Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Von fremden Frauen und einer „Sprache, die der Musik hinterherläuft“

Ost­eu­ro­päi­sche Schrift­stel­le­rinnen dis­ku­tieren auf dem Wech­sel­strom-Sym­po­sium in Berlin

 

„Auch die offi­zi­elle Lite­ra­tur­kritik unter­scheidet nicht zwi­schen Texten von Frauen oder Män­nern, son­dern zwi­schen sol­chen mit oder ohne Schwei­ne­reien“, meint die junge Thea­ter­ma­cherin Nico­leta Esi­nencu und blockt damit die an sie gerich­tete Frage nach spe­zi­fisch “weib­li­chem Schreiben“ ab. Das Stück, das die Mol­dauerin schlag­artig bekannt gemacht hat, heißt Fuck you Eu.Ro.Pa! (2005). Ob es ein guter Text ist und wieso er geschrieben wurde, das sei die ent­schei­dende Frage und nicht, ob er von einer Frau oder einem Mann stammt, unter­streicht sie weiter und zitiert eine Freundin, die auf die Frage nach ihrer sexu­ellen Iden­tität zu bedenken gibt: „Wie soll ich meine sexu­elle Iden­tität wissen, wenn ich nicht einmal weiß, welche Natio­na­lität ich habe.“

 

Offen­sicht­lich sind es andere Fragen und Themen, die Nico­leta Esi­nencu als Gast des Sym­po­siums Wech­sel­strom – Frauen im mittel- und ost­eu­ro­päi­schen Lite­ra­tur­be­trieb unter den Nägeln brennen. Und davon han­deln ihre Stücke: von Natio­na­lismus, Hass und Unter­drü­ckung, von Iden­ti­täts­krisen, vom Tur­bo­ka­pi­ta­lismus und ent­täuschten Hoff­nungen im post­so­wje­ti­schen Alltag. Nico­leta Esi­nencu, die gerne als „enfant ter­rible“ der mol­daui­schen Lite­ra­tur­szene bezeichnet wird, will nicht so recht in den Rahmen des Sym­po­siums passen, das sich den Frauen ver­schrieben hat – den Frauen und Osteuropa.

 

Noémi Kiss, Kathrin Röggla, Ilma Rakusa, Nicoleta Esinencu

Noémi Kiss, Kathrin Röggla, Ilma Rakusa, Nico­leta Esinencu

Zur Tagung, die bereits als drittes Wech­sel­strom-Ereignis Syn­er­gien im kul­tu­rellen Aus­tausch zwi­schen Ost und West, zwi­schen Schrift­stel­le­rinnen und Mitt­le­rinnen erzeugen will, sind aus­schließ­lich Frauen geladen. Auf dem Podium im Lite­ra­ri­schen Col­lo­quium Berlin und zuvor in der Stif­tung Bran­den­burger Tor sitzen Lek­to­rinnen, Lite­ra­tur­agen­tinnen, Ver­le­ge­rinnen, Über­set­ze­rinnen, Redak­teu­rinnen, Kul­tur­ma­na­ge­rinnen und Schrift­stel­le­rinnen. Sie dis­ku­tieren über kul­tu­relle Umbrüche und die neue Lite­ra­tur­land­schaft in Ost­eu­ropa seit den 1990er Jahren, unter­halten sich über Wech­sel­wir­kungen und  Wahr­neh­mungen zwi­schen Ost und West, bespre­chen weib­liche künst­le­ri­sche Posi­tionen, tragen Texte vor und berichten über eigene Kul­tur­pro­jekte. „Sie alle haben die poli­ti­schen und kul­tu­rellen Umbrüche in Ost­eu­ropa erlebt und mit Ideen­reichtum und Enga­ge­ment neue lite­ra­ri­sche Räume geschaffen“, so die Orga­ni­sa­to­rinnen Ste­fanie Steg­mann, Kateryna Stets­evych und Kata­rina Toijč. Die drei Pro­jekt­lei­te­rinnen wollen mit Wech­sel­strom nicht nur den Anteil der Frauen am Aufbau der Kultur- und Lite­ra­tur­szene in den Vor­der­grund rücken, son­dern vor allem die Ver­net­zung der Frauen im mittel- und ost­eu­ro­päi­schen Lite­ra­tur­be­trieb ver­stärken und Schrift­stel­le­rinnen direkt mit Mitt­le­rinnen, Ver­le­ge­rinnen und Über­set­ze­rinnen zusammenführen.

Slavenka Drakulić, Herta Müller, Katharina Raabe, Svetlana Alekseevič, Claudia Dathe

Slavenka Dra­kulić, Herta Müller, Katha­rina Raabe, Svet­lana Alek­seevič, Claudia Dathe

Es sind lite­ra­ri­sche Grandes Dames, die geladen wurden, wie Herta Müller (*1953), Slavenka Dra­kulić (*1949) oder Svet­lana Alek­seevič, deren Schaffen durch Dik­tatur und Krieg geprägt ist und durch das unfrei­wil­lige Exil in einem fremden Land. Ihre vor­ge­tra­genen Texte han­deln von der Angst vor „win­digen“ Men­schen und Mord­dro­hungen der Geheim­po­lizei, von Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gungen wäh­rend des Jugo­sla­wi­en­kriegs, von Trau­mata, die der Kom­mu­nismus erzeugt hat und von den ver­lo­renen Idealen und der Halt­lo­sig­keit in der post­kom­mu­nis­ti­schen Welt.
Neben Nico­leta Esi­nencu (*1978), deren Stück √.md letztes Jahr auf dem Fes­tival Mol­dova Cam­ping im Ber­liner HAU zu sehen war, haben auch die anderen jün­geren Schrift­stel­le­rinnen bereits von sich hören lassen – nicht nur im eigenen Land. Der Erzähl­band Was geschah, wäh­rend wir schliefen (ungar.: Trans, 2008) der unga­ri­schen Schrift­stel­lerin und Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­terin Noémi Kiss (*1974) ist im Februar 2009 im Verlag Matthes & Seitz her­aus­ge­kommen. Aus ihrem Debüt­werk hat Noémi Kiss auf der dies­jäh­rigen Leip­ziger Buch­messe und auf Lese­reisen durch ganz Deutsch­land mehr­fach gelesen. Die Gedichte der Weiß­russin Valžyna Mort (*1981), deren Rhythmus und Musi­ka­lität die junge Lyri­kerin in Lese­per­for­mances fast sin­gend vor­trägt, sind größ­ten­teils ins Eng­li­sche über­tragen und 2008 mit dem Hubert-Burda-För­der­preis für ost­eu­ro­päi­sche Lyrik aus­ge­zeichnet worden. Gerade ist ihr von Katha­rina Nar­bu­tovič ins Deut­sche über­tra­gener Gedicht­band Trä­nen­fa­brik in der Edi­tion Suhr­kamp erschienen.

Es sind unter­schied­lichste Frauen, die manchmal mehr, manchmal weniger am Thema Frau, an spe­zi­fisch weib­li­chen lite­ra­ri­schen Ver­fahren, an Fragen nach Gleich­stel­lung und lite­ra­ri­schen Müt­tern inter­es­siert sind. Ihnen gemeinsam ist, dass sie als Ver­tre­te­rinnen der „kleinen Spra­chen“ unfrei­willig zu einem Min­der­hei­ten­pro­gramm inner­halb des Lite­ra­tur­marktes gehören, das gerade mal ein Pro­zent der jähr­lich auf dem deut­schen Buch­markt publi­zierten Über­set­zungen aus­macht. Als Min­der­heit inner­halb eines Min­der­hei­ten­pro­gramms wollen sich viele der Teil­neh­me­rinnen jedoch kei­nes­falls sehen. Und ent­spre­chend unter­schied­lich fallen die Dis­kus­si­ons­bei­träge und Ein­schät­zungen der Situa­tion der Frau im lokalen Lite­ra­tur­be­trieb aus.

 

„Blinde Gen­der­fle­cken“ und Noten, die zu Buch­staben werden 

Wäh­rend die Ver­mitt­le­rinnen aus dem deutsch­spra­chigen Raum – unter anderem Katha­rina Raabe (Suhr­kamp Verlag), Anne­marie Türk (Kul­tur­Kon­takt Aus­tria), Iris Klose (Frank­furter Buch­messe), Claudia Dathe (Über­set­zerin) – über das Phä­nomen „Fräu­lein Wunder“ dis­ku­tieren, den Kul­tur­be­trieb nach „blinden Gen­der­fle­cken“ absu­chen, frau­en­feind­liche Struk­turen bei Sti­pen­di­en­aus­schrei­bungen aus­ma­chen und die Frage auf­werfen, wieso es Frauen immer noch schwerer haben im Lite­ra­tur­be­trieb als Männer, sieht Valžyna Mort für Weiß­russ­land gerade im Frau­sein eine lite­ra­ri­sche Chance. Denn wäh­rend die Männer zurück auf die bela­rus­si­sche Tra­di­tion bli­cken, müssen die Frauen, die nie Teil dieses Kanons waren, nach Vorne schauen und Neues aus­testen. Die Frau expe­ri­men­tiere mit Form und Inhalt und pro­biere lite­ra­ri­sche Posi­tionen aus. Sie schreibe nicht, um in den Kanon zu passen, wäh­rend die lite­ra­ri­sche Tra­di­tion die Männer oft zurück­werfe, so die junge Lyrikerin.

Claudia Dathe, Iris Klose, Sabine Adler, Alexandra Büchler, Annemarie Türk

Claudia Dathe, Iris Klose, Sabine Adler, Alex­andra Büchler, Anne­marie Türk

Am aus­kunfts­freu­digsten in Sachen Frau und „weib­li­chem Schreiben“ zeigt sich Noémi Kiss. Sie inter­es­siert sich explizit für die „weib­liche Stimme“, die im unga­ri­schen Lite­ra­tur­be­trieb bisher unge­hört und unsichtbar gewesen sei: „Erst war der Dis­kurs der Befreiung von Russ­land wichtig, dann die eigene Natio­na­lität. Dabei blieben Frau und Gleich­be­rech­ti­gung auf der Strecke.“ Nicht nur das unga­ri­sche Par­la­ment, son­dern auch Feuil­le­tons, Lite­ra­tur­zeit­schriften und Ver­lage seien von Män­nern besetzt. Frau werde zwar gelesen, jedoch von der Lite­ra­tur­kritik nicht akzep­tiert und als unzu­gäng­lich emp­funden – so ihr ernüch­tertes Fazit.
Nach Noémi Kiss ist die Lite­ratur von ent­schei­dender Bedeu­tung für die Ent­wick­lung eines femi­nis­ti­schen Den­kens in Ungarn und für die Fes­ti­gung einer neuen kul­tu­rellen  Reprä­sen­ta­tion der Frau, jen­seits von gesell­schaft­li­chen Ste­reo­typen: weder Super­frau des sozia­lis­ti­schen „Schein­fe­mi­nismus“, noch bloßer lite­ra­ri­scher Stoff, son­dern Sub­jekt und schöp­fe­ri­sches Wesen, das als sol­ches ernst genommen wird. Die weib­liche Iden­tität zu suchen, sie zu ver­ar­beiten, eine Sprache zu finden und damit ein neues Frau­en­bild zu fes­tigen, dabei spiele die Lite­ratur eine zen­trale Rolle. „Es braucht Zeit, bis die Frau nicht mehr fremd ist in der unga­ri­schen Lite­ratur. Und wenn es soweit ist, suche ich nach anderen Themen“, meint die junge Autorin.

Auf dem Weg zu einer weib­li­chen Iden­ti­täts­suche begeben sich die Figuren ihres neuen Erzähl­bandes Was geschah, wäh­rend wir schliefen in Grenz­be­reiche aller Art, zur deutsch-pol­ni­schen Grenze nach Słu­bice und Frank­furt etwa. Sie tasten sich vor in sprach­liche Grenz­re­gionen des Sag­baren, testen im Exzess Grenzen am eigenen und fremden Körper aus und drohen sich im Dro­gen­rausch auf­zu­lösen. Die Grenze ist eine Linie auf der Land­karte, ein Wort im Text, das sich buch­sta­bieren lässt, ein bloßes Symbol, aber auch phy­sisch am eigenen Körper erfahrbar. „Wer bin ich? Ein gren­zen­loser Orga­nismus, der alles aus­hält. Ein gesunder Orga­nismus, der sich mit der Zeit in seine Teile auf­löst. Die Grenze meiner Welt sind die Teile meines Kör­pers“, heißt es in der Kurz­ge­schichte G wie stumme Grenze.

Noémi Kiss, Katharina Raabe

Noémi Kiss, Katha­rina Raabe

Valžyna Morts Motor für ihr Schreiben ist ein anderer. Eigent­lich wollte sie Opern­sän­gerin werden, hat dann den wei­chen Klang und Sing­sang des Weiß­rus­si­schen ent­deckt, „einer Sprache, die der Musik hin­terher läuft“ (siehe das Schluss­wort zum Gedicht­band Trä­nen­fa­brik), und sie nun­mehr als ihr Instru­ment benutzt. Wenn Aus­drücke bestimmte Gefühle wecken sollen, greift die Lyri­kerin, die mit Rus­sisch groß geworden ist, jedoch zum rus­si­schen Wort, zum Bei­spiel zum Wort für Brust­warze (sosok), das sie als Kind nur kichernd aus­zu­spre­chen wagte. Und dafür nimmt sie gerne Zwi­schen­rufe von Zuhö­rern in Kauf, die kor­ri­gie­rend Brust­warze auf Bela­rus­sisch in den Raum schreien – als ob sie das Wort nicht gewusst hätte.

Valžyna Mort sieht in der „letzten Dik­tatur Europas“ eine aus­ge­spro­chen leben­dige junge Lite­ra­tur­szene, die auf Weiß­rus­sisch schreibt. „Ich fühle mich sehr alt, wenn ich nach Hause komme“, meint die gerade mal 28-jäh­rige, die seit vier Jahren in Washington wohnt, und unter­streicht damit die jugend­liche Fri­sche und Dynamik der bela­rus­si­schen Lite­ra­tur­szene, die davon lebt, per­ma­nent mit Schwie­rig­keiten umgehen zu müssen. Wer seine Texte ver­öf­fent­li­chen will, muss sie selbst her­aus­geben. Künstler werden zu Ver­le­gern, gründen den Verlag Gali­jafy oder die Lite­ra­tur­zeit­schriften Dze­jaslou und pAR­Tisan.

Katharina Narbutovič, Meike Schlüter, Valžyna Mort

Katha­rina Nar­bu­tovič, Meike Schlüter, Valžyna Mort

In einem anderen Land leben zu können, sich einer anderen Sprache und Lite­ratur aus­zu­setzen und das Ohr für eine andere Poesie zu „tunen“ sieht Valžyna Mort, die an der Uni­ver­sity of Bal­ti­more Krea­tives Schreiben unter­richtet, als große Berei­che­rung für das eigene Schaffen: „So kann man einen neuen Blick in die eigene Sprach­küche werfen und aus den unter­schied­li­chen Zutaten neu schöpfen.“ Wenn Mort ihre so zusam­men­ge­brauten Gedichte vor­liest, zieht die Vor­trags­künst­lerin alle Register: Vom Wiegen- oder Volks­lied bis zum reso­luten Agit­prop-Gesang, dahin­ge­schmet­tert wie eine Opern­arie oder gehaucht wie Jazz trägt sie ihre Texte vor, teil­weise begleitet von ihrem Akkor­deon. Wie wichtig Musik – in unter­schied­lichsten Varia­tionen – für ihre Dich­tung ist, lässt sich an den fol­genden Zeilen aus dem Gedicht Männer (Mužčyny) gut illustrieren:

 

 

(…)
sie ziehen mich aus als ent­klei­deten sie sich selbst,/
und halten mich in den armen wie ein saxophon./
und diese musik, ihre bluesmusik,/
fließt wie die milch aus mutterbrüsten./
solch hohe noten meis­tern die men­schen nicht,/
solch hohe noten fürchten die götter./
(…)

 

In ihren Gedichten füllt Valžyna Mort das Weiß­rus­si­sche, das wie ein fremdes Kind „blau ange­laufen auf der fens­ter­bank liegt“ (Die Weiss­rus­si­sche Sprache II),mit Leben, erzeugt mit Worten musi­ka­li­schen Klang und spielt mit musi­ka­li­schen Formen, mit Motiven, die immer wieder auf­tau­chen, mit unter­schied­li­chen Refrains, schnellen und lang­samen Rhythmen. Sie lässt Noten zu Buch­staben werden und träumt davon, Bel­mondos Film A bout de souffle in eine Oper umzu­schreiben. „Ich stelle mir ein Gedicht als Stück vor, das mit Instru­menten, Chören und als Duett zwi­schen Solisten vor­ge­tragen wird.“ Eine Opera hat sie bereits ver­fasst und Carmen gewidmet: „o carmen! aus dem opern­haus tragen wir heraus/ die kon­ter­bande die du ver­steckt hast in unseren ohren./“ Die Oper wird darin zum Fisch­markt, die Angel zur Stra­di­vari, der Köder zur Note, der Ton zum sich win­denden, blu­tigen Fisch, und der Saal ver­wan­delt sich in ein sin­kendes Schiff, von dem die Töne strömen:

 

(…)
opera – du ver­wun­detes dunkel
am leib des saales – die wunde der bühne
die töne strömen vom sin­kenden schiff
doch der rote Vorhang
wie vor moses das rote meer
teilt er sich wieder
und wir schreiten voran auf dem pfad
in unseren muschelohren
bis zur längsten, letzten note –
der stille

 

Zwi­schen Wildem Osten und Absurdistan 

Ähn­lich heikel und mit Kli­schees behaftet sind neben dem Eti­kett „Weib­li­ches Schreiben“, dessen Bedeu­tungs­spek­trum wäh­rend der Tagung übri­gens nie dis­ku­tiert wurde, Fragen nach Ost­eu­ropa und der unter­schied­li­chen Wahr­neh­mung zwi­schen „Wessis“ und „Ossis“.

Die starke Unter­schei­dung zwi­schen Ost und West, die nach wie vor eine gesamt­eu­ro­päi­sche Per­spek­tive ver­hin­dert, wird ins­be­son­dere von den „ost­eu­ro­päi­schen“ Kul­tur­schaf­fenden bemän­gelt. Wer immer nur als „oste­rupäi­sches Phä­nomen“ vorgestellt werde, dem traue man nicht zu, gesamt­eu­ro­pä­isch über Frau­en­fragen und den Lite­ra­tur­be­trieb zu spre­chen. Die Dra­ma­turgin Borka Pavićević zum Bei­spiel, die mit dem Centar za kul­turnu dekon­ta­mi­naciju, Paviljon Vel­j­ković (Zen­trum für kul­tu­relle Dekon­ta­mi­na­tion, CZKD) in den 1990er Jahren in Bel­grad der im Krieg von Natio­na­lismus und Hass ver­gif­teten Kultur eine Zone der „Ent­gif­tung“ ent­ge­gen­ge­setzt hat, weist mit ihrer impo­sant tiefen Stimme immer wieder auf die euro­pa­weiten Pro­bleme in Bezug auf Gleich­stel­lung hin, die sich nicht nur iso­liert im Osten oder Westen betrachten lassen.

Eva Karadi, Katharina Narbutovič, Oksana Zabužko, Borka Pavićević

Eva Karadi, Katha­rina Nar­bu­tovič, Oksana Zabužko, Borka Pavićević

Auch Nico­leta Esi­nencu möchte sich dem Thema „Ost­eu­ropa“ zunächst ent­ziehen. Sie wisse, dass der ‚wilde Osten‘ und die sowje­ti­sche Ver­gan­gen­heit Themen sind, die sich im Westen gut ver­kaufen lassen. „Aber ich will euch hier nichts ver­kaufen“, stellt sie klar. Den­noch zeigt sie sich aus­kunfts­freu­diger als zum Thema „weib­li­ches Schreiben“, zumal die Aus­ein­an­der­set­zung mit sowje­ti­schen Über­resten ein zen­trales Thema ihres Schaf­fens dar­stellt. Erst habe sie in der kom­mu­nis­ti­schen, dann in der post­kom­mu­nis­ti­schen Gesell­schaft gelebt und jetzt in der post­post­kom­mu­nis­ti­schen. „Außer dem Namen hat sich nichts ver­än­dert“, bringt es die Thea­ter­ma­cherin auf den Punkt. Zwei Extreme herr­schen in ihrem Land: Man wolle die rus­si­sche Geschichte aus­ra­dieren, führe aber zugleich die sowje­ti­sche Politik fort, indem bei­spiels­weise die Region Moldau in Rumä­nien kur­zer­hand als ter­ri­to­riales Eigentum dekla­riert werde. In ihrem Text Chişinău – Stadt der Kopf­schmerzen! heißt es: „Die Unab­hän­gig­keit begann hier mit Hass./ Man ver­wech­selte Frei­heit mit Frem­den­feind­lich­keit. KOFFER! BAHNHOF! RUSSLAND war noch einer der harm­lo­sesten Sprüche im Chişinău jener Tage, und bedau­er­li­cher­weise hört man es heute noch.“
Dass durch Umbe­nen­nung aus Altem Neues gemacht wird, führt sie in ihren Stü­cken vor Augen. Sie han­deln vom Weih­nachts­mann, der früher Väter­chen Frost hieß, vom Lenin-Bou­le­vard der in Bou­le­vard Ste­phan der Große umbe­nannt wurde und von Kom­mu­nisten, die zu Anti­kom­mu­nisten werden. Als Ironie des Schick­sals hat auch Nico­leta Esi­nencus Stück FUCK YOU EU.ro.Pa!, das diesen Sommer im Stutt­garter Theater Rampe gezeigt wurde, einen neuen Namen erhalten. In Mol­da­wien, einem Land, „das plötz­lich pro-euro­pä­isch geworden ist“, musste Nico­leta Esi­nencu ihr Stück in Stopp Europa umbe­nennen, Zutritt erst ab 16 Jahren.

Esi­nencu hat mit ihrer Aus­sage „ich will euch hier nichts ver­kaufen“ ein zen­trales Thema an in Bezug auf die Ver­mark­tung Ost­eu­ropas im Lite­ra­tur­be­trieb ange­spro­chen. Ost­eu­ropa ver­kaufe sich schlecht auf dem deut­schen Buch­markt und erfor­dere eine beson­ders auf­wän­dige Pres­se­ar­beit – dar­über sind sich die deut­schen Akteu­rinnen einig. Das Thema lasse sich jedoch gut ver­kaufen – finden die öst­li­chen Ver­le­ge­rinnen –, sobald es um den wilden Osten, um die kom­mu­nis­ti­sche Ver­gan­gen­heit, um Schre­cken und Terror gehe – kurz: um „Absur­di­stan“.

Diese Ten­denz kann die bedeu­tende rus­si­sche Ver­le­gerin Irina Pro­cho­rova (*1956) nur bestä­tigen: Bücher dürfen nicht zu rus­sisch und nicht zu wenig rus­sisch sein. Um nicht nur Horror und Schre­cken aus Russ­land zu ver­breiten, son­dern zu zeigen, welche gemein­samen Themen und Methoden rus­si­sche und west­liche Denker haben, hat sie in den 1990er Jahren den Verlag Novoe lite­ra­turnoe oboz­renie (Neue lite­ra­ri­sche Rund­schau) ins Leben gerufen. Die Abkür­zung NLO steht im Rus­si­schen für UFOs. Aber nicht um Mars­men­schen und flie­gende Unter­tassen geht es in den Büchern und über 28 Reihen des Ver­lags, son­dern um post­mo­derne Theorie, Bel­le­tristik und um „neue Sicht­weisen der Ver­gan­gen­heit, die wir nicht ver­gessen können“, so Irina Pro­cho­rova. Viele rus­si­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler, die in den 1970er und 1980er Jahren emi­griert sind, hat die umtrie­bige Ver­le­gerin in Russ­land publi­ziert, aber auch west­liche post­mo­derne Theo­re­tiker – von Jac­ques Der­rida über Michel Fou­cault bis Judith Butler – her­aus­ge­geben und damit einer rus­si­schen Leser­schaft zugäng­lich gemacht. Über­set­zungen hält sie für aus­ge­spro­chen wichtig, um einen Dialog zwi­schen unter­schied­li­chen Kul­turen her­zu­stellen: „Über­set­zungen tragen dazu bei, die Wahr­neh­mung von Kli­schees und Ste­reo­typen zu befreien. Russ­land wird leider oft als Meta­pher für ‚Absur­di­stan’ gesehen, als Land der extremen Erfah­rung und nicht so sehr als dyna­mi­sche inter­es­sante Kultur.“
Wie ihre Kol­legin Monika Sznaj­derman, die den pol­ni­schen Verlag Czarne ins Leben gerufen hat, sieht sie einen lite­ra­ri­schen Trend hin zur Non-Fic­tion-Lite­ratur, zu Memoiren. Es bestehe ein großes Inter­esse an Inter­views und Gesprä­chen mit intel­li­genten Men­schen, an Zeit­zeug­nissen starker Per­sön­lich­keiten. Monika Sznaj­der­mann wird diesem Trend folgen, nicht nur aus öko­no­mi­schen Gründen, son­dern weil sie Texte, in denen sich Fik­tion und Nicht-Fik­tion ver­mi­schen, lite­ra­risch inter­es­sant findet. „Am Anfang hatte ich die Idee, dass junge Leute junge Autoren lesen. Aber das stimmt nicht. Junge Autoren sind Nischenautoren.“
Das will man kaum glauben, wenn man die Texte der jungen Autorinnen hört, die im eigenen Land und dessen Lite­ra­tur­land­schaft mit ganz unter­schied­li­chen Pro­blemen und Schwie­rig­keiten kon­fron­tiert sind. Wäh­rend Nico­leta Esi­nencu die Pro­jekte ihres Mobile Euro­pean Trailer (METT), einer Künst­ler­gruppe aus jungen Schau­spie­lern und bil­denden Künst­lern, fast nur noch im Aus­land zeigen kann, kämpft Noémi Kiss gegen die igno­rante männ­lich besetzte Lite­ra­tur­kritik an und ruft das Pro­jekt Rosa Brille ins Leben, um ver­stor­bene unga­ri­sche Schrift­stel­le­rinnen – lite­ra­ri­sche Mütter – zu bespre­chen und ins öffent­liche Bewusst­sein zu rufen. Dem­ge­gen­über fühlt sich Valžyna Mort fast schon unter Druck gesetzt von ihren überaus pro­duk­tiven Lands­leuten. Sie schmun­zelt: „Wenn ich nach Hause komme, denken alle, dass ich sehr faul bin, weil ich bisher nur zwei Bücher geschrieben habe.“

 

Das Sym­po­sium Wech­sel­strom – Frauen im mittl- und ost­eu­ro­päi­schen Lite­ra­tur­be­trieb hat vom 19.–21. Februar 2009 in Berlin statt­ge­funden: http://www.wechselstrom-tagung.de/cms

 

Nico­leta Esinencu

Nico­leta Esi­nencu: Chi­sinău – eine Stadt der Kopf­schmerzen! In: Klingan, Katrin/Kappert, Ines (Hg.): Sprung in die Stadt. Chisinău, Sofia, Pris­tina, Sara­jevo, War­schau, Zagreb, Ljubljana. Kul­tu­relle Posi­tionen, poli­ti­sche Ver­hält­nisse. Sieben Szenen aus Europa. Köln 2006, S. 32–45.

http://www.goethe.de/kue/the/prj/atf/aus/esi/de3965814.htm [infor­ma­tive Seite über Nico­leta Esi­nencu, auf der einige Texte von ihr her­un­ter­ge­laden werden können]

 

Noémi Kiss

Kiss, Noémi: Was geschah, wäh­rend wir schliefen. Aus dem Unga­ri­schen von Agnes Relle. Matthes & Seitz. Berlin 2009.

Kiss, Noémi: Facetten. Reprä­sen­ta­tion der Frau in der zeit­ge­nös­si­schen unga­ri­schen Lite­ratur. Mis­kolc 2006. In: http://www.kakanien.ac.at/mat/NKiss2.pdf

Kiss, Noémi: Buko – Über die Buko­wina. In: Akzente Heft 6 / 2006 “Heimat”, Her­aus­ge­geben von Michael Lentz, Wolf­gang Matz und Nor­bert Niemann.

http://www.kissnoemi.hu/web/noemi_kiss_deutsch.html [Home­page von Noémi Kiss]

 

Valžyna Mort

Valz­hyna Mort: Trä­nen­fa­brik. Aus dem Weiß­rus­si­schen von Katha­rina Nar­bu­tovič. Edi­tion Suhr­kamp. Frank­furt a.M. 2009.

http://www.youtube.com/watch?v=uOPOm6KozWE [vor­ge­tra­genes Gedicht auf Weiß­rus­sisch und Deutsch]

http://www.youtube.com/watch?v=dqKjF2RUn5E&feature=related [vor­ge­tra­gene Gedichte auf Eng­lisch und Weißrussisch

http://www.lyrikline.org/index.php?id=59&L=0&author=vm00&cHash=bb03a7246c [Gedichte von Valžyna Mort auf Bela­rus­sisch und Deutsch]