Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
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Zar und Gottes Mann – eine Film­re­zen­sion zu “Car‘” von Pavel Lungin (2009)

Zar und Gottes Mann – eine aus­führ­liche Film­re­zen­sion zu Car‘ / Der Zar (Russ­land 2009, Regie: Pavel Lungin) 

 

Der letzte Film von Pavel Lungin, Car‘, kam auf DVD im Ori­ginal zu mir. Das hätte in Deutsch­land höchst­wahr­schein­lich auch nicht anders pas­sieren können. Viel­leicht läuft Car‘ irgend­wann auf 3Sat oder Arte im Min­der­heiten-Spät­pro­gramm, wer weiß, aber ins Kino wird er nicht kommen. Ich habe ihn mir also angeschaut, den „Zaren“ von Pavel Lungin. Der Zar, also Ivan IV. (1530–1585) – besser bekannt als Ivan der Schreck­liche (eigent­lich – groznyj – der Strenge) – ist in diesem Fall Pëtr Mamonov, Film-Schau­spieler (Taxi Blues, Ostrov — beide von Lungin), Dichter und Sänger seiner Band Zvuki Mu. Dieser Zar hat sehr wenig Zähne und sieht über­haupt aus, wie man sich einen Ivan den Schreck­li­chen vor­stellt, nicht zuletzt, wenn man das Gemälde von Ilja Repin im Kopf hat (den Blick dieses Zaren wird man so schnell nicht vergessen).

 

Aber nicht allein die ver­blüf­fende Ähn­lich­keit mit Ilja Repins iko­ni­schen Ivan recht­fer­tigt die Wahl Pëtr Mamo­novs. Er ver­kör­pert seinen Zaren auch dar­stel­le­risch sehr über­zeu­gend und hin­ter­lässt einen ebenso nach­hal­tigen Ein­druck wie Repins Gemälde. So auch gleich in seiner ersten Szene: Ivan muss vor das Volk treten, scheut jedoch davor zurück wie ein Pferd, als hätte er selbst Angst vor seiner Größe, seine Getreuen müssen ihn schließ­lich fest­halten. Diese Szene ist viel­leicht die inter­es­san­teste des gesamten Filmes, weckt sie doch gleich zu Beginn die Hoff­nung, es mit einer Aus­ein­an­der­set­zung mit Ivan IV., dieser zwie­späl­tigen und für die rus­si­sche Geschichte so wich­tigen Figur, zu tun zu haben. Noch frisch zudem ist die Erin­ne­rung an Vla­dimir Sor­okins Roman Tag des Oprič­niks, wo mit klarem Ver­weis auf die Zeit Ivan Groz­nyijs und auf Basis eines lite­ra­risch auf­wen­digen und dem Leser einiges abver­lan­genden his­to­ri­sie­renden Ver­fah­rens die Themen Auto­kratie und Will­kür­herr­schaft auf ein­dring­liche Weise für das heu­tige Russ­land und seine nahe (allzu nahe?) Zukunft aktua­li­siert werden. Nun also drei Jahre später ein His­to­ri­en­film mit Ivan dem Schreck­li­chen als Haupt­figur – das weckt Erwar­tungen, gerade auch weil sich die poli­ti­sche Situa­tion in Russ­land kaum ver­än­dert hat.

 

Aber leider werden diese Erwar­tungen ent­täuscht. Auch wenn man gleich in den ersten Minuten des Films sofort an  Sor­okins Roman denken muss: Auch hier fallen wie im Roman die Oprič­niki, Ivans „OMON-Truppen“ über ein Gut her und mas­sa­krieren den in Ungnade gefal­lenen Haus­herrn. Doch wäh­rend bei Sor­okin letz­terer erschlagen und seine Frau ver­ge­wal­tigt wird, aus­führ­lich und detail­reich geschil­dert, gerät bei Lungin inmitten des grau­samen Gesche­hens ein kleines Mäd­chen in den Fokus, das außerdem den Hof unbe­merkt ver­lassen kann. Da ihr die Kamera folgt, werden uns Zuschauer_innen die nun auf dem Hof statt­fin­denden Grau­sam­keiten erspart. Aber es kommt noch besser – das Mäd­chen rennt gra­de­wegs in die Arme eines zufällig des Weges kom­menden und gütig wie der Weih­nachts­mann aus­se­henden Popen. Und das ist, wie sich her­aus­stellen wird, natür­lich kein Zufall. Denn dieser Pope ist Filip, Abt des Solove­ckij-Klos­ters (zu ihm gleich mehr).

 

Haben wir es also bei Sor­okin mit einer Art abs­traktem, fast schon comic-haftem Rea­lismus zu tun, so ent­faltet sich in Lungins Film von Anfang an die Ästhetik (und auch Logik) eines his­to­ri­sie­renden Mär­chen­films. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sich dieses im bunten Gewande his­to­ri­schen Gesche­hens erzählte Mär­chen nicht schnell als plumpe Kir­chen-Pro­pa­ganda ent­puppen würde. Denn Car‘ ist kein Film über den Zaren. Die eigent­liche Haupt­figur ist sein Gegen­spieler: der eben bereits erwähnt ortho­doxe Priester, genauer der im Jahre 1636 heilig gespro­chene Metro­polit Filip, dessen his­to­ri­sches Vor­bild tat­säch­lich mit dem his­to­ri­schen Ivan in Wider­spruch geriet. Anstatt sich auf die künst­le­risch äußerst span­nende Figur des Ivan Groznyj, dessen Zar- und Mensch­sein, dessen Kon­flikte, Viel­schich­tig­keit und seine Rolle in der rus­si­schen Landes- und Reli­gi­ons­ge­schichte zu kon­zen­trieren, und so das in Russ­land immer noch aktu­elle Thema der „Selbst­herr­schaft“ in Form des His­to­ri­en­dramas zu behan­deln, insze­niert Lungin ein unter­kom­plexes Gut- und Böse-Spiel, in dessen Schwarz-Weiß-Per­spek­tive der Zar im Grunde nur als die Ver­kör­pe­rung des an und für sich Bösen gebraucht wird, als Anti­christ im Kreml, als Gegen­spieler des absolut Guten, der hei­ligen rus­sisch-ortho­doxen Kirche, ver­kör­pert in Filip, dessen Hei­ligen-Vita der eigent­liche rote Faden des Filmes ist. Die ganze her­vor­ra­gende dar­stel­le­ri­sche Leis­tung Mamo­novs – Ivan ist hier ein von seinen Dämonen Getrie­bener, hin- und her­ge­rissen zwi­schen Schuld, Buße, boden- und halt­loser Selbst­liebe, Selbst­hass und Selbst­ver­ge­bung – all das ist wirk­lich für die Katz, auch wenn es auf­wendig und manchmal auch sehr gelungen ins Bild gesetzt wird. All das ist hier nur düs­terer Hin­ter­grund, vor dem Filip als Ver­treter des wahren Chris­ten­tums umso heller leuchten soll.

 

Ich bin irri­tiert. Woher diese ideo­lo­gi­sche Nähe zur Rus­sisch-Ortho­doxen Kirche? Lungin ist doch jüdi­scher Her­kunft, denke ich. Habe ich etwas ver­passt? Offenbar gehe ich von den fal­schen Vor­aus­set­zungen aus, habe viel­leicht noch zu sehr Lungins Film Olig­arch (2002) im Kopf (ein Mafia-Melo­dram, in dem ganz nebenbei der Auf­stieg einer sehr an Putin erin­nernden Figur erzählt wird). Vor allem habe ich Lungins letzten und wohl erfolg­reichsten Film noch nicht gesehen – Ostrov (2006). Schnell hole ich das nach und begreife, dass  Car’ und Ostrov in engem Zusam­men­hang stehen.

 

Ostrov gefällt mir, bei aller christ­li­chen Ideo­logie, die auch dieser Film trans­por­tiert, weitaus besser als Car‘, auch ist der pro­pa­gan­dis­ti­sche Gehalt sub­tiler und damit weitaus wirk­samer ver­packt. An der Haupt­figur – eben­falls sehr intensiv von Pëtr Mamonov dar­ge­stellt – sta­tu­iert Lungin das Exempel des gefal­lenen und wieder auf­er­stan­denen Sün­ders, der als Mönch in ewiger Buße und selbst gewählter Armut (und Ein­falt) dem „Sinn des Lebens“ näher ist, als alle seine Zeit­ge­nossen, die sich eher den schnöden Dingen der Dies­sei­tig­keit hin­geben, und zu denen sowohl seine Mit­mönche als auch der Abt des Klos­ters zählen (und denen er natür­lich alle­samt Lek­tionen in Demut erteilt). Ostrov ist letzt­end­lich ein fil­misch-reli­giöser Traktat über Schuld und Ver­ge­bung (respek­tive Gottes Gnade, der man sich natür­lich bis zuletzt nicht sicher sein kann). Das äußerst pro­ble­ma­ti­sche uto­pi­sche Ele­ment von Ostrov ist dessen ganz spe­zi­elle Sozi­al­ro­mantik, die auf so etwas wie den „gesunden Men­schen­ver­stand“ des ein­fa­chen rus­si­schen Men­schen abhebt, der auf Gott und die rus­sisch-ortho­doxe Tra­di­tion und Reli­gion ver­traut. Tra­gendes künst­le­ri­sche Mittel zur Ver­brei­tung dieser Bot­schaft ist ein kleb­riger Mys­ti­zismus, der sich wun­derbar ele­gi­scher Natur­bilder und der krea­tür­li­chen Inten­sität des Haupt­dar­stel­lers bedient und die Zuschauer_innen mit einem woh­ligen „Hauch von Ahnung“ in ihre jeweils viel­leicht gar nicht so ele­gi­sche Welt zurück­schickt. In ästhe­tisch-künst­le­ri­scher Hin­sicht geht das Kon­zept von Ostrov also auf.

 

Dagegen wirkt nun Car‘ in vie­lerlei Hin­sicht erheb­lich unaus­ge­go­rener. Mal abge­sehen von einigen wirk­lich groben hand­werk­li­chen Schnit­zern – vor allem im Bereich der Kame­ra­füh­rung und der Schnitt­folge –, weiß der Film vor allem über­haupt nichts mit seiner titel­ge­benden und mit Pëtr Mamonov kon­ge­nial besetzten Haupt­figur anzu­fangen. Aber das­selbe gilt auch im Prinzip für Filip, der als als ‘ganz und gar Guter’ herz­lich ein­di­men­sional bleibt. Im Großen und Ganzen ver­gibt sich Lungin die Chance, aus dem Gegen­spiel zweier wirk­lich inter­es­santer his­to­ri­scher Figuren, die alle beide keine wider­spruchs­freien Per­sonen waren, ein span­nendes und zugleich unter­rich­tendes His­to­ri­en­drama zu machen und damit den Blick auf ein Stück wirk­lich span­nender rus­si­scher Geschichte frei zu legen. Denn der his­to­ri­sche Filip, der als Asket ange­se­hene Abt des Solove­ckij-Klos­ters und zeit­wei­lige Metro­polit unter Ivan IV., war wie gesagt bestimmt keine wider­spruchs­freie Person. Allein schon der Fakt, dass ein als Asket bekannter und ver­ehrter Mönch und Abt, der eher für eine inner­liche, welt­ab­ge­wandte Reli­gio­sität steht, Metro­polit wird und das unter Ivan IV. – zudem in einer Zeit, in der sich das Schicksal des Ver­hält­nisses von staat­li­cher Macht und Kirche ent­schied – das ist ein Stoff, den zu über­sehen man schon ein gerüt­telt Maß an Igno­ranz haben muss.

 

Man darf nicht ver­gessen: Die rus­sisch-ortho­doxe Kirche war im 15. und 16. Jahr­hun­dert nicht das mono­li­thi­sche Gebilde, als das sie sich heute so gerne, auch bis in ihre Ursprünge, sehen will. Wäh­rend auf der  macht­kirch­li­chen Seite, die Idee von Moskau als dem Dritten Rom ent­wi­ckelt wird (ihr wich­tigster Ver­treter und Begründer ist Josif von Volo­ko­lamsk (um 1440–1515), dem eine Civitas Dei, die Ver­ei­ni­gung von Staat und Kirche vor­schwebte, in der  die Kirche in reli­giösen Fragen auch über den Zaren gebot), ent­wi­ckeln sich auf der anderen Seite (vor allem im Kloster) ver­schie­denste Vor­stel­lungen vom reli­giösen Leben sowie grund­le­gend diver­gie­rende Auf­fas­sungen zur Über­lie­fe­rung und zur Gött­li­chen Wahrheit.

 

Die wich­tigste Häresie ist dabei die soge­nannte Nov­go­roder Häresie, die man als ein Ein­bruch west­lich-huma­nis­ti­schen Den­kens in die rus­si­sche Geis­tes­welt ver­stehen kann. Ihre Ver­treter sind gebildet, haben Zugang zu bisher nicht rezi­pierten Schriften und pro­vo­zieren mit einer ersten voll­stän­digen kir­chen­s­la­vi­schen Bibel­über­set­zung. Sie kri­ti­sieren vor allen Dingen auch den über­rei­chen kirch­li­chen Grund­be­sitz, in dem sie eine Haupt­ur­sache für die Ver­welt­li­chung der Kirche und auch die Haupt­quelle der mate­ri­ellen kirch­li­chen Macht sehen, der sie jede Berech­ti­gung abspre­chen. Josif von Volo­ko­lamsk, der sein Reform­werk wesent­lich über die Reform des Klos­ter­le­bens ver­wirk­li­chen wollte, indem er dort eine strenge hier­ar­chi­sche Ord­nung ansetzte, die den ein­zelnen Mönch zu Besitz­lo­sig­keit und unbe­dingtem Gehorsam ver­pflich­tete und im Gegenzug dem Abt eine gera­dezu mon­ar­chi­sche Ver­fü­gungs­ge­walt über­trug (vor­bild­lich umge­setzt in dem von ihm 1479 selbst gegrün­deten Kloster bei Volo­ko­lamsk), war natür­lich ihr erbit­terster Gegner. Ihm gegen­über stand aber noch ein anderer Kir­chen­re­former, der zwar in der Frage des Kir­chen­ei­gen­tums mit den Nov­go­roder Häre­ti­kern über­ein­stimmte, aber keine so radi­kale Abkehr von den Dogmen ver­trat: Nil Sor­skij (1433 – 1509). Er hatte in seiner Jugend den Kloster-Berg Athos in Grie­chen­land besucht und nach seiner Heim­kehr unweit des Flüss­chens Sora einen Skit, eine Ein­sie­delei gegründet. Wäh­rend das an sich noch kein unge­wöhn­li­cher Vor­gang war, in der Regel ent­standen so die Klöster mit Grund­be­sitz und umlie­genden Bau­ern­dör­fern, so unter­schied sich das Leben im Skit doch erheb­lich von dem bis dato übli­chen geschäf­tigen Treiben der Klos­ter­wirt­schafts­ge­mein­schaft. Kon­tem­pla­tion und die Redu­zie­rung der sozialen Kon­takte auf ein Min­destmaß, vor allem auf die Got­tes­dienste, prägten das Leben inner­halb der kleinen Gemein­schaft der im Skit aske­tisch und fast wie Ere­miten lebenden Mönche.

 

Dieses Modell machte Schule, vor allem in Nord­russ­land, und wurde zu einer Dau­er­er­schei­nung in Gestalt der soge­nannten „Unei­gen­nüt­zigen“ („nest­jaž­ateli“). So gesehen gab es in jener Zeit inner­halb der Rus­si­schen Kirche also min­des­tens von drei Seiten tief­grei­fende Reform­be­stre­bungen, wobei sich schließ­lich die macht­kirch­liche Seite durch­setzen sollte. Wäh­rend die Häresie von Nov­gorod buch­stäb­lich mit ihren Ver­tre­tern aus­ge­rottet wurde, war die kon­tem­plativ-inner­liche Rich­tung der Skits ein dau­er­haftes und ernst­zu­neh­mendes Phä­nomen inner­halb des Mönchs­we­sens, also auch der Kirche, und hatte auch nach Nil Sor­skijs Tod einige aktive Ver­treter, die sich spe­ziell in der Frage des Kir­chen­grund­be­sitzes kir­chen­recht­liche und mora­li­sche Dis­pute mit den so genannten Josi­fl­ja­nern der Macht­kirche lie­ferten. Die Frage des kirch­li­chen Grund­be­sitzes, an dem ja auch die Groß­fürsten großes Inter­esse hatten, war schließ­lich die ent­schei­dende. Auf einer Synode im Jahre 1503 wurde sie zugunsten der Macht­kirche ent­schieden und der Groß­fürst von Moskau Ivan III. (Vater Ivan des IV.) lieh der Kirche seinen starken Arm zur blu­tigen Ver­fol­gung der Häre­tiker. Das Reform­werk der Josi­fl­janer schien sich nun zu voll­enden, der Staat unter­stand einem got­tes­fürch­tigen und kir­chen­hö­rigen Mon­ar­chen. Dem Mos­kauer Groß­fürsten sollte nun auch die Kai­ser­krone nicht ver­wehrt werden. Den­noch sollte erst Ivans III. Sohn, Ivan IV. der Schreck­liche, zum Zaren gekrönt werden. Die ent­spre­chende Theorie – näm­lich die vom Dritten Rom – lie­ferte aber bereits zu Zeiten Ivans III. ein Mönch namens Fil­ofej aus Pskov. Ent­spre­chende Legenden, die neben der Rechts­nach­folge durch die behaup­tete Über­sen­dung kai­ser­li­cher Insi­gnien aus Byzanz sogar eine Abstam­mung aus den Linien der Kaiser des Ersten Roms behaup­teten, flan­kierten das Ganze. Daneben wurde auch in der Folge der kir­chen­schrift­liche Kanon sys­te­ma­tisch im Sinne der Legi­ti­mie­rung und Umset­zung der Theorie vom Dritten Rom aus­ge­baut. Ver­ant­wort­lich dafür zeich­nete wie­derum der josi­fl­ja­ni­sche Metro­polit Makarij (1542 – 1563), unter dessen Anlei­tung der junge Ivan IV., der in diese Situa­tion hin­ein­ge­boren wird, in macht­kirch­li­chem Sinne erzogen wurde. Das mit Maka­rijs Tod ent­stan­dene Vakuum sollten seine Nach­folger dann nicht mehr füllen können, zu stark war dann Ivan IV., Selbst­herr­scher und selbst­er­nannter oberster Diener Gottes.

 

Das ist also der kir­chen­ge­schicht­liche und his­to­ri­sche Hin­ter­grund, vor dem sich die Begeg­nung von Ivan IV. und Filip, der wohl eher der Rich­tung des Nil Sor­skij zuzu­rechnen ist, abspielt und die ja die Haupt­er­zäh­lung des Filmes ist. Die Hand­lung spielt zudem in Ivans „böser“ Zeit, nach den Reformen, also nach der Errich­tung der abso­lu­tis­ti­schen Macht, und nach der Ein­rich­tung der Oprič­nina. Was hätte das also für ein Stoff sein können, wenn dieser Filip als Figur etwas von diesen inner­kirch­li­chen Aus­ein­an­der­set­zungen im Hin­ter­grund gehabt hätte, wenn beide nicht nur der Gute und der Böse, son­dern Prot­ago­nisten grund­ver­schie­dener Glaubens‑, Macht- und Gesell­schafts­ver­ständ­nisse, kurz gegen­sätz­li­cher ideo­lo­gi­scher Sys­teme wären und Filip selbst auch den nötigen Spagat zwi­schen seinem Macht­an­spruch und seiner reli­giösen Inner­lich­keit hätte zeigen dürfen!

 

Aber nichts der­glei­chen in diesem Film, nur die zeit­lose und immer gleiche Begeg­nung von Gut und Böse. Alle Geschicht­lich­keit wird aus­ge­blendet, sie darf sich auf das Set­ting, die Aus­stat­tung zurück­ziehen und ver­kommt zum pseu­do­his­to­ri­schen Rahmen, der mit­tels der Authen­ti­zität von Gold, Schmutz und Folk­lore his­to­rio­gra­fi­sche Glaub­wür­dig­keit dar­stellen soll. Auch die Figuren sind alle mit Aus­nahme von Mamo­novs Ivan platt und kli­schee­be­laden: von den bösen und natür­lich häss­li­chen Oprič­niki über die bie­deren, wohl­fri­sierten und wackeren blonden Recken des Land­adels, die in patrio­ti­scher Gesin­nung das Land gegen die Polen ver­tei­digen, oder Ivans Frau, eine not- und gewalt­geile Hexe, quasi die Furie der Opričina, bis hin zu Filip, der von einer solch makel­losen Recht­schaf­fen­heit ist, dass man es kaum aus­hält. An der Ein­di­men­sio­na­lität Filips ändert auch die dar­stel­le­ri­sche Leis­tung des im Mai letzten Jahres (2008) ver­stor­benen Oleg Jan­kovskji wenig. Sein Filip ist warm­herzig, klug, mora­lisch, bescheiden (und er hat selbst­ver­ständ­lich noch alle Zähne im Mund), aber wir erfahren über ihn nichts, außer dass er gut ist. Weder wissen wir, warum er nach Moskau kommt, wo er dem Dreh­buch gemäß Ivan begegnet, noch welche Rolle er über­haupt in Staat und Kirche spielt. Auch erfahren die Zuschauer_innen nichts über seine Vor­gänger im Metro­po­li­tenamt unter Ivan IV., von denen der eine nach einem Jahr resi­gnierte und der andere sofort, nachdem er die Abschaf­fung der Oprič­nina gefor­dert hatte, ver­jagt wurde.

 

Auch bleibt das Ver­hältnis zwi­schen Ivan und Filip absolut rät­sel­haft. Im Film begegnen sie sich zum ersten Mal zufällig auf einer Brücke (an dieser Szene und den unmit­telbar fol­genden kann man übri­gens sehr anschau­lich nach­voll­ziehen, was man mit dem Wechsel von Groß- und Nah­auf­nahme, Coun­tershot und Schnitt­rhythmus alles falsch machen kann). Unver­mit­telt trägt Ivan Filip an, „sein“ Metro­polit in Moskau zu werden. Die beiden scheinen dabei ver­traut, als wären sie alte  Freunde, aber man weiß nicht warum. Es kommt zu wei­teren Begeg­nungen, immer geht es um die gleiche Frage, bis Filip schließ­lich doch Metro­polit wird. Letzt­lich struk­tu­riert sich die Erzäh­lung des Films ganz im Sinne einer Hei­ligen-Vita an den wich­tigen Lebens­ta­tionen Filips inner­halb des erzählten Zeit­ab­schnitts: von den ersten Begeg­nungen mit Ivan, das Ablehnen und Annehmen des Metro­po­li­ten­amts, die Schutz­ge­wäh­rung für jene bereits erwähnten patrio­ti­schen Recken, die nach der Nie­der­lage gegen die Polen Ivans Zorn zu fürchten haben, über die Ver­wei­ge­rung, Ivan den Segen zu erteilen, bis zur Gefan­gen­schaft im Kloster und Ermor­dung durch den Obersten der Oprič­niki. Auch fehlt es dabei nicht an Wun­dern: von einer Ikone, die den Ver­lauf einer Schlacht ent­scheidet über die wun­der­same Spren­gung der Ketten, in die man Filip im Klos­ter­kerker gelegt hat, bis zur Sehend­ma­chung von Blinden ist alles dabei.

 

Zwi­schen diesen Sta­tionen wird Ivan aus­führ­lich als der Böse gezeigt, es ist ja auch seine spä­tere, düs­tere Zeit. Dabei gewinnt die Figur sogar unver­hofft an Tiefe. In den Momenten des Zwei­fels –  in seiner Innen­po­litik stützt sich Ivan nur noch auf Gewalt und Terror, seine Außen­po­litik ist kata­stro­phal  – voll­zieht sich an Ivan selbst die Logik des von ihm geschaf­fenen Mons­ters. Die Oprič­niki sind selbst eine Macht im Staate geworden, die nun auch ihrem Erschaffer und obersten Gebieter zusetzt. Er wird gera­dezu gezwungen, wei­terhin der „Schreck­liche“ zu sein. Am Ende, nach all den Schre­ckens­taten (inklu­sive einer Kir­chen­ver­bren­nung samt Insassen durch seine Oprič­niki) und schließ­lich der Ermor­dung Filips, seines wan­delnden schlechten Gewis­sens, ist er wort­wört­lich ein von allen guten Geis­tern Ver­las­sener: Er lässt sich nächt­lich auf die Straßen Mos­kaus tragen und ruft nach seinem Volke. Aber nie­mand kommt, er bleibt allein, einzig umgeben von seinen Getreuen, den Oprič­niki. Ende des Filmes.

 

Und da komme ich am Ende doch noch ins Grü­beln – ist dies ein­same Ende Ivans nun der kleine Wink, der kri­ti­sche Fin­ger­zeig für die heute Mäch­tigen, den ich so schmerz­lich ver­misst und die ganzen zwei Stunden dieses Filmes lang erwartet habe? Viel­leicht. Aber was soll er letzt­lich bedeuten? Passt auf, dass Euch das Volk nicht davon­läuft? Letzt­lich hat der Film ja auch noch eine andere klare Bot­schaft, näm­lich wo das Volk hin­laufen soll: in die Kirche.

 

Wäh­rend näm­lich bei Ostrov der Ver­kehrt­heit der Welt die schein­bare Ver­rückt­heit inten­siven Glau­bens­er­le­bens ent­ge­gen­ge­halten wird, die sich in Wahr­heit und in Demut eins weiß mit Gott und der Welt, so wird uns in Car’ durch die Figur Ivans die teuf­li­sche Gefahr der Selbst­über­hö­hung, die Sünde der Hybris, des Abfalls vom wahren Glauben, der Demut und Treue zum wirk­li­chen Herr­scher der Welt, vor­ge­führt. Ivan inter­es­siert nur als die Ver­kör­pe­rung dieser teuf­li­schen Ver­su­chung. Ihm wird der Hei­lige Filip gegen­über­ge­stellt, der sogar den Mär­ty­rertod stirbt und stets als Ver­treter der Kirche das an und für sich Gute im Men­schen ver­kör­pert, was den ein­zigen Schluss zulässt, dass diese recht­gläu­bige natio­nale rus­si­sche Kirche schon immer auf Seiten des an und für sich Guten stand – in gehö­rigem Abstand zur welt­li­chen Macht natür­lich (auch wenn man sich mit der auch einigen kann, wie die heu­tige Zeit zeigt, sie muss nur got­tes­fürchtig und recht­gläubig genug sein, um z.B. den kirch­li­chen Grund­be­sitz zurück­zu­geben oder steu­er­liche Begüns­ti­gungen für kirch­liche Han­dels­firmen und andere wirt­schaft­liche Betä­ti­gungen zu gewähren). Soweit meines Erach­tens das inhalt­liche Kon­zept von Car‘.

 

Aber es geht so glatt nicht auf. Zu viel­schichtig ist dieser Ivan, zu platt sein Gegen­part, zu unschlüssig der Plot bei der Kon­zen­tra­tion auf das, was erzählt werden soll. Inter­es­sant ist zudem, dass Ivan und der koh­le­ver­schmierte Eremit aus Ostrov sich gar nicht so unähn­lich sind. Das mag nun jeder inter­pre­tieren, wie er will. Das Anstö­ßige an beiden Filmen ist aber ihr unver­hoh­lenes Plä­doyer für das, was man den mini­malen und damit fast schon fun­da­men­ta­lis­ti­schen rus­sisch-ortho­doxen Grund­kon­sens nennen könnte: Seid brav, ver­traut in Gott und in seine in seinem Lichte wan­delnden Ver­treter auf Erden! Und macht Euch nicht allzu viele Gedanken, auch keine reli­giös-theo­lo­gi­schen, geht lieber beten! Ach­tung Reli­gion! – möchte man da allent­halben aus­rufen. Denn Reli­gion soll auch im heu­tigen Russ­land wieder  „Opium des Volkes“ sein, oder wie ein schlauer Russe mir einmal in den Neun­zi­gern sagte: Wir bauen Kir­chen um für Häuser zu beten.