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Das Märchen vom Roten Matrosen und seinen blau-weiß gestreiften Brüdern

Posted on 23. April 2007 by Lucia Zimmermann
Sowjetische Arbeiter, zaristische Bäuerinnen, russische Tännchen und vor allem Matrosen – das sind die Helden des Krasnyj matros, eines kleinen Petersburger Verlags, der von Aktiven des ehemals sowjetischen Untergrunds getragen wird.

Es war einmal ein Tännchen, das stand im Wald. Dann kam ein graues Häschen und suchte Schutz unter den Zweigen. Dann kam der böse Wolf. Dann kam ein Pferdchen mit einem Schlittenwagen, auf dem ein alter Mann saß. Der alte Mann fällte das Tännchen. Und was tat unser Tännchen, während Natur, Tier und Mensch sein Schicksal bestimmten: nichts.

Aufgrund der „Passivität“, des „majestätischen Wesens“ und des gleichzeitigen „äußeren Gleichmuts“ wurde das russische Volkslied „Das Tännchen“ (Eločka) als Inbegriff des Russischen in den Kanon der Weltliteratur erhoben. Und zwar vom „Roten Matrosen“ (Krasnyj Matros), einem kleinen Petersburger Verlag, dessen Publikationen sich in der postsowjetischen Zeit auf eine eigenartige Suche nach der russischen Identität begeben – allerdings in durchaus kunstvollem optischem Gewand.

 

trinkendemitkiDie Hauptfiguren des „Roten Matrosen“ sind neben passiv erhabenen Tännchen, friedliche Nordvölker, die einen Hasenkult betreiben, einfache Bäuerinnen und Gouvernanten des zaristischen Russlands, sowjetische Arbeiter, die jubelnd eine Nikestatue ausgraben und andere sympathische Volkshelden, die – ausgestattet mit der russischen Seele – nicht frei von menschlichen Makeln sind. Auch große historische Persönlichkeiten wie Lenin, Stalin, Darwin, Marx oder Puškin tanzen im folkloristischen Reigen des „Roten Matrosen“. Nicht zu vergessen sind die bärtigen Seemänner in blau-weiß gestreiften Matrosenhemden, die durch die Werke gehen oder torkeln. Und zu ihnen gehört der rote Matrose selbst, Michail Sapego, der zugleich Verleger, Produzent, Redakteur, Händler, Kurier aber auch Schriftsteller des gleichnamigen Verlags ist.

Michail Sapego hat tatsächlich vor seiner verlegerischen Tätigkeit im fernen Nordmeer als Matrose gedient. Dann kam die Perestrojka und alles wurde anders. Er verlor seine Arbeit und machte sein Hobby zum Beruf. 1995 gab er im Selbstverlag ein rotes Buch heraus mit Gedichten im Stil japanischer Haiku (Razroznennye XE), auf dem mit großen Lettern Matros geschrieben stand. Weitere Veröffentlichungen von seinen Freunden folgten, und so entwickelte sich Buch für Buch der kleine Einmannbetrieb unter dem Label Krasnyj Matros.

 

razrosnennyeSapegos Freunde sind die mit’ki, Künstler in blau-weiß gestreiften Ringelhemden, die sich in den achtziger Jahren jenseits des Schwarz-Weiß-Rasters aus Anpassung und Widerstand zu einer Künstlergruppe formierten und es sich gemütlich machten in den Graubereichen der Sowjetgesellschaft. Das „mitkische Manifest“ von 1985 „für die neue Jugendmassenbewegung im Stil der Hippies oder Punks“ skizziert friedliche, gutmütig-unbeholfene Naivlinge in Matrosenhemden, die sich einer infantilen Sprache bedienen, angehäuft mit Zitaten aus sowjetischen Filmen und den unübersetzbaren Ausdrücken dyk (je nach Intonation und Gestik fast alles bedeutend) und oppan’ki (Beschreibung einer Handlung, die die mit´ki erstaunt) und elki-palki (drückt die ganze Gefühlspalette von Verletzung, Bedauern, Begeisterung, Entschuldigung, Freude bis Angst und Wut aus). Man genießt das Faulenzen und die brüderliche Gemeinschaft, man trinkt gern, man betont die eigene Lebensuntüchtigkeit, Kommerz, elki-palki, hat niemanden zu interessieren, dyk! Volksnähe, Orthodoxie und Selbstbestimmung sind die drei Hauptschlagworte der mitkischen Weltanschauung.

 

dykDie mit’ki, was soviel wie „kleine Dmitrijs“ bedeutet, existieren im Unterschied zu den zahlreichen Gruppierungen des sowjetischen Untergrunds immer noch. Sie illustrieren und gestalten einen Großteil der Bücher des Krasnyj Matros und schreiben außerdem für den Verlag. Einige ihrer Texte, die in den 80er Jahren im damaligen Samizdat kursierten – dem Selbstverlag der inoffiziellen Literaturszene –, erlangen im Krasnyj Matros erstmals Druckqualität.

Maksim und Fjodor, ein Werk des Haupttheoretikers Vladimir Šinkarev, das 1980 entstanden und 1998 im Krasnyj Matros erschienen ist (und im selben Jahr auf Deutsch im Berlin Verlag), berichtet von zwischen Alkohol und Kater hin- und hertaumelnden mit’ki, die in ihren miefigen Petersburger Kommunalwohnungen über Zen-Buddhismus nachdenken und zu den philosophischsten Schlussfolgerungen kommen: „’Zen’, sagte Piotr, der elegante, aber nicht sehr tiefsinnige Vergleiche liebte, ’das ist die Fähigkeit, mit einer Viertelliterflasche Wodka zwei ganze Wassergläser zu füllen.’ ’Mit einer leeren’ fügte Wassilij hinzu. Maxim richtete den Blick auf Fjodor. ’Und den Wodka nicht zu trinken’, sprach Fjodor. Maxim nickte zufrieden und sagte: ’Und ihn nicht in die Gläser zu füllen.’“ Die exotische Mixtur aus Spirituosen und Spiritualität ergibt unterhaltsamen Unsinn.

 

maksimDie mit’ki sind sich in der postsowjetischen Zeit treu geblieben. Sie kultivieren immer noch das brüderlich gelebte Kollektiv (eigentlich gehören auch ein paar wenige Schwestern dazu, die ab und zu publizieren dürfen, hauptsächlich aber Vor- und Nachworte zu den brüderlichen Ergüssen verfassen), haben sich jedoch von ihrem wichtigsten Bruder verabschiedet, dem Alkohol. Auf Buchpräsentationen wird nur noch Tee angeboten und böse Zungen munkeln, dass den mit’ki mit dem Alkohol auch die Inspiration abhanden gekommen sei. An dessen Stelle breitet sich ein neues – man könnte sagen – postsowjetisches Thema aus: die Antipoden „Heimat“ (rodina) und „Ausland“ (zagranica). Unter „Heimat“ ist die Vergangenheit der achtziger Jahre im Untergrund der Petersburger Heizkeller zu verstehen, die in (n)ostalgischem Tonfall besungen wird: „Oh, wie alles gut war! Wie gut alles war...“ (1983 god von Viktor Šagin, 1993). Mit „Ausland“ ist nicht nur der schwedische und der finnische Wodka gemeint und die anderen zahlreichen ausländischen Produkte, die seit der Öffnung die russischen Märkte überschwemmen, sondern in erster Linie das heutige, postsowjetische Russland: Eine fremdgewordene Heimat, die von einem elitären, kommerziellen Kunst- und Buchmarkt bestimmt wird, der keine Grenze zwischen Offiziellem und Inoffiziellem kennt, dem Untergrund somit seine Grundlage genommen und die vielen dünnen Schreibmaschinenseiten des Samizdat zum Verschwinden gebracht hat. Michail Sapego und die mit’ki tun das, was sie vor der Perestrojka getan haben: Sie ziehen sich zurück aus dem öffentlichen und politischen Leben in ihre friedlich-infantile Welt, tanzen ihre eigenen Tänze und leben weiterhin nach der altbewährten Devise, die jeglichem aktiven Widerstand entsagt: „Wir wollen niemanden besiegen“ (My ne chotim nikogo pobedit’).

 

pljaskiAuch der Verlag Krasnyj Matros funktioniert nach den aus den achtziger Jahren in die Jetztzeit eines marktwirtschaftlich funktionierenden Buchmarktes hinübergeretteten „mitkischen“ Regeln. Einnahmen, die durch den Verkauf eines Buches erzielt werden, ermöglichen die Herausgabe des nächsten Buches. Reich kann man so nicht werden. Wichtiger als das Geld ist Sapego die Freude an der Arbeit. Seinen Verlag sieht er als Fortsetzung illegaler Hauskonzerte und Ausstellungen zu Sowjetzeiten, bei denen nicht Kommerz im Vordergrund stand, sondern das Beisammensein und die gute Musik. Und darum geht es ihm, dass Leute – auch wenn es nur wenige sind – gute Bücher lesen können.

Dafür gehen Sapego und seine Brüder in die Archive, spüren in Antiquariaten vergriffenen  Büchern mit Märchen, Volksliedern und Legenden nach, reisen auf den Spuren fast vergessener Helden in abgelegene Gouvernements und schreiben, zeichnen und basteln an der Auferstehung des idealen Russlands.
Die russisch-sowjetische Vergangenheit, in deren Umfeld Herausgeber und Schriftsteller des Krasnyj Matros sozialisiert wurden, erfährt in den Druckmaschinen des „Roten Matrosen“ bisweilen eine fantasievoll verspielte Wiedergeburt. Die von Sapego entwickelte Reihe PRO veröffentlicht Augenzeugenberichte von der großen Leningrader Überschwemmung im Jahre 1923, Erinnerungen einer Bäuerin, die 1903 als Gouvernante nach Petersburg kam, und ein Volkslied über den beinahe vergessenen Helden Rjabov, der sich als Kundschafter in die japanische Armee eingeschleust hatte.
Pro Špionov 2001 (Über Spione) wiederum versammelt Zeitungsartikel der Krasnaja Zvezda-(Roter Stern)-Ausgabe von 1938 über die Enttarnung von Spionen. Diese Geschichten bedürfen keinerlei zusätzlicher Bearbeitung, um ein Charms’sches Niveau an Absurdität zu erlangen. In dem Buch erfährt man pikante Details: Der böse, maskierte, mit Messer und Pistole bewaffnete ausländische Spion lauert in jeder Ecke der friedlichen, arbeitsamen Sowjetgesellschaft eingemummt in den vatnik (Wattejacke). Diese Hauptbekleidung der Spione bietet mancherlei Komfort: sie ist bequem, warm, sieht sowjetisch aus, sie dämpft Schläge und federt ab beim Herunterfallen von Dächern oder Balkons. PRO Čapaev basiert nicht auf historischen Dokumenten, sondern setzt dort an, wo Čapaev, der bekannte General der Roten Armee, aus der Geschichte trat. In Form einer Volkserzählung rettet sich der – hier nur beinahe – Ertrunkene und versteckt sich fortan in einer kirgisischen Jurte vor den vorbeiziehenden Kosaken.

 

spionyDer rote Matrose bringt erstaunliche Geschichten ans Tageslicht. Solche, die von Generation zu Generation im Volksgedächtnis weitergegeben worden sind und beinahe in Vergessenheit geraten wären. Solche, denen nur ein bisschen nachgeholfen wird. Und solche, die von Anfang bis Ende erstunken und erlogen sind. Wen kümmert es, wenn es darum geht, das Märchen eines idealen Russlands und seiner Helden fiktiv zu erschaffen?

Bei der Umsetzung dieses ehrgeizigen Projekts vergreift sich der „Rote Matrose“ auch gerne an den Meisterwerken der Weltliteratur und an deren Autoren. Es werden nicht nur die fiktiven Erinnerungen von Daniil Charms verfasst und illustriert. Šinkarev erschafft gar einen neuen Kanon der Weltliteratur (Vsemirnaja literatura) in seinen als Comics angelegten Bildern, indem er die Illustration des eingangs beschriebenen Tännchens zwischen Dostoevskijs „Schuld und Sühne“ und Kafkas „Die Verwandlung“ verpflanzt und kurzerhand auch die Nationalhymne des nordischen Nomadenvolkes Fižm in den Rang der Weltliteratur erhebt. In diesen Kanon platziert er auch den „Düsteren Roman“ (Mračnyj roman) – einen grau-schwarzen, konturenlosen Comic – als Sinnbild der zahlreichen schlecht gedruckten ausländischen Bücher des Samizdat. Und natürlich wird auch der wahrhaftig russische Poet Puškin in einem weiteren Buch des „Roten Matrosen“ unter die mitkische Lupe genommen.

 

vsemirnajaDie wackeligen mit Schreibmaschine getippten Verszeilen klingen irgendwie vertraut. Bekannt erscheint einem auch die mit Tinte gezeichnete Figur, die unten rechts auf jeder Seite sitzt. Es könnte ein kleiner Puškin mit Stock und Zylinder sein. In „Puškins Eugen Onegin“ (Evgenij Onegin Puškina) wird das Meisterwerk und der Kanon der sowjetischen Vergangenheit vom Moskauer Konzeptualisten Dmitrij Prigov ab- und im Stil Lermontovs umgetippt, um – so Prigov – die düstere, wahrhaftigere Seite der russischen Kultur in Puškins Text einzubringen. Die Prigovsche Auseinandersetzung mit Puškin, das Ab- und Umschreiben des Originals und das damit verbundene Aufdecken eines sich im Gedächtnis der Leserschaft verselbständigenden Mythos der russischen Kultur wird in der Ausgabe des „Roten Matrosen“ noch zusätzlich durch die graphischen Gestaltung verfremdet. Das schmale Heft stellt eine vorlagegetreue Nachbildung des damals im Samizdat kursierenden Originals dar – mit Ausnahme der Puškin-Karikatur von mitek (so die Einzahl) Aleksandr Florenskij. Wenn man das Buch wie ein Daumenkino schnell durchblättert, hebt Mini-Puškin den Zylinder und setzt ihn wieder ab. Doch vor wem? Vor einer Leserschaft, die ihn zum Helden stilisierte? Die Puškin auswendig kennt und nicht mehr liest?
Sicher ist, dass der Verlag mit Konzeptualismus eigentlich nicht viel am Hut hat. Deshalb ist es wohl eher Prigovs Suche nach der wahren russischen Wesensart als die Entmystifizierung des geschriebenen Wortes, die die mit´ki  hier interessieren. Die mit’ki wollen nicht dekonstruieren, sondern vielmehr konstruieren: Sie arbeiten am Russischen Märchen und konkret am Märchen des „Roten Matrosen“.

 

prigovWer mit kindlichen Spielereien und dem märchenhaft-folkloristisch-
historisch-mythologischen Genre dieser Bücher nichts anfangen kann, der sollte dem Verlag doch eine Chance gegeben. Denn gerade in seinem Interesse für Nichtkommerzielles gibt der „Rote Matrose“ Debütanten heraus, die man sonst nicht kennenlernen könnte.

Zu den grossen Entdeckungen des Verlags gehört auch die Moskauer Gruppe Osumasšedšie bezumcy (Verrückt gewordene Dummköpfe) um Miroslav Nemirov, die im Krasnyj Matros ihr Publikationsorgan gefunden hat. Einer der wichtigsten Dichter dieser Gruppe ist Andrej Rodionov, ein sogenannter mnogostanočnik (Arbeiter, der mehrere Maschinen zugleich bedient – oder zu Deutsch: ein Hansdampf in allen Gassen). Der ehemalige Leader einer Punkband, der Rapper und Slampoet ist zu jung, als dass illegale Hauskonzerte und Ausstellungen in Privatwohnungen der Achtziger ihn maßgeblich hätten prägen können, führt jedoch einen für damalige Intellektuelle und Dissidenten typischen, man könnte sagen einen „mitkischen“ Lebensstil: Er arbeitet untertage im Theater als Färber und verdient so seinen Unterhalt, seine wahre Bestimmung sieht er aber in der Literatur.
Zwei Gedichtbände von ihm sind im Krasnyj Matros erschienen: Dobro požalovat’ v Moskvu (Willkommen in Moskau, 2003) und pel’meni ustricy (Pel´meni Austern, 2004). Letzteres stellt eines der schönsten  Bücher des „Roten Matrosen“ dar. Das Buch ist zusammengebastelt aus grau-beigem Gebrauchtpapier, zusammengehalten von einem grob gewobenen Tuch. In seiner Machart erinnert es an die handgefertigten Bücher des in vorgutenbergische Verhältnisse zurückgeworfenen Samizdat.
Rodionovs Gedichte berichten in einfachem, umgangssprachlichem Jargon vom Alltag in den Moskauer Randbezirken, von billigem Alkohol, Drogen, Prügeleien und Armut. In diesem Milieu geistern jedoch auch Achmatova und Rasputin und andere Gestalten der russischen Vergangenheit umher. Ihr Zusammentreffen mit der banalen Sprache und dem harten postsowjetischen Alltag lässt so manche Legende und Heldentat in Parodie umschlagen.

 

pelmeniIm Krasnyj Matros melden sich Stimmen der ehemals sowjetischen alternativen Kulturszene zu Wort, die im Gegensatz zu vielen anderen nicht verstummt sind. Der Verlag probt jedoch nicht nur den Sprung zurück in Geschichte und Folklore, sondern verleiht auch jüngeren Orientierungslosen des heutigen Russlands Gehör, die ihre Befindlichkeit aus einer anderen als in die Vergangenheit gerichteten Perspektive reflektieren.
Mittlerweilen sind genau 88 Bücher im Verlag erschienen, in jeweils „homöopathischen“ Auflagen von 500 bis 1000 Exemplaren. Die einzelnen Bände sind durchnummeriert, haben einen Sammlerwert und sind entsprechend schwer zu bekommen. In grossen Buchläden findet man den „Roten Matrosen“ nicht. Er steht in den Regalen kleiner alternativer Buchhandlungen in Moskau und Sankt Petersburg – Ad marginem, Projekt O.G.I., Gileja, Galerija Borej. Und es lohnt sich, die meist schmalen Bände durchzuschauen. Die kurzen, originell illustrierten Bücher lassen den Leser selbst zum fantasievollen Co-Autor werden und mitdichten am Märchen vom Roten Matrosen und der russischen Seele. Denn wenn er nicht gestorben ist, sucht er die noch heute.

 

 

Im Verlag Krasnyj matros erschienen:

Prigov, Dmitrij: Evgenij Onegin Puškina. Sankt-Peterburg 1998.
Rodionov, Andrej: Dobro požalovat´ v Moskvu. Stichi. Sankt-Peterburg 2003.
Rodionov, Andrej: Pel´meni ustricy”. Sankt-Peterburg 2004.
Šagin, Dmitrij: Dyk!. Stichi. Sankt-Peterburg 2002.
Sapego, Michail (Hg.): Pro Čapja. Narodnyj skaz. Serija „PRO…“ – Kniga tret´ja. Sankt-Peterburg 2000.
Sapego, Michail (Hg.): Pro navodnenie v Leningrade 23 sentjabrja 1924 goda. Serija “PRO…” – kniga sed´maja. Sankt-Peterburg 2003.
Sapego, Michail (Hg.): Pro špionov. Po materialam gazety “Krasnaja Zvezda” za 1938 god. Serija “PRO…” – kniga šestaja. Sankt-Peterburg 2001.
Sapego, Michail: Pro razvedčika Rjabov. Serija “PRO…”- Kniga tret´ja. Sankt-Peterburg 1999.
Sapego, Michail: Razproznennye XE. Stichi. Sankt-Peterburg 1995.
Šinkarev, Vladimir: Maksim i Fedor. Vešč´ v trech častjach. Sankt-Peterburg 1998.
Šinkarev, Vladimir: Mit´ki. Sankt-Peterburg 1998.
Šinkarev, Vladimir: Vsemirnaja literatura. Sankt-Peterburg 1998.

 

Auf Deutsch erschienen:
Schinkarjow, Wladimir: Maxim und Fjodor. Berlin Verlag. 1998 Berlin.

Holm, Kerstin: Der Bär als Butler. Kinderphantasien mit globalem Zugriff: Die Petersburger Künstlergruppe „Mit´ki“. In: FAZ 7.1.1998. Nr. 5, S. 29.

Dutli, Ralph: Besinnung in schräger Lage. Geisterbetäubungen: Wladimir Schinkarjows „Maxim und Fjodor". In: FAZ 16.10.1998.

 

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Das Märchen vom Roten Matrosen und seinen blau-weiß gestreiften Brüdern - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das Mär­chen vom Roten Matrosen und seinen blau-weiß gestreiften Brüdern

Es war einmal ein Tänn­chen, das stand im Wald. Dann kam ein graues Häs­chen und suchte Schutz unter den Zweigen. Dann kam der böse Wolf. Dann kam ein Pferd­chen mit einem Schlit­ten­wagen, auf dem ein alter Mann saß. Der alte Mann fällte das Tänn­chen. Und was tat unser Tänn­chen, wäh­rend Natur, Tier und Mensch sein Schicksal bestimmten: nichts.

Auf­grund der „Pas­si­vität“, des „majes­tä­ti­schen Wesens“ und des gleich­zei­tigen „äußeren Gleich­muts“ wurde das rus­si­sche Volks­lied „Das Tänn­chen“ (Eločka) als Inbe­griff des Rus­si­schen in den Kanon der Welt­li­te­ratur erhoben. Und zwar vom „Roten Matrosen“ (Krasnyj Matros), einem kleinen Peters­burger Verlag, dessen Publi­ka­tionen sich in der post­so­wje­ti­schen Zeit auf eine eigen­ar­tige Suche nach der rus­si­schen Iden­tität begeben – aller­dings in durchaus kunst­vollem opti­schem Gewand.

 

trinkendemitki

Die Haupt­fi­guren des „Roten Matrosen“ sind neben passiv erha­benen Tänn­chen, fried­liche Nord­völker, die einen Hasen­kult betreiben, ein­fache Bäue­rinnen und Gou­ver­nanten des zaris­ti­schen Russ­lands, sowje­ti­sche Arbeiter, die jubelnd eine Nike­statue aus­graben und andere sym­pa­thi­sche Volks­helden, die – aus­ge­stattet mit der rus­si­schen Seele – nicht frei von mensch­li­chen Makeln sind. Auch große his­to­ri­sche Per­sön­lich­keiten wie Lenin, Stalin, Darwin, Marx oder Puškin tanzen im folk­lo­ris­ti­schen Reigen des „Roten Matrosen“. Nicht zu ver­gessen sind die bär­tigen See­männer in blau-weiß gestreiften Matro­sen­hemden, die durch die Werke gehen oder tor­keln. Und zu ihnen gehört der rote Matrose selbst, Michail Sapego, der zugleich Ver­leger, Pro­du­zent, Redak­teur, Händler, Kurier aber auch Schrift­steller des gleich­na­migen Ver­lags ist.

Michail Sapego hat tat­säch­lich vor seiner ver­le­ge­ri­schen Tätig­keit im fernen Nord­meer als Matrose gedient. Dann kam die Pere­strojka und alles wurde anders. Er verlor seine Arbeit und machte sein Hobby zum Beruf. 1995 gab er im Selbst­verlag ein rotes Buch heraus mit Gedichten im Stil japa­ni­scher Haiku (Raz­roz­nennye XE), auf dem mit großen Let­tern Matros geschrieben stand. Wei­tere Ver­öf­fent­li­chungen von seinen Freunden folgten, und so ent­wi­ckelte sich Buch für Buch der kleine Ein­mann­be­trieb unter dem Label Krasnyj Matros.

 

razrosnennye

Sapegos Freunde sind die mit’ki, Künstler in blau-weiß gestreiften Rin­gel­hemden, die sich in den acht­ziger Jahren jen­seits des Schwarz-Weiß-Ras­ters aus Anpas­sung und Wider­stand zu einer Künst­ler­gruppe for­mierten und es sich gemüt­lich machten in den Grau­be­rei­chen der Sowjet­ge­sell­schaft. Das „mit­ki­sche Mani­fest“ von 1985 „für die neue Jugend­mas­sen­be­we­gung im Stil der Hip­pies oder Punks“ skiz­ziert fried­liche, gut­mütig-unbe­hol­fene Naiv­linge in Matro­sen­hemden, die sich einer infan­tilen Sprache bedienen, ange­häuft mit Zitaten aus sowje­ti­schen Filmen und den unüber­setz­baren Aus­drü­cken dyk (je nach Into­na­tion und Gestik fast alles bedeu­tend) und oppan’ki (Beschrei­bung einer Hand­lung, die die mit´ki erstaunt) und elki-palki (drückt die ganze Gefühls­pa­lette von Ver­let­zung, Bedauern, Begeis­te­rung, Ent­schul­di­gung, Freude bis Angst und Wut aus). Man genießt das Fau­lenzen und die brü­der­liche Gemein­schaft, man trinkt gern, man betont die eigene Lebens­un­tüch­tig­keit, Kom­merz, elki-palki, hat nie­manden zu inter­es­sieren, dyk! Volks­nähe, Ortho­doxie und Selbst­be­stim­mung sind die drei Haupt­schlag­worte der mit­ki­schen Weltanschauung.

 

dyk

Die mit’ki, was soviel wie „kleine Dmit­rijs“ bedeutet, exis­tieren im Unter­schied zu den zahl­rei­chen Grup­pie­rungen des sowje­ti­schen Unter­grunds immer noch. Sie illus­trieren und gestalten einen Groß­teil der Bücher des Krasnyj Matros und schreiben außerdem für den Verlag. Einige ihrer Texte, die in den 80er Jahren im dama­ligen Sami­zdat kur­sierten – dem Selbst­verlag der inof­fi­zi­ellen Lite­ra­tur­szene –, erlangen im Krasnyj Matros erst­mals Druckqualität.

Maksim und Fjodor, ein Werk des Haupt­theo­re­ti­kers Vla­dimir Šin­karev, das 1980 ent­standen und 1998 im Krasnyj Matros erschienen ist (und im selben Jahr auf Deutsch im Berlin Verlag), berichtet von zwi­schen Alkohol und Kater hin- und her­tau­melnden mit’ki, die in ihren mie­figen Peters­burger Kom­mu­nal­woh­nungen über Zen-Bud­dhismus nach­denken und zu den phi­lo­so­phischsten Schluss­fol­ge­rungen kommen: „’Zen’, sagte Piotr, der ele­gante, aber nicht sehr tief­sin­nige Ver­gleiche liebte, ’das ist die Fähig­keit, mit einer Vier­tel­li­ter­fla­sche Wodka zwei ganze Was­ser­gläser zu füllen.’ ’Mit einer leeren’ fügte Was­silij hinzu. Maxim rich­tete den Blick auf Fjodor. ’Und den Wodka nicht zu trinken’, sprach Fjodor. Maxim nickte zufrieden und sagte: ’Und ihn nicht in die Gläser zu füllen.’“ Die exo­ti­sche Mixtur aus Spi­ri­tuosen und Spi­ri­tua­lität ergibt unter­halt­samen Unsinn.

 

maksim

Die mit’ki sind sich in der post­so­wje­ti­schen Zeit treu geblieben. Sie kul­ti­vieren immer noch das brü­der­lich gelebte Kol­lektiv (eigent­lich gehören auch ein paar wenige Schwes­tern dazu, die ab und zu publi­zieren dürfen, haupt­säch­lich aber Vor- und Nach­worte zu den brü­der­li­chen Ergüssen ver­fassen), haben sich jedoch von ihrem wich­tigsten Bruder ver­ab­schiedet, dem Alkohol. Auf Buch­prä­sen­ta­tionen wird nur noch Tee ange­boten und böse Zungen mun­keln, dass den mit’ki mit dem Alkohol auch die Inspi­ra­tion abhanden gekommen sei. An dessen Stelle breitet sich ein neues – man könnte sagen – post­so­wje­ti­sches Thema aus: die Anti­poden „Heimat“ (rodina) und „Aus­land“ (zagra­nica). Unter „Heimat“ ist die Ver­gan­gen­heit der acht­ziger Jahre im Unter­grund der Peters­burger Heiz­keller zu ver­stehen, die in (n)ostalgischem Ton­fall besungen wird: „Oh, wie alles gut war! Wie gut alles war…“ (1983 god von Viktor Šagin, 1993). Mit „Aus­land“ ist nicht nur der schwe­di­sche und der fin­ni­sche Wodka gemeint und die anderen zahl­rei­chen aus­län­di­schen Pro­dukte, die seit der Öff­nung die rus­si­schen Märkte über­schwemmen, son­dern in erster Linie das heu­tige, post­so­wje­ti­sche Russ­land: Eine fremd­ge­wor­dene Heimat, die von einem eli­tären, kom­mer­zi­ellen Kunst- und Buch­markt bestimmt wird, der keine Grenze zwi­schen Offi­zi­ellem und Inof­fi­zi­ellem kennt, dem Unter­grund somit seine Grund­lage genommen und die vielen dünnen Schreib­ma­schi­nen­seiten des Sami­zdat zum Ver­schwinden gebracht hat. Michail Sapego und die mit’ki tun das, was sie vor der Pere­strojka getan haben: Sie ziehen sich zurück aus dem öffent­li­chen und poli­ti­schen Leben in ihre fried­lich-infan­tile Welt, tanzen ihre eigenen Tänze und leben wei­terhin nach der alt­be­währten Devise, die jeg­li­chem aktiven Wider­stand ent­sagt: „Wir wollen nie­manden besiegen“ (My ne chotim nikogo pobedit’).

 

pljaski

Auch der Verlag Krasnyj Matros funk­tio­niert nach den aus den acht­ziger Jahren in die Jetzt­zeit eines markt­wirt­schaft­lich funk­tio­nie­renden Buch­marktes hin­über­ge­ret­teten „mit­ki­schen“ Regeln. Ein­nahmen, die durch den Ver­kauf eines Buches erzielt werden, ermög­li­chen die Her­aus­gabe des nächsten Buches. Reich kann man so nicht werden. Wich­tiger als das Geld ist Sapego die Freude an der Arbeit. Seinen Verlag sieht er als Fort­set­zung ille­galer Haus­kon­zerte und Aus­stel­lungen zu Sowjet­zeiten, bei denen nicht Kom­merz im Vor­der­grund stand, son­dern das Bei­sam­men­sein und die gute Musik. Und darum geht es ihm, dass Leute – auch wenn es nur wenige sind – gute Bücher lesen können.

Dafür gehen Sapego und seine Brüder in die Archive, spüren in Anti­qua­riaten ver­grif­fenen  Büchern mit Mär­chen, Volks­lie­dern und Legenden nach, reisen auf den Spuren fast ver­ges­sener Helden in abge­le­gene Gou­ver­ne­ments und schreiben, zeichnen und bas­teln an der Auf­er­ste­hung des idealen Russlands.
Die rus­sisch-sowje­ti­sche Ver­gan­gen­heit, in deren Umfeld Her­aus­geber und Schrift­steller des Krasnyj Matros sozia­li­siert wurden, erfährt in den Druck­ma­schinen des „Roten Matrosen“ bis­weilen eine fan­ta­sie­voll ver­spielte Wie­der­ge­burt. Die von Sapego ent­wi­ckelte Reihe PRO ver­öf­fent­licht Augen­zeu­gen­be­richte von der großen Lenin­grader Über­schwem­mung im Jahre 1923, Erin­ne­rungen einer Bäuerin, die 1903 als Gou­ver­nante nach Peters­burg kam, und ein Volks­lied über den bei­nahe ver­ges­senen Helden Rjabov, der sich als Kund­schafter in die japa­ni­sche Armee ein­ge­schleust hatte.
Pro Špionov 2001 (Über Spione) wie­derum ver­sam­melt Zei­tungs­ar­tikel der Kras­naja Zvezda-(Roter Stern)-Ausgabe von 1938 über die Ent­tar­nung von Spionen. Diese Geschichten bedürfen kei­nerlei zusätz­li­cher Bear­bei­tung, um ein Charms’sches Niveau an Absur­dität zu erlangen. In dem Buch erfährt man pikante Details: Der böse, mas­kierte, mit Messer und Pis­tole bewaff­nete aus­län­di­sche Spion lauert in jeder Ecke der fried­li­chen, arbeit­samen Sowjet­ge­sell­schaft ein­ge­mummt in den vatnik (Wat­te­jacke). Diese Haupt­be­klei­dung der Spione bietet man­cherlei Kom­fort: sie ist bequem, warm, sieht sowje­tisch aus, sie dämpft Schläge und federt ab beim Her­un­ter­fallen von Dächern oder Bal­kons. PRO Čapaev basiert nicht auf his­to­ri­schen Doku­menten, son­dern setzt dort an, wo Čapaev, der bekannte General der Roten Armee, aus der Geschichte trat. In Form einer Volks­er­zäh­lung rettet sich der – hier nur bei­nahe – Ertrun­kene und ver­steckt sich fortan in einer kir­gi­si­schen Jurte vor den vor­bei­zie­henden Kosaken.

 

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Der rote Matrose bringt erstaun­liche Geschichten ans Tages­licht. Solche, die von Gene­ra­tion zu Gene­ra­tion im Volks­ge­dächtnis wei­ter­ge­geben worden sind und bei­nahe in Ver­ges­sen­heit geraten wären. Solche, denen nur ein biss­chen nach­ge­holfen wird. Und solche, die von Anfang bis Ende erstunken und erlogen sind. Wen küm­mert es, wenn es darum geht, das Mär­chen eines idealen Russ­lands und seiner Helden fiktiv zu erschaffen?

Bei der Umset­zung dieses ehr­gei­zigen Pro­jekts ver­greift sich der „Rote Matrose“ auch gerne an den Meis­ter­werken der Welt­li­te­ratur und an deren Autoren. Es werden nicht nur die fik­tiven Erin­ne­rungen von Daniil Charms ver­fasst und illus­triert. Šin­karev erschafft gar einen neuen Kanon der Welt­li­te­ratur (Vsemirnaja lite­ra­tura) in seinen als Comics ange­legten Bil­dern, indem er die Illus­tra­tion des ein­gangs beschrie­benen Tänn­chens zwi­schen Dostoevs­kijs „Schuld und Sühne“ und Kafkas „Die Ver­wand­lung“ ver­pflanzt und kur­zer­hand auch die Natio­nal­hymne des nor­di­schen Noma­den­volkes Fižm in den Rang der Welt­li­te­ratur erhebt. In diesen Kanon plat­ziert er auch den „Düs­teren Roman“ (Mračnyj roman) – einen grau-schwarzen, kon­tu­ren­losen Comic – als Sinn­bild der zahl­rei­chen schlecht gedruckten aus­län­di­schen Bücher des Sami­zdat. Und natür­lich wird auch der wahr­haftig rus­si­sche Poet Puškin in einem wei­teren Buch des „Roten Matrosen“ unter die mit­ki­sche Lupe genommen.

 

vsemirnaja

Die wacke­ligen mit Schreib­ma­schine getippten Vers­zeilen klingen irgendwie ver­traut. Bekannt erscheint einem auch die mit Tinte gezeich­nete Figur, die unten rechts auf jeder Seite sitzt. Es könnte ein kleiner Puškin mit Stock und Zylinder sein. In „Puškins Eugen Onegin“ (Evgenij Onegin Puškina) wird das Meis­ter­werk und der Kanon der sowje­ti­schen Ver­gan­gen­heit vom Mos­kauer Kon­zep­tua­listen Dmitrij Prigov ab- und im Stil Ler­mon­tovs umge­tippt, um – so Prigov – die düs­tere, wahr­haf­ti­gere Seite der rus­si­schen Kultur in Puškins Text ein­zu­bringen. Die Pri­gov­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit Puškin, das Ab- und Umschreiben des Ori­gi­nals und das damit ver­bun­dene Auf­de­cken eines sich im Gedächtnis der Leser­schaft ver­selb­stän­di­genden Mythos der rus­si­schen Kultur wird in der Aus­gabe des „Roten Matrosen“ noch zusätz­lich durch die gra­phi­schen Gestal­tung ver­fremdet. Das schmale Heft stellt eine vor­la­ge­ge­treue Nach­bil­dung des damals im Sami­zdat kur­sie­renden Ori­gi­nals dar – mit Aus­nahme der Puškin-Kari­katur von mitek (so die Ein­zahl) Alek­sandr Flo­ren­skij. Wenn man das Buch wie ein Dau­men­kino schnell durch­blät­tert, hebt Mini-Puškin den Zylinder und setzt ihn wieder ab. Doch vor wem? Vor einer Leser­schaft, die ihn zum Helden sti­li­sierte? Die Puškin aus­wendig kennt und nicht mehr liest?
Sicher ist, dass der Verlag mit Kon­zep­tua­lismus eigent­lich nicht viel am Hut hat. Des­halb ist es wohl eher Pri­govs Suche nach der wahren rus­si­schen Wesensart als die Ent­mys­ti­fi­zie­rung des geschrie­benen Wortes, die die mit´ki  hier inter­es­sieren. Die mit’ki wollen nicht dekon­stru­ieren, son­dern viel­mehr kon­stru­ieren: Sie arbeiten am Rus­si­schen Mär­chen und kon­kret am Mär­chen des „Roten Matrosen“.

 

prigov

Wer mit kind­li­chen Spie­le­reien und dem märchenhaft-folkloristisch-
his­to­risch-mytho­lo­gi­schen Genre dieser Bücher nichts anfangen kann, der sollte dem Verlag doch eine Chance gegeben. Denn gerade in seinem Inter­esse für Nicht­kom­mer­zi­elles gibt der „Rote Matrose“ Debü­tanten heraus, die man sonst nicht ken­nen­lernen könnte.

Zu den grossen Ent­de­ckungen des Ver­lags gehört auch die Mos­kauer Gruppe Osumasše­dšie bezumcy (Ver­rückt gewor­dene Dumm­köpfe) um Miroslav Nemirov, die im Krasnyj Matros ihr Publi­ka­ti­ons­organ gefunden hat. Einer der wich­tigsten Dichter dieser Gruppe ist Andrej Rodi­onov, ein soge­nannter mno­gost­a­nočnik (Arbeiter, der meh­rere Maschinen zugleich bedient – oder zu Deutsch: ein Hans­dampf in allen Gassen). Der ehe­ma­lige Leader einer Punk­band, der Rapper und Slam­poet ist zu jung, als dass ille­gale Haus­kon­zerte und Aus­stel­lungen in Pri­vat­woh­nungen der Acht­ziger ihn maß­geb­lich hätten prägen können, führt jedoch einen für dama­lige Intel­lek­tu­elle und Dis­si­denten typi­schen, man könnte sagen einen „mit­ki­schen“ Lebens­stil: Er arbeitet unter­tage im Theater als Färber und ver­dient so seinen Unter­halt, seine wahre Bestim­mung sieht er aber in der Literatur.
Zwei Gedicht­bände von ihm sind im Krasnyj Matros erschienen: Dobro poža­lovat’ v Moskvu (Will­kommen in Moskau, 2003) und pel’meni ustricy (Pel´meni Aus­tern, 2004). Letz­teres stellt eines der schönsten  Bücher des „Roten Matrosen“ dar. Das Buch ist zusam­men­ge­bas­telt aus grau-beigem Gebraucht­pa­pier, zusam­men­ge­halten von einem grob gewo­benen Tuch. In seiner Machart erin­nert es an die hand­ge­fer­tigten Bücher des in vor­gu­ten­ber­gi­sche Ver­hält­nisse zurück­ge­wor­fenen Samizdat.
Rodi­o­novs Gedichte berichten in ein­fa­chem, umgangs­sprach­li­chem Jargon vom Alltag in den Mos­kauer Rand­be­zirken, von bil­ligem Alkohol, Drogen, Prü­ge­leien und Armut. In diesem Milieu geis­tern jedoch auch Ach­ma­tova und Ras­putin und andere Gestalten der rus­si­schen Ver­gan­gen­heit umher. Ihr Zusam­men­treffen mit der banalen Sprache und dem harten post­so­wje­ti­schen Alltag lässt so manche Legende und Hel­dentat in Par­odie umschlagen.

 

pelmeni

Im Krasnyj Matros melden sich Stimmen der ehe­mals sowje­ti­schen alter­na­tiven Kul­tur­szene zu Wort, die im Gegen­satz zu vielen anderen nicht ver­stummt sind. Der Verlag probt jedoch nicht nur den Sprung zurück in Geschichte und Folk­lore, son­dern ver­leiht auch jün­geren Ori­en­tie­rungs­losen des heu­tigen Russ­lands Gehör, die ihre Befind­lich­keit aus einer anderen als in die Ver­gan­gen­heit gerich­teten Per­spek­tive reflektieren.
Mitt­ler­weilen sind genau 88 Bücher im Verlag erschienen, in jeweils „homöo­pa­thi­schen“ Auf­lagen von 500 bis 1000 Exem­plaren. Die ein­zelnen Bände sind durch­num­me­riert, haben einen Samm­ler­wert und sind ent­spre­chend schwer zu bekommen. In grossen Buch­läden findet man den „Roten Matrosen“ nicht. Er steht in den Regalen kleiner alter­na­tiver Buch­hand­lungen in Moskau und Sankt Peters­burg – Ad mar­ginem, Pro­jekt O.G.I., Gileja, Gale­rija Borej. Und es lohnt sich, die meist schmalen Bände durch­zu­schauen. Die kurzen, ori­gi­nell illus­trierten Bücher lassen den Leser selbst zum fan­ta­sie­vollen Co-Autor werden und mit­dichten am Mär­chen vom Roten Matrosen und der rus­si­schen Seele. Denn wenn er nicht gestorben ist, sucht er die noch heute.

 

 

Im Verlag Krasnyj matros erschienen:

Prigov, Dmitrij: Evgenij Onegin Puškina. Sankt-Peter­burg 1998.
Rodi­onov, Andrej: Dobro poža­lovat´ v Moskvu. Stichi. Sankt-Peter­burg 2003.
Rodi­onov, Andrej: Pel´meni ustricy”. Sankt-Peter­burg 2004.
Šagin, Dmitrij: Dyk!. Stichi. Sankt-Peter­burg 2002.
Sapego, Michail (Hg.): Pro Čapja. Narodnyj skaz. Serija „PRO…“ – Kniga tret´ja. Sankt-Peter­burg 2000.
Sapego, Michail (Hg.): Pro navod­nenie v Lenin­grade 23 sent­ja­brja 1924 goda. Serija “PRO…” – kniga sed´maja. Sankt-Peter­burg 2003.
Sapego, Michail (Hg.): Pro špionov. Po mate­ri­alam gazety “Kras­naja Zvezda” za 1938 god. Serija “PRO…” – kniga šestaja. Sankt-Peter­burg 2001.
Sapego, Michail: Pro raz­ve­dčika Rjabov. Serija “PRO…”- Kniga tret´ja. Sankt-Peter­burg 1999.
Sapego, Michail: Raz­proz­nennye XE. Stichi. Sankt-Peter­burg 1995.
Šin­karev, Vla­dimir: Maksim i Fedor. Vešč´ v trech čast­jach. Sankt-Peter­burg 1998.
Šin­karev, Vla­dimir: Mit´ki. Sankt-Peter­burg 1998.
Šin­karev, Vla­dimir: Vsemirnaja lite­ra­tura. Sankt-Peter­burg 1998.

 

Auf Deutsch erschienen:
Schin­karjow, Wla­dimir: Maxim und Fjodor. Berlin Verlag. 1998 Berlin.

Holm, Kerstin: Der Bär als Butler. Kin­der­phan­ta­sien mit glo­balem Zugriff: Die Peters­burger Künst­ler­gruppe „Mit´ki“. In: FAZ 7.1.1998. Nr. 5, S. 29.

Dutli, Ralph: Besin­nung in schräger Lage. Geis­ter­be­täu­bungen: Wla­dimir Schin­kar­jows „Maxim und Fjodor”. In: FAZ 16.10.1998.

 

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http://mitki.kulichki.net [home­page der mit´ki]