat, in einer so nicht mehr existierenden Stadt, in einem ungewöhnlich verschneiten Leningrader Winter.“ Sogar Papageien überleben uns protokolliert also in impressionistischer Manier eine seelische Amputation, welche der Zerfall der Sowjetunion für Millionen von Menschen bedeutet hat. „Die runde, abgeschlossene Welt, in die ich geboren war, flog wie ein Luftballon fort.“ Es ist in der Tat eine Proustsche Suche nach der verlorenen Zeit, jedoch nicht im streng autobiographischen Sinn, sondern etwa so, wie Mamardašvili es einmal über Proust gesagt hat: Man muss sich ein „künstliches Gedächtnis schaffen“, einen „Eimer der Resonanz“, „man muss lügen, nicht die Memoiren schreiben“ (Merab Mamardašvili: Psichologičeskaja Topologija puti. M. Prust ‚V poiskach utračennogo vremeni‘, pod obščej redakziej Ju.P. Senokosova, Sankt-Peterburg 1997, S. 153, 268). Erst im künstlichen Gedächtnis des Romans kann bei Martynova in einem Atemzug die Suche und zugleich die sorg- und behutsame Zurückweisung der verlorenen Zeit stattfinden. Auch der Zeit von Andreas, jenem Mann aus der besseren westlichen Welt, die gemeinsam mit der sojwetischen gestorben ist oder ihren verheißungsvollen Status eingebüßt hat.Und was ist hier das Deutschland des neuen Jahrtausends? Modezeitschriften, Werbeplakate, Internetcafes, Fußballweltmeisterschaften, Schriftstellerkongresse, die Zeit von Internet und Google, „Sex on the Beach“ statt, wie früher, „Cuba Libre“, kurz eine Welt, deren S-Bahn-Fenster zumindest für dieses Buch lediglich als Erinnerungsbildschirm taugt und besonders eine Frage unbeantwortet lässt: „Was bedeutet das 21. Jahrhundert?“

In diesem deutschen Bildschirm steigen Bilder über Bilder auf, die Erinnerung als Bilderflut, welche verstärkt durch das Handwerk der Literatur die Bilderflut der massenmedialen Umwelt transzendieren kann und das vergessen macht, was man die traumatische Leere der Gegenwart nennen könnte. In jedem Fall ist es ein Erinnerungsbuch an das sowjetische Russland, dessen Erzählsubjekt – trotz des schmerzhaften Verlusts – weder traumatisiert noch depressiv ist. Im Gegenteil ist es die melancholische Leichtigkeit dieses Romans, die seine Lektüre zu einem so angenehmen Erlebnis macht. Ein Beispiel vielleicht auch für die wunderbare Leichtigkeit, die Prosa von LyrikerInnen haben kann. Und so gelingt der Kampf gegen die Unumkehrbarkeit des Zeitflusses letztendlich nicht schlecht. Sogar der Aralsee, dessen „Kadaver“ sie als Jugendliche noch besucht hat, „kommt zurück“, wie sie nun in der Zeitung lesen kann.

 

Olga Martynova: Sogar Papageien überleben uns, Literaturverlag Droschl, Graz u.a., 2010, 208 S.
Auf novinki finden Sie auch ein von Roman Widder verfasstes Portrait der Autorin, während auf dem novinki-Blog die Besprechung eines Literaturabends nachzulesen ist - von Miriam Finkelstein über Olga Martynova.

Inmitten der Zeitflussschleife. Olga Martynovas erster Roman Sogar Papageien überleben uns - novinki
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Inmitten der Zeit­fluss­schleife. Olga Mar­ty­n­ovas erster Roman Sogar Papa­geien über­leben uns

Gat­tungen sind Spra­chen: Sie kennen bestimmte Ton­lagen, ihr eigenes Gedächtnis und ihre eigenen Unaus­sprech­lich­keiten. Viel­leicht ist es darum kein Zufall, dass die in Deutsch­land lebende und bisher rus­sisch­spra­chige Lyri­kerin Olga Mar­ty­nova bei ihrem Wechsel in die Prosa auch die Sprache ein­tauschte, oder umge­kehrt: dass sie den Ein­tritt in die deut­sche Sprache zum Anlass nahm, sich eine neue Gat­tung anzu­eignen. Ihr 2010 erschie­nener Roman Sogar Papa­geien über­leben uns macht sie auf jeden Fall zu einer der wenigen wirk­lich zwei­spra­chigen oder, wie man neu­er­dings sagt, inter­kul­tu­rellen Autorinnen. Des­halb wurde ihr auch gerade erst der För­der­preis der Robert-Bosch-Stif­tung (Adal­bert-von-Cha­misso-Preis) verliehen.

Mar­ty­n­ovas Roman ist ein Erin­ne­rungs­buch. Es beginnt mit einer Kind­heits­er­in­ne­rung: In den Armen der Mutter, des „Zeit­fluss­weibs“, in der Mitte eines Gebirgs­ba­ches. Schon bald kehrt die Erzäh­lung zurück in die Mitte eines Flusses – diesmal ist es die gefro­rene Newa, auf der die Erzäh­lerin als Lenin­grader Stu­dentin den ersten Abend mit dem deut­schen Aus­tausch­stu­denten Andreas ver­bringt. Und letzt­lich kommt das Buch aus diesem Fluss der Zeit und des Erzäh­lens nicht mehr heraus. In viel­leicht nicht zufällig genau 88 träu­me­risch asso­zia­tiven und zugleich mini­ma­lis­tisch kon­zen­trierten Kapi­teln trägt die Erzäh­lerin den Leser spie­le­risch durch einen beträcht­li­chen Geschichts­raum. In diesem Erin­ne­rungs­fluss – unter­bro­chen und kom­men­tiert durch Zwi­schen­rufe, poe­to­lo­gi­sche Ein­wände und Zitate – wird aus einem Satz schnell eine ganze Seite. Zur Ori­en­tie­rung ist das Erzähl­pro­gramm, die „Zeit­fluss­schleife“, zu einem Zeit­strahl geronnen und jedem Kapitel mit einigen fett gedruckten Jah­res­zahlen gra­phisch vor­an­ge­setzt, sodass der Leser sogleich weiß, wo er sich befindet: näm­lich immer zugleich in der Gegen­wart, im Jahr 2006, und in einem der Kind­heits- oder Jugendjahre.

Dabei wird das erzäh­lende Erin­nern von einem gewissen Bedauern der Unum­kehr­bar­keit des Zeit-Flusses grun­diert. Es ist als han­dele es sich um den Ver­such, mit­tels einer vom Hand­werk der Lite­ratur gestützten Erin­ne­rung die Zeit zu über­winden, ein­zu­frieren oder in ihr „zu baden“. Die Momente der Ein­frie­rung des Flusses, wie im Falle der win­ter­li­chen Newa, scheinen die glück­lichsten zu sein, der Traum, von dem dieses Schreiben getrieben ist. „Ich wollte die Zeit ver­län­gern. Die Zeit eines idio­ti­schen Lächelns des Verliebtseins.“

Die aus der eigenen Ver­gan­gen­heit auf­tau­chenden Bilder werden mul­ti­pli­ziert durch Erin­ne­rungen an Erin­ne­rungen, ver­mit­telt etwa durch die Groß­mutter, eine „ägyp­ti­sche Gott­heit“. So führt das Buch in Szenen zurück, welche die Lebens­zeit der Prot­ago­nistin weit über­schreiten: etwa die Abschaf­fung der als gefähr­lich erach­teten Tan­nen­bäume durch die „neuen Men­schen“ in den 1920er Jahren oder der in Sta­lin­grad liegen geblie­bene Arm von Andreas Vater. Als Dich­terin befindet sich die Erzäh­lerin in einem über­in­di­vi­du­ellen lite­ra­ri­schen Gedächtnis: Sie denkt an Marina Malitsch, die durch das zer­bombte Berlin irrende Witwe von Daniil Charms, über den sie eine Pro­mo­tion schreibt, oder an den Todes­vogel, der sich im Ber­liner Zoo auf die Schulter von Witold Gom­bro­wicz gesetzt hat. Eine rie­sige Vor-Ver­gan­gen­heit taucht auf: hun­gernde Lenin­grader, die wäh­rend der Bela­ge­rung Katzen essen, und manchmal ganz Uner­war­tetes, zum Bei­spiel ein Stalin, der die Geist­li­chen aller Kon­fes­sionen wäh­rend des Zweiten Welt­kriegs gebeten hat, für den Sieg zu beten.
Am Kreu­zungs­punkt dieses lite­ra­ri­schen Gedächt­nisses und des indi­vi­du­ellen der Erzäh­lerin gräbt dieser Roman sich in das 20. Jahr­hun­dert hinein. Aus dem Fluss der Zeit taucht eine ziem­lich ver­rückte späte Sowjet­zeit auf: Hasch rau­chende Hip­pies, Expe­di­tionen auf den Pamir zur Ent­de­ckung des Schnee­men­schen, und vor allem eine Sibi­ri­en­reise zum Bai­kalsee und nach Ulan Ude, wo die Erzäh­lerin, umgeben von Nomaden, Scha­manen und Lamas, den Zusam­men­bruch der Sowjet­union nur im Fern­sehen erlebt. Als sie einige Tage später wieder nach Peters­burg zurück­kehrt, ist die Energie des Wan­dels schon erschlafft – die Revo­lu­tion hat nicht statt gefunden. Die alte Welt jedoch, aus der sie aus­bre­chen wollte, wird trotzdem verschwinden.

Erzählt wird haupt­säch­lich die zwanzig Jahre zurück­lie­gende Lieb­schaft der rus­si­schen Erzäh­lerin mit dem deut­schen Aus­tausch­stu­denten Andreas: Eine zwanzig Jahre zurück lie­gende Krän­kung struk­tu­riert, ordnet, bün­delt die Erin­ne­rungen. Diese Krän­kung, die dama­lige Abwei­sung, so scheint es, saugt den ganzen sowje­ti­schen Erin­ne­rungs­schmerz auf, kon­zen­triert ihn und befreit damit zugleich den ganzen Rest der Erin­ne­rung von allzu großem Gewicht. Nach zwanzig Jahren ist die Peters­burger Lite­ra­tur­pro­fes­sorin in Berlin zu einer Charms-Tagung und Andreas hat sich wieder gemeldet. Erzählt wird also eine der „zwi­schen­durch unter­ir­disch flie­ßenden Lebens­li­nien“, die mit einer Email und einem Hei­rats­an­trag wieder auf­taucht, der sich fol­gen­der­maßen anhört: „nach so vielen jahren von miss­ver­ständ­nissen aller art könnten wir nun end­lich ein­fach zusammen sein, zusam­men­ziehen, ich meine, du könn­test mich hei­raten, denk dar­über nach, bis bald, gruß.“ Vor diese Frage gestellt beginnt und endet das Buch. Im Ange­sicht der banal wir­kenden Ent­schei­dung erzählt das Buch, aus dem langen Moment eines ein­zigen Zau­derns lässt sich das halbe Leben erinnern.

So kor­re­spon­dieren zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Zukunft zwei Welten, die getrennt sind durch einen – da besteht kein Zweifel – unkitt­baren Riss: „es ist zwanzig Jahre her, dass wir uns getroffen haben, in einer nicht mehr exis­tie­renden Welt, in einem nicht mehr exis­tie­renden Staat, in einer so nicht mehr exis­tie­renden Stadt, in einem unge­wöhn­lich ver­schneiten Lenin­grader Winter.“ Sogar Papa­geien über­leben uns pro­to­kol­liert also in impres­sio­nis­ti­scher Manier eine see­li­sche Ampu­ta­tion, welche der Zer­fall der Sowjet­union für Mil­lionen von Men­schen bedeutet hat. „Die runde, abge­schlos­sene Welt, in die ich geboren war, flog wie ein Luft­ballon fort.“ Es ist in der Tat eine Proust­sche Suche nach der ver­lo­renen Zeit, jedoch nicht im streng auto­bio­gra­phi­schen Sinn, son­dern etwa so, wie Mamar­daš­vili es einmal über Proust gesagt hat: Man muss sich ein „künst­li­ches Gedächtnis schaffen“, einen „Eimer der Reso­nanz“, „man muss lügen, nicht die Memoiren schreiben“ (Merab Mamar­daš­vili: Psicho­lo­gičes­kaja Topo­lo­gija puti. M. Prust ‚V pois­kach utračen­nogo vre­meni‘, pod obščej red­ak­ziej Ju.P. Seno­ko­sova, Sankt-Peter­burg 1997, S. 153, 268). Erst im künst­li­chen Gedächtnis des Romans kann bei Mar­ty­nova in einem Atemzug die Suche und zugleich die sorg- und behut­same Zurück­wei­sung der ver­lo­renen Zeit statt­finden. Auch der Zeit von Andreas, jenem Mann aus der bes­seren west­li­chen Welt, die gemeinsam mit der soj­we­ti­schen gestorben ist oder ihren ver­hei­ßungs­vollen Status ein­ge­büßt hat.Und was ist hier das Deutsch­land des neuen Jahr­tau­sends? Mode­zeit­schriften, Wer­be­pla­kate, Inter­net­cafes, Fuß­ball­welt­meis­ter­schaften, Schrift­stel­ler­kon­gresse, die Zeit von Internet und Google, „Sex on the Beach“ statt, wie früher, „Cuba Libre“, kurz eine Welt, deren S‑Bahn-Fenster zumin­dest für dieses Buch ledig­lich als Erin­ne­rungs­bild­schirm taugt und beson­ders eine Frage unbe­ant­wortet lässt: „Was bedeutet das 21. Jahrhundert?“

In diesem deut­schen Bild­schirm steigen Bilder über Bilder auf, die Erin­ne­rung als Bil­der­flut, welche ver­stärkt durch das Hand­werk der Lite­ratur die Bil­der­flut der mas­sen­me­dialen Umwelt tran­szen­dieren kann und das ver­gessen macht, was man die trau­ma­ti­sche Leere der Gegen­wart nennen könnte. In jedem Fall ist es ein Erin­ne­rungs­buch an das sowje­ti­sche Russ­land, dessen Erzähl­sub­jekt – trotz des schmerz­haften Ver­lusts – weder trau­ma­ti­siert noch depressiv ist. Im Gegen­teil ist es die melan­cho­li­sche Leich­tig­keit dieses Romans, die seine Lek­türe zu einem so ange­nehmen Erlebnis macht. Ein Bei­spiel viel­leicht auch für die wun­der­bare Leich­tig­keit, die Prosa von Lyri­ke­rInnen haben kann. Und so gelingt der Kampf gegen die Unum­kehr­bar­keit des Zeit­flusses letzt­end­lich nicht schlecht. Sogar der Aralsee, dessen „Kadaver“ sie als Jugend­liche noch besucht hat, „kommt zurück“, wie sie nun in der Zei­tung lesen kann.

 

Olga Mar­ty­nova: Sogar Papa­geien über­leben uns, Lite­ra­tur­verlag Dro­schl, Graz u.a., 2010, 208 S.
Auf novinki finden Sie auch ein von Roman Widder ver­fasstes Por­trait der Autorin, wäh­rend auf dem novinki-Blog die Bespre­chung eines Lite­ra­tur­abends nach­zu­lesen ist – von Miriam Fin­kel­stein über Olga Martynova.