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Von den Vorzügen der Kanalisation

Posted on 20. Mai 2010 by Andrea Zink
Vladimir Arsenijevićs Werke scheinen vom Abwassersystem des antiken Roms inspiriert. Es geht um die Existenz im Unrat, um das Leben während und nach den jugoslawischen Kriegen der 1990er Jahre. Arsenijević verfolgt feige Freaks und Drogendealer, alternde Schauspielerinnen und Drückeberger und bezieht sich selbst und den „Vorsitzenden“ (Milošević) in das postmoderne Spiel von Fakt und Fiktion mit ein.

oder: Aufzeichnungen aus dem jugoslawischen Untergrund

 

Vladimir Arsenijević gehört zu den Kultfiguren in der heutigen serbischen Literaturszene, und er verdankt diesen Rang seinem phänomenalen Karrierestart. Für den 1994 erschienen Roman U potpalublju (Im Unterdeck) erhielt Arsenijević den NIN-Preis – die renommierteste jugoslawische Literaturauszeichnung. Arsenijević war damit der jüngste Preisträger aller Zeiten, und zum ersten Mal wurde ein Debut-Werk honoriert. Solche Lorbeeren verpflichten. Dies traf auch für Arsenijević zu, zumal er seinen Roman als ersten Teil einer Tetralogie mit dem Titel Cloaca maxima auf den Markt gebracht hatte. Das Publikum wartete mehr oder weniger geduldig auf die verbleibenden Bände, von denen Arsenijević zwischenzeitlich nur einen vollendet hat: Anđela (Angela) 1997. Mexico – ratni dnevnik (Mexico – ein Kriegstagebuch) 2000, kann zwar auch als Realisation der Cloaca maxima gelesen werden, ist als solche aber nicht eigens ausgewiesen. In allen Fällen geht es freilich – wie der Hinweis auf die römische Kanalisation nahelegt – um den selbstproduzierten Schmutz einer Gesellschaft, um den Unrat des Krieges, in dem Arsenijevićs Protagonisten wohl oder übel ausharren. Mit Widerwillen und Geschick entziehen sie sich der öffentlich angekurbelten Kriegsmaschinerie.

Die eher schleppende Produktion belletristischer Texte kompensierte Arsenijević durch ein umfangreiches publizistisches Engagement. In dem für ihn so typischen, leicht ironischen Stil argumentiert er gegen die Verwerfungen der Krisen und Kriege, die in den 1990er Jahren zum Untergang Jugoslawiens führten. Seine Artikel erschienen in den wichtigsten europäischen Zeitungen, schließlich sogar in Buchform: Jugolaboratorija (Jugolaboratorium) 2009. Zusammen mit dem Comic-Zeichner Aleksandar Zograf wagte er einen Ausflug in das Genre des bebilderten Romans. Išmail, das gemeinsame Produkt von 2004, erzählt von den Erlebnissen eines 15-jährigen Punkfans im spättitoistischen Jugoslawien. Als Mitglied der Band Los Amstrings brachte Arsenijević mehr als ein Jahr in Mexico zu – das Album Wanderlust ging aus dieser Zusammenarbeit hervor –, bevor er mit Predator (Der Verräter) 2008 in die klassisch fiktionale Literatur und nach Belgrad zurückkehrte. Predator gibt sich zunächst als eigenständiger Text, bei näherem Hinsehen ist allerdings auch dieses Œuvre in der Cloaca maxima verwurzelt (und könnte deshalb sogar als anarchische Fortsetzung der Tetralogie angesehen werden). Nur auf den ersten Blick wird ein ‚fremder‛ Krieg, der irakisch-kurdische Konflikt, thematisiert, altbekannte Figuren, die jugoslawischen Akteure aus Anđela, mischen sich jedoch erneut ins Geschehen ein. Arsenijević kennt nichts Einmaliges, Abgeschlossenes, keine feststellbaren und feststehenden Identitäten, am allerwenigsten – so scheint es – nationale. Und damit ist schon einiges über die Poetik und Philosophie des Verfassers ausgesagt. Sie wird programmatisch in U potpalublju entwickelt.

Thema dieser im Belgrad des Jahres 1992 angesiedelten Seifenoper (sapunska opera), so lautet der Untertitel,ist der Rückzug des Ich-Erzählers aus der Öffentlichkeit, seine anti-heroische Kriegsdienstverweigerung. Er steht hinter der Eingangstür seiner Wohnung, schaut durch den Spion und versucht seine Rekrutierung durch gekonnte Beobachtung des Gegners zu vermeiden. Daneben flüchtet er in Tagträume und in Drogen, manchmal auch in die Beziehung zu seiner Frau Anđela. Anđela erwartet ein Kind und hat ihre frühere Tätigkeit als Drogendealerin eingestellt. Der mütterliche Bauch und die Wohnungstür, sogar T-Shirts und Bettdecken, werden als mögliche Abgrenzung, als Versteck und Schutz der Protagonisten vor der Außenwelt in Szene gesetzt. Arsenijevićs Belgrader suchen dem Krieg aus dem Weg zu gehen, im Abwasser der Gesellschaft hoffen sie, ganz dem übergeordneten Titel Cloaca maxima gemäß, auf bessere Zeiten. Das gilt sogar für die wenigen Freunde und Verwandte des Erzählers, die eine vorübergehende Identität im Kampf anstreben: Sie melden sich freiwillig, bieten sich aber für beliebige militärische Seiten an: für die Serben ebenso wie für die Kroaten.

Schließlich zeigt sich das unterirdische Abwassersystem, Symbol des Gestanks, aber auch der Flucht- und Reinigungsmöglichkeit in der Form des Textes. Und dies macht gerade den subversiven, antinationalistischen Charakter von Arsenijevićs Cloaca aus. Eine besondere Rolle spielen dabei die Fußnoten, die metapoetische Anweisungen enthalten und kompositorisch besehen eine endlose Verlängerungs- und Veränderungsmöglichkeit des Textes indizieren. Der Roman selbst hält sich damit an die Strategie seines Anti-Helden: Er verweigert Identität, Einheit und Sinn. Beispielhaft für diesen Widerstand sind auch die gezielten und mitunter verstörenden Stilschwankungen, mit denen Arsenijević operiert: Todesnachrichten brechen in ironische Textpassagen ein, Pathos und Witz werden gemischt, die verzweifelten Versuche des ehemaligen Schlagzeugers Dejan – im Krieg hat er einen Arm verloren –, in der Gesellschaft wieder Tritt zu fassen und ein Gewerbe auf die Beine zu stellen, werden mit den Leistungen sozialistischer Stoßarbeiter verglichen. Auch fehlt es nicht an profanierenden Situationen: Auf Beerdigungen kommt es zu erotischen Abenteuern, und wenn so weit noch alles im Rahmen karnevalistisch vorgetragener Obrigkeitskritik verbleibt, so geht die postmoderne Auflösung der Fiktionsgrenzen vor allem am Textende noch einen Schritt weiter. Hier wird klar, dass sich die fiktionalen Ereignisse auf anderen ‚wirklicheren‛ Ebenen fortsetzen können. Denn die Appendices in Form von Todes- und Auswanderungsanzeigen, mit denen Arsenijević seine Seifenoper ausklingen lässt, schreiben gewissermaßen Dejans Geschichte fort. Nach seiner Kriegsverletzung hatte sich der als Schlagzeuger nutzlos gewordene Freak mit der Création von T-Shirts beschäftigt. Die Auslieferung der ersten Produktion findet jedoch erst nach seinem Selbstmord statt. Die Appendices des Autors ähneln Dejans T-Shirts, sie kommen zu spät und zerstören – als Nachlassenschaft aller Toten und Emigranten – das beruhigende Ende der Geschichte. Mit Derrida gesprochen markiert dieses Supplement den Abgrund des Seins und die Fragilität des Seienden. Arsenijević, der sich hier als Agent seiner Figur betätigt, zerstört die Einheit und Geschlossenheit seines Textes, im Supplement verweist er gerade auf die Schutzlosigkeit der menschlichen Körper und die Zerstörbarkeit ihrer vielfältigen Panzerungen.

Diese Diagnose lässt sich ohne weiteres auf den nachfolgenden Band von Arsenijevićs Cloaca-Tetralogie übertragen. Anđela wiederholt und präzisiert die Geschichten, auf die uns U potpalublju eingestimmt hatte. Erneut erscheint Dejan unter den Lebenden, erneut werden wir mit seinem Selbstmord konfrontiert, erneut wird er beerdigt. Der Krieg, der sich von den kroatischen Schauplätzen nach Bosnien verlegt hat, flimmert noch immer über die Fernsehschirme. Nach der Bombardierung von Dubrovnik und der Zerstörung von Vukovar können die Belgrader nun fassungslos die Belagerung von Sarajevo bestaunen.

Gleichwohl nehmen die privaten Ereignisse – und seien sie wie in dem Kapitel Oluja (Sturm) mit militärischen Aktionen gleichgesetzt – in Anđela einen größeren Raum ein. Die Beziehung des Ich-Erzählers zu seiner Frau gewinnt an Konturen, wofür nicht zuletzt die Schreikrämpfe der neugeborenen Hana verantwortlich sind. Auch eine Liebesgeschichte zwischen Dejans altem Freund Vanja und Lela, einer verträumten Galerieangestellten mit Torschlusspanik, wird minutiös entwickelt. Arsenijević zeigt sich als präziser und sachkundiger Beobachter der Belgrader alternativen Szene, als spannender Erzähler und vor allem als Meister des Stils. Er beherrscht Pathos so gut wie Ironie, wechselt zwischen melancholischen Passagen, humorvollen Anekdoten und obsessiven Aufzählungen souverän ab. Diese Erzählweise fasziniert. Sie steht in der Tradition der serbischen Literatur von Stevan Sremac bis Danilo Kiš, und ihre vermeintlich spielerischen Eskapaden oder Litaneien haben – ähnlich wie die Wiederbelebung des österreichisch-ungarischen Zugfahrplans in Kišs Familientrilogie – zum Ziel, die Toten (bei Kiš den in Auschwitz ermordeten Vater und ‚Autor‛ des Fahrplans) nicht zu begraben, sondern am Leben zu erhalten. Auch Arsenijevićs Texte mischen sich in Geschichtsschreibung und Politik ein.

Beeindruckend ist sein Umgang mit dem „Vorsitzenden“ (im Serbischen immer mit Majuskel geschrieben). Ironisiert, seiner Würde beraubt, dennoch aber aufsässig dringt Milošević per Fernsehbild und dank den Protestaktionen einer alternden Schauspielerin namens Marija Pavlović in den fiktionalen Text ein. Arsenijević nutzt die gezielte Verschränkung von Phantasie und Realität, vor allem das Zitat und die Ekphrasis der (vermeintlich dokumentierenden) Fernsehbilder zur Verunsicherung seiner Leserschaft. Denn die fiktionale Verpackung beraubt Milosević seiner Authentizität, obwohl nicht zu übersehen ist, dass der „Vorsitzende“ zum Zeitpunkt der Textabfassung ja noch im Amt war. Miloševićs Auftritt beraubt aber auch uns, die Leser, einer bequemen Rückzugsmöglichkeit ins Reich des Erdachten. Milošević ist augenscheinlich omnipäsent und Garant der möglichen Realität auch der irrealsten Handlungen. So erzählt Anđela zwar primär von den Sorgen und Leidenschaften durchschnittlicher Belgrader Bürger, dennoch handelt es sich um ein riskantes, ein kritisches Buch, das – im Gegensatz zu U potpalublju –  nur wenige Übersetzungen, darunter ins Dänische und Spanische, erfahren hat.

In Mexico – ratni dnevnik, ebenfalls in dänischer und darüber hinaus in albanischer Version erhältlich, wird uns die dritte Phase der militärischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre vergegenwärtigt: Die Kämpfe im und um den Kosovo. Das erzählende Ich tritt nun im Namen des Autors auf, als Schriftsteller Vladimir Arsenijević, der das NATO-Bombardement von Belgrad miterlebt, Freundschaft mit einem albanischen Autor schließt und auf die Ausreise nach Mexiko wartet: Zu seinem physischen Schutz hat man ihm, dem bedrohten Kulturschaffenden, ein Stipendium im Ausland versprochen. Der größte Teil von Mexico handelt also weiterhin von Belgrad bzw. von den verschiedenen Regionen des zerfallenden Jugoslawiens, durch die sich Vlado schließlich nach Mexico aufmacht, um dort den kosovarisch-albanischen Schriftsteller Dževdet Bajraj kennen zu lernen. Anđela und Dejan, Marija und Vanja, die Protagonisten der bisherigen Seifenopern sind verschwunden, der gezielte Einsatz des Autor-Ichs wirkt sich stattdessen auf eine neue, weniger seifenopernhafte Form der Cloaca maxima aus. Arsenijević hat ein Gattungsgemisch konstruiert, das sich an diversen (pseudo-)authentischen Formen des Schreibens wie Tagebuch, Brief und emails anlehnt, das Stilregister wird durch die Klage erweitert, sogar sarkastische Passagen sind zu erkennen, und doch ist den vielfachen „Dokumenten“ (darunter auch offizielle, wie Radio- und Fernsehnachrichten) nicht zu trauen. Wie immer bei Arsenijević  geht es auch in Mexico um die Literarizität der Literatur, um das Selbstverständnis des Schriftstellers. Minutiös können wir den Kriegsverlauf nachlesen, fehlgeschlagene und erfolgreiche NATO-Manöver erinnern, wir werden aber – zum Beispiel durch Vlados Beteuerungen, sich dieses Mal partout nichts ausdenken zu wollen – ebenso unmissverständlich an den fiktionalen und romanesken Charakter des Werks erinnert. Nichts ist (wirklich) echt, und doch ist alles bedrückend. Diese Irritation macht – ähnlich wie in den Cloaca-Bänden auch – den ‚politischen‛ Charakter von Mexico aus. Arsenijević lässt seine Leser im Unklaren und damit in einer äußerst unbequemen Unsicherheit zurück.

Sämtliche Fähigkeiten seines Könnens stellt Arsenijević in seinem jüngsten Werk Predator unter Beweis. Die Montage rückt nun stärker in den Vordergrund, nicht von ungefähr wurde das Buch mit Robert Altmans Short Cuts verglichen. Predator setzt sich aus einzelnen, zunächst unabhängig wirkenden Szenen mit unterschiedlichen Protagonisten zusammen. Bei näherem Hinsehen zeigt der Text aber eine streng zyklische Struktur, und er verfügt über viele Querverbindungen. Zentral ist das Motiv des Durch- und Übergangs, es verdichtet sich in einem dänischen Heim für Asylbewerber, durch das die meisten Protagonisten geschleust werden. Die Figuren sind auf der Wanderung, manche auf der Flucht, gejagt von Krieg, Polizei, oder ihren Leidenschaften. Ebenso wandern sie durch Arsenijevićs Texte. So treffen wir wieder einmal auf Vanja, den ehemaligen Sänger und Freund des Schlagzeugers Dejan, den ein eher ungemütliches Schicksal ereilt. Auch Marija Pavlović begegnet uns erneut. In der Erzählung Neukorenjenost (Wurzellosigkeit), die gesondert in Richard Švarc’ Anthologie Drugi pored mene (Der andere nebenan) abgedruckt wurde, agiert sie in der Emigration, während der Berliner Mai-Kravalle des Jahres 1999. Unabsichtlich – denn mit der Berliner autonomen Szene hat die serbische Schauspielerin nicht das Geringste zu tun – gerät sie dabei in die Rolle der christlichen Gottesmutter. In ihrem Armen stirbt ein Kosovar, der kurz zuvor in einem äußerst realistisch geschilderten Telefonat vom Mord an seinem Vater erfahren hat. Marija füllt die geforderte Pose professionell aus. Das Foto, die neue Pietà, geht um die Welt.

Die Mischung aus Künstlichkeit und Realismus nimmt in Predator allerdings ein bestürzendes Ausmaß an. Denn die postmoderne Durchlässigkeit der Grenzen wird hier auch ganz physiologisch vermittelt: im kannibalischen Akt. Von dieser (zunächst durch die Not motivierten) Leidenschaft ist der irakische Kurde Nihil Musa Baksi getrieben, um den sich der Kern von Predator – die gleichnamige Titelerzählung – aber auch die erste und letzte Szene des Werks drehen. Zu Nihils Opfern gehört Vanja, und ob wir ihm im nächsten Buch von Arsenijević wieder begegnen werden, bleibt vorläufig offen. Fürs erste wird er jedenfalls verspeist. Sein Gehirn erweist sich als besonderer Leckerbissen.
Diese detaillierte Beschreibung eines Tabubruchs kombiniert mit barock anmutenden, augenscheinlich der orientalischen Herkunft des Täters angepassten Beschreibungen (Nihil Musa ist von reizendem Äußeren und hat „Augenbrauen wie zwei Halbmonde“), die Überlagerung von realistischer Kriegsdokumentation und literarischem Zitat – zweifellos hat Arsenijević bei Milorad Pavić, dem Barockspezialisten, gelernt und seinem Predator auch die Struktur von Ivo Andrićs Proketa avlija (Der verdammte Hof) einverleibt – wirkt verstörend. Die Tonlage hat sich im Vergleich zu den ersten Bänden der Tetralogie geändert, vor allem fehlt die Ironie, durch die Arsenijevićs Leser bislang vor den Gräueln des Krieges geschützt worden waren. Nur noch selten greift der Autor auf diese subtile Form der Distanzierung zurück (die Erzählung Neukorenjenost gehört zu den Ausnahmen).

Vladimir Arsenijevićs schmales Œuvre ist von großer stilistischer Breite und gleichzeitig: von erstaunlicher Konsistenz. Arsenijević zeigt sich als Meister postmoderner Techniken, er zeigt vor allem, dass Ironie und Humor, dass Stilschwankungen und Gattungsmischungen nicht nur dem ästhetischen Genuss dienen, sondern eine kritische Funktion mit Blick auf die vergangene und gegenwärtige, nach wie vor politisierte Wirklichkeit erfüllen können. Wie andere Autoren der postjugoslawischen Literaturszene, die sich den Kriegen der 1990er Jahre widmen, übt sich auch Arsenijević nicht in Schuldzuweisungen, und er schürt kein Mitleid mit den Opfern. Gerade diese Haltung aber verhindert, dass die Toten begraben und die Kriege vergessen sind. In Arsenijevićs Cloaca maxima ist es heiter und unbequem zugleich.

 

Cloaca Maxima I. U potpalublju. Beograd: RAD 1994. (dt: Cloaca Maxima. Eine Seifenoper. Berlin: Rowohlt 1996.)

Cloaca Maxima II. Anđela. Sapunska opera. Beograd: Stubovi kulture 1997, Beograd: Vreme 1997.

Meksiko. Ratni dnevnik. Beograd: Rende 2000.

Wanderlust. (zusammen mit Los Armstrings). Novi Sad: UrbaNS 2000.

Išmail (zusammen mit Aleksandar Zograf). Zagreb: Profil 2004.

Leksikon YU mitologije. (Herausgeber, zusammen mit Iris Andrić und Đorđe Matić). Zagreb: Postscriptum 2004. (2. erweiterte Auflage Beograd: Rende, Zagreb: Postscriptum 2005.)

Predator. Beograd: Samizdat B92 2008.

(Auszüge:
– Neukorenjenost. In: Švarc, Ričard (ed.): Drugi pored mene. Antologija priča i eseja pisaca jugoistočne Evrope. Lazarevac: Samizdat B92 2007. S. 22–39.
– Wurzellosigkeit. In: Swartz, Richard (Hg.): Der andere nebenan. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. Frankfurt a. M.: Fischer 2007. S. 25–46. (in kürzerer Fassung und anderer deutscher Übersetzung auch verfügbar als mp3-Dokument)
– Nihil’s Dream. In: Index on Censorship. Vol. 38. Nr. 3. 2009, pp. 153–167.)

Jugolaboratorija. Beograd: Biblioteka XX vek 2009.

Von den Vorzügen der Kanalisation - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
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Von den Vor­zügen der Kanalisation

oder: Auf­zeich­nungen aus dem jugo­sla­wi­schen Untergrund

 

Vla­dimir Arse­ni­jević gehört zu den Kult­fi­guren in der heu­tigen ser­bi­schen Lite­ra­tur­szene, und er ver­dankt diesen Rang seinem phä­no­me­nalen Kar­rie­re­start. Für den 1994 erschienen Roman U pot­palu­blju (Im Unter­deck) erhielt Arse­ni­jević den NIN-Preis – die renom­mier­teste jugo­sla­wi­sche Lite­ra­tur­aus­zeich­nung. Arse­ni­jević war damit der jüngste Preis­träger aller Zeiten, und zum ersten Mal wurde ein Debut-Werk hono­riert. Solche Lor­beeren ver­pflichten. Dies traf auch für Arse­ni­jević zu, zumal er seinen Roman als ersten Teil einer Tetra­logie mit dem Titel Cloaca maxima auf den Markt gebracht hatte. Das Publikum war­tete mehr oder weniger geduldig auf die ver­blei­benden Bände, von denen Arse­ni­jević zwi­schen­zeit­lich nur einen voll­endet hat: Anđela (Angela) 1997. Mexico – ratni dnevnik (Mexico – ein Kriegs­ta­ge­buch) 2000, kann zwar auch als Rea­li­sa­tion der Cloaca maxima gelesen werden, ist als solche aber nicht eigens aus­ge­wiesen. In allen Fällen geht es frei­lich – wie der Hin­weis auf die römi­sche Kana­li­sa­tion nahe­legt – um den selbst­pro­du­zierten Schmutz einer Gesell­schaft, um den Unrat des Krieges, in dem Arse­ni­je­vićs Prot­ago­nisten wohl oder übel aus­harren. Mit Wider­willen und Geschick ent­ziehen sie sich der öffent­lich ange­kur­belten Kriegsmaschinerie.

Die eher schlep­pende Pro­duk­tion bel­le­tris­ti­scher Texte kom­pen­sierte Arse­ni­jević durch ein umfang­rei­ches publi­zis­ti­sches Enga­ge­ment. In dem für ihn so typi­schen, leicht iro­ni­schen Stil argu­men­tiert er gegen die Ver­wer­fungen der Krisen und Kriege, die in den 1990er Jahren zum Unter­gang Jugo­sla­wiens führten. Seine Artikel erschienen in den wich­tigsten euro­päi­schen Zei­tungen, schließ­lich sogar in Buch­form: Jugo­la­bo­ra­to­rija (Jugo­la­bo­ra­to­rium) 2009. Zusammen mit dem Comic-Zeichner Alek­sandar Zograf wagte er einen Aus­flug in das Genre des bebil­derten Romans. Išmail, das gemein­same Pro­dukt von 2004, erzählt von den Erleb­nissen eines 15-jäh­rigen Punk­fans im spät­ti­tois­ti­schen Jugo­sla­wien. Als Mit­glied der Band Los Amstrings brachte Arse­ni­jević mehr als ein Jahr in Mexico zu – das Album Wan­der­lust ging aus dieser Zusam­men­ar­beit hervor –, bevor er mit Pre­dator (Der Ver­räter) 2008 in die klas­sisch fik­tio­nale Lite­ratur und nach Bel­grad zurück­kehrte. Pre­dator gibt sich zunächst als eigen­stän­diger Text, bei näherem Hin­sehen ist aller­dings auch dieses Œuvre in der Cloaca maxima ver­wur­zelt (und könnte des­halb sogar als anar­chi­sche Fort­set­zung der Tetra­logie ange­sehen werden). Nur auf den ersten Blick wird ein ‚fremder‛ Krieg, der ira­kisch-kur­di­sche Kon­flikt, the­ma­ti­siert, alt­be­kannte Figuren, die jugo­sla­wi­schen Akteure aus Anđela, mischen sich jedoch erneut ins Geschehen ein. Arse­ni­jević kennt nichts Ein­ma­liges, Abge­schlos­senes, keine fest­stell­baren und fest­ste­henden Iden­ti­täten, am aller­we­nigsten – so scheint es – natio­nale. Und damit ist schon einiges über die Poetik und Phi­lo­so­phie des Ver­fas­sers aus­ge­sagt. Sie wird pro­gram­ma­tisch in U pot­palu­blju ent­wi­ckelt.

Thema dieser im Bel­grad des Jahres 1992 ange­sie­delten Sei­fen­oper (sapunska opera), so lautet der Untertitel,ist der Rückzug des Ich-Erzäh­lers aus der Öffent­lich­keit, seine anti-heroi­sche Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung. Er steht hinter der Ein­gangstür seiner Woh­nung, schaut durch den Spion und ver­sucht seine Rekru­tie­rung durch gekonnte Beob­ach­tung des Geg­ners zu ver­meiden. Daneben flüchtet er in Tag­träume und in Drogen, manchmal auch in die Bezie­hung zu seiner Frau Anđela. Anđela erwartet ein Kind und hat ihre frü­here Tätig­keit als Dro­gen­dea­lerin ein­ge­stellt. Der müt­ter­liche Bauch und die Woh­nungstür, sogar T‑Shirts und Bett­de­cken, werden als mög­liche Abgren­zung, als Ver­steck und Schutz der Prot­ago­nisten vor der Außen­welt in Szene gesetzt. Arse­ni­je­vićs Bel­grader suchen dem Krieg aus dem Weg zu gehen, im Abwasser der Gesell­schaft hoffen sie, ganz dem über­ge­ord­neten Titel Cloaca maxima gemäß, auf bes­sere Zeiten. Das gilt sogar für die wenigen Freunde und Ver­wandte des Erzäh­lers, die eine vor­über­ge­hende Iden­tität im Kampf anstreben: Sie melden sich frei­willig, bieten sich aber für belie­bige mili­tä­ri­sche Seiten an: für die Serben ebenso wie für die Kroaten.

Schließ­lich zeigt sich das unter­ir­di­sche Abwas­ser­system, Symbol des Gestanks, aber auch der Flucht- und Rei­ni­gungs­mög­lich­keit in der Form des Textes. Und dies macht gerade den sub­ver­siven, anti­na­tio­na­lis­ti­schen Cha­rakter von Arse­ni­je­vićs Cloaca aus. Eine beson­dere Rolle spielen dabei die Fuß­noten, die meta­poe­ti­sche Anwei­sungen ent­halten und kom­po­si­to­risch besehen eine end­lose Ver­län­ge­rungs- und Ver­än­de­rungs­mög­lich­keit des Textes indi­zieren. Der Roman selbst hält sich damit an die Stra­tegie seines Anti-Helden: Er ver­wei­gert Iden­tität, Ein­heit und Sinn. Bei­spiel­haft für diesen Wider­stand sind auch die gezielten und mit­unter ver­stö­renden Stil­schwan­kungen, mit denen Arse­ni­jević ope­riert: Todes­nach­richten bre­chen in iro­ni­sche Text­pas­sagen ein, Pathos und Witz werden gemischt, die ver­zwei­felten Ver­suche des ehe­ma­ligen Schlag­zeu­gers Dejan – im Krieg hat er einen Arm ver­loren –, in der Gesell­schaft wieder Tritt zu fassen und ein Gewerbe auf die Beine zu stellen, werden mit den Leis­tungen sozia­lis­ti­scher Stoß­ar­beiter ver­gli­chen. Auch fehlt es nicht an pro­fa­nie­renden Situa­tionen: Auf Beer­di­gungen kommt es zu ero­ti­schen Aben­teuern, und wenn so weit noch alles im Rahmen kar­ne­va­lis­tisch vor­ge­tra­gener Obrig­keits­kritik ver­bleibt, so geht die post­mo­derne Auf­lö­sung der Fik­ti­ons­grenzen vor allem am Tex­tende noch einen Schritt weiter. Hier wird klar, dass sich die fik­tio­nalen Ereig­nisse auf anderen ‚wirk­li­cheren‛ Ebenen fort­setzen können. Denn die Appen­dices in Form von Todes- und Aus­wan­de­rungs­an­zeigen, mit denen Arse­ni­jević seine Sei­fen­oper aus­klingen lässt, schreiben gewis­ser­maßen Dejans Geschichte fort. Nach seiner Kriegs­ver­let­zung hatte sich der als Schlag­zeuger nutzlos gewor­dene Freak mit der Créa­tion von T‑Shirts beschäf­tigt. Die Aus­lie­fe­rung der ersten Pro­duk­tion findet jedoch erst nach seinem Selbst­mord statt. Die Appen­dices des Autors ähneln Dejans T‑Shirts, sie kommen zu spät und zer­stören – als Nach­las­sen­schaft aller Toten und Emi­granten – das beru­hi­gende Ende der Geschichte. Mit Der­rida gespro­chen mar­kiert dieses Sup­ple­ment den Abgrund des Seins und die Fra­gi­lität des Sei­enden. Arse­ni­jević, der sich hier als Agent seiner Figur betä­tigt, zer­stört die Ein­heit und Geschlos­sen­heit seines Textes, im Sup­ple­ment ver­weist er gerade auf die Schutz­lo­sig­keit der mensch­li­chen Körper und die Zer­stör­bar­keit ihrer viel­fäl­tigen Panzerungen.

Diese Dia­gnose lässt sich ohne wei­teres auf den nach­fol­genden Band von Arse­ni­je­vićs Cloaca-Tetra­logie über­tragen. Anđela wie­der­holt und prä­zi­siert die Geschichten, auf die uns U pot­palu­blju ein­ge­stimmt hatte. Erneut erscheint Dejan unter den Lebenden, erneut werden wir mit seinem Selbst­mord kon­fron­tiert, erneut wird er beer­digt. Der Krieg, der sich von den kroa­ti­schen Schau­plätzen nach Bos­nien ver­legt hat, flim­mert noch immer über die Fern­seh­schirme. Nach der Bom­bar­die­rung von Dubrovnik und der Zer­stö­rung von Vukovar können die Bel­grader nun fas­sungslos die Bela­ge­rung von Sara­jevo bestaunen.

Gleich­wohl nehmen die pri­vaten Ereig­nisse – und seien sie wie in dem Kapitel Oluja (Sturm) mit mili­tä­ri­schen Aktionen gleich­ge­setzt – in Anđela einen grö­ßeren Raum ein. Die Bezie­hung des Ich-Erzäh­lers zu seiner Frau gewinnt an Kon­turen, wofür nicht zuletzt die Schrei­krämpfe der neu­ge­bo­renen Hana ver­ant­wort­lich sind. Auch eine Lie­bes­ge­schichte zwi­schen Dejans altem Freund Vanja und Lela, einer ver­träumten Gale­rie­an­ge­stellten mit Tor­schluss­panik, wird minu­tiös ent­wi­ckelt. Arse­ni­jević zeigt sich als prä­ziser und sach­kun­diger Beob­achter der Bel­grader alter­na­tiven Szene, als span­nender Erzähler und vor allem als Meister des Stils. Er beherrscht Pathos so gut wie Ironie, wech­selt zwi­schen melan­cho­li­schen Pas­sagen, humor­vollen Anek­doten und obses­siven Auf­zäh­lungen sou­verän ab. Diese Erzähl­weise fas­zi­niert. Sie steht in der Tra­di­tion der ser­bi­schen Lite­ratur von Stevan Sremac bis Danilo Kiš, und ihre ver­meint­lich spie­le­ri­schen Eska­paden oder Lita­neien haben – ähn­lich wie die Wie­der­be­le­bung des öster­rei­chisch-unga­ri­schen Zug­fahr­plans in Kišs Fami­li­en­tri­logie – zum Ziel, die Toten (bei Kiš den in Ausch­witz ermor­deten Vater und ‚Autor‛ des Fahr­plans) nicht zu begraben, son­dern am Leben zu erhalten. Auch Arse­ni­je­vićs Texte mischen sich in Geschichts­schrei­bung und Politik ein.

Beein­dru­ckend ist sein Umgang mit dem „Vor­sit­zenden“ (im Ser­bi­schen immer mit Majuskel geschrieben). Iro­ni­siert, seiner Würde beraubt, den­noch aber auf­sässig dringt Milošević per Fern­seh­bild und dank den Pro­test­ak­tionen einer alternden Schau­spie­lerin namens Marija Pav­lović in den fik­tio­nalen Text ein. Arse­ni­jević nutzt die gezielte Ver­schrän­kung von Phan­tasie und Rea­lität, vor allem das Zitat und die Ekphrasis der (ver­meint­lich doku­men­tie­renden) Fern­seh­bilder zur Ver­un­si­che­rung seiner Leser­schaft. Denn die fik­tio­nale Ver­pa­ckung beraubt Milo­sević seiner Authen­ti­zität, obwohl nicht zu über­sehen ist, dass der „Vor­sit­zende“ zum Zeit­punkt der Text­ab­fas­sung ja noch im Amt war. Miloše­vićs Auf­tritt beraubt aber auch uns, die Leser, einer bequemen Rück­zugs­mög­lich­keit ins Reich des Erdachten. Milošević ist augen­schein­lich omni­pä­sent und Garant der mög­li­chen Rea­lität auch der irre­alsten Hand­lungen. So erzählt Anđela zwar primär von den Sorgen und Lei­den­schaften durch­schnitt­li­cher Bel­grader Bürger, den­noch han­delt es sich um ein ris­kantes, ein kri­ti­sches Buch, das – im Gegen­satz zu U pot­palu­blju –  nur wenige Über­set­zungen, dar­unter ins Däni­sche und Spa­ni­sche, erfahren hat.

In Mexico – ratni dnevnik, eben­falls in däni­scher und dar­über hinaus in alba­ni­scher Ver­sion erhält­lich, wird uns die dritte Phase der mili­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zungen der 1990er Jahre ver­ge­gen­wär­tigt: Die Kämpfe im und um den Kosovo. Das erzäh­lende Ich tritt nun im Namen des Autors auf, als Schrift­steller Vla­dimir Arse­ni­jević, der das NATO-Bom­bar­de­ment von Bel­grad mit­er­lebt, Freund­schaft mit einem alba­ni­schen Autor schließt und auf die Aus­reise nach Mexiko wartet: Zu seinem phy­si­schen Schutz hat man ihm, dem bedrohten Kul­tur­schaf­fenden, ein Sti­pen­dium im Aus­land ver­spro­chen. Der größte Teil von Mexico han­delt also wei­terhin von Bel­grad bzw. von den ver­schie­denen Regionen des zer­fal­lenden Jugo­sla­wiens, durch die sich Vlado schließ­lich nach Mexico auf­macht, um dort den koso­va­risch-alba­ni­schen Schrift­steller Dževdet Bajraj kennen zu lernen. Anđela und Dejan, Marija und Vanja, die Prot­ago­nisten der bis­he­rigen Sei­fen­opern sind ver­schwunden, der gezielte Ein­satz des Autor-Ichs wirkt sich statt­dessen auf eine neue, weniger sei­fen­opern­hafte Form der Cloaca maxima aus. Arse­ni­jević hat ein Gat­tungs­ge­misch kon­stru­iert, das sich an diversen (pseudo-)authentischen Formen des Schrei­bens wie Tage­buch, Brief und emails anlehnt, das Stil­re­gister wird durch die Klage erwei­tert, sogar sar­kas­ti­sche Pas­sagen sind zu erkennen, und doch ist den viel­fa­chen „Doku­menten“ (dar­unter auch offi­zi­elle, wie Radio- und Fern­seh­nach­richten) nicht zu trauen. Wie immer bei Arse­ni­jević  geht es auch in Mexico um die Lite­r­a­ri­zität der Lite­ratur, um das Selbst­ver­ständnis des Schrift­stel­lers. Minu­tiös können wir den Kriegs­ver­lauf nach­lesen, fehl­ge­schla­gene und erfolg­reiche NATO-Manöver erin­nern, wir werden aber – zum Bei­spiel durch Vlados Beteue­rungen, sich dieses Mal par­tout nichts aus­denken zu wollen – ebenso unmiss­ver­ständ­lich an den fik­tio­nalen und roma­nesken Cha­rakter des Werks erin­nert. Nichts ist (wirk­lich) echt, und doch ist alles bedrü­ckend. Diese Irri­ta­tion macht – ähn­lich wie in den Cloaca-Bänden auch – den ‚poli­ti­schen‛ Cha­rakter von Mexico aus. Arse­ni­jević lässt seine Leser im Unklaren und damit in einer äußerst unbe­quemen Unsi­cher­heit zurück.

Sämt­liche Fähig­keiten seines Kön­nens stellt Arse­ni­jević in seinem jüngsten Werk Pre­dator unter Beweis. Die Mon­tage rückt nun stärker in den Vor­der­grund, nicht von unge­fähr wurde das Buch mit Robert Alt­mans Short Cuts ver­gli­chen. Pre­dator setzt sich aus ein­zelnen, zunächst unab­hängig wir­kenden Szenen mit unter­schied­li­chen Prot­ago­nisten zusammen. Bei näherem Hin­sehen zeigt der Text aber eine streng zykli­sche Struktur, und er ver­fügt über viele Quer­ver­bin­dungen. Zen­tral ist das Motiv des Durch- und Über­gangs, es ver­dichtet sich in einem däni­schen Heim für Asyl­be­werber, durch das die meisten Prot­ago­nisten geschleust werden. Die Figuren sind auf der Wan­de­rung, manche auf der Flucht, gejagt von Krieg, Polizei, oder ihren Lei­den­schaften. Ebenso wan­dern sie durch Arse­ni­je­vićs Texte. So treffen wir wieder einmal auf Vanja, den ehe­ma­ligen Sänger und Freund des Schlag­zeu­gers Dejan, den ein eher unge­müt­li­ches Schicksal ereilt. Auch Marija Pav­lović begegnet uns erneut. In der Erzäh­lung Neu­ko­ren­jenost (Wur­zel­lo­sig­keit), die geson­dert in Richard Švarc’ Antho­logie Drugi pored mene (Der andere nebenan) abge­druckt wurde, agiert sie in der Emi­gra­tion, wäh­rend der Ber­liner Mai-Kra­valle des Jahres 1999. Unab­sicht­lich – denn mit der Ber­liner auto­nomen Szene hat die ser­bi­sche Schau­spie­lerin nicht das Geringste zu tun – gerät sie dabei in die Rolle der christ­li­chen Got­tes­mutter. In ihrem Armen stirbt ein Kosovar, der kurz zuvor in einem äußerst rea­lis­tisch geschil­derten Tele­fonat vom Mord an seinem Vater erfahren hat. Marija füllt die gefor­derte Pose pro­fes­sio­nell aus. Das Foto, die neue Pietà, geht um die Welt.

Die Mischung aus Künst­lich­keit und Rea­lismus nimmt in Pre­dator aller­dings ein bestür­zendes Ausmaß an. Denn die post­mo­derne Durch­läs­sig­keit der Grenzen wird hier auch ganz phy­sio­lo­gisch ver­mit­telt: im kan­ni­ba­li­schen Akt. Von dieser (zunächst durch die Not moti­vierten) Lei­den­schaft ist der ira­ki­sche Kurde Nihil Musa Baksi getrieben, um den sich der Kern von Pre­dator – die gleich­na­mige Titel­er­zäh­lung – aber auch die erste und letzte Szene des Werks drehen. Zu Nihils Opfern gehört Vanja, und ob wir ihm im nächsten Buch von Arse­ni­jević wieder begegnen werden, bleibt vor­läufig offen. Fürs erste wird er jeden­falls ver­speist. Sein Gehirn erweist sich als beson­derer Leckerbissen.
Diese detail­lierte Beschrei­bung eines Tabu­bruchs kom­bi­niert mit barock anmu­tenden, augen­schein­lich der ori­en­ta­li­schen Her­kunft des Täters ange­passten Beschrei­bungen (Nihil Musa ist von rei­zendem Äußeren und hat „Augen­brauen wie zwei Halb­monde“), die Über­la­ge­rung von rea­lis­ti­scher Kriegs­do­ku­men­ta­tion und lite­ra­ri­schem Zitat – zwei­fellos hat Arse­ni­jević bei Mil­orad Pavić, dem Barock­spe­zia­listen, gelernt und seinem Pre­dator auch die Struktur von Ivo Andrićs Pro­keta avlija (Der ver­dammte Hof) ein­ver­leibt – wirkt ver­stö­rend. Die Ton­lage hat sich im Ver­gleich zu den ersten Bänden der Tetra­logie geän­dert, vor allem fehlt die Ironie, durch die Arse­ni­je­vićs Leser bis­lang vor den Gräueln des Krieges geschützt worden waren. Nur noch selten greift der Autor auf diese sub­tile Form der Distan­zie­rung zurück (die Erzäh­lung Neu­ko­ren­jenost gehört zu den Ausnahmen).

Vla­dimir Arse­ni­je­vićs schmales Œuvre ist von großer sti­lis­ti­scher Breite und gleich­zeitig: von erstaun­li­cher Kon­sis­tenz. Arse­ni­jević zeigt sich als Meister post­mo­derner Tech­niken, er zeigt vor allem, dass Ironie und Humor, dass Stil­schwan­kungen und Gat­tungs­mi­schungen nicht nur dem ästhe­ti­schen Genuss dienen, son­dern eine kri­ti­sche Funk­tion mit Blick auf die ver­gan­gene und gegen­wär­tige, nach wie vor poli­ti­sierte Wirk­lich­keit erfüllen können. Wie andere Autoren der post­ju­go­sla­wi­schen Lite­ra­tur­szene, die sich den Kriegen der 1990er Jahre widmen, übt sich auch Arse­ni­jević nicht in Schuld­zu­wei­sungen, und er schürt kein Mit­leid mit den Opfern. Gerade diese Hal­tung aber ver­hin­dert, dass die Toten begraben und die Kriege ver­gessen sind. In Arse­ni­je­vićs Cloaca maxima ist es heiter und unbe­quem zugleich.

 

Cloaca Maxima I. U pot­palu­blju. Beograd: RAD 1994. (dt: Cloaca Maxima. Eine Sei­fen­oper. Berlin: Rowohlt 1996.)

Cloaca Maxima II. Anđela. Sapunska opera. Beograd: Stu­bovi kul­ture 1997, Beograd: Vreme 1997.

Mek­siko. Ratni dnevnik. Beograd: Rende 2000.

Wan­der­lust. (zusammen mit Los Arm­strings). Novi Sad: UrbaNS 2000.

Išmail (zusammen mit Alek­sandar Zograf). Zagreb: Profil 2004.

Lek­sikon YU mitolo­gije. (Her­aus­geber, zusammen mit Iris Andrić und Đorđe Matić). Zagreb: Post­scriptum 2004. (2. erwei­terte Auf­lage Beograd: Rende, Zagreb: Post­scriptum 2005.)

Pre­dator. Beograd: Sami­zdat B92 2008.

(Aus­züge:
– Neu­ko­ren­jenost. In: Švarc, Ričard (ed.): Drugi pored mene. Anto­lo­gija priča i eseja pisaca jugo­is­točne Evrope. Lazar­evac: Sami­zdat B92 2007. S. 22–39.
– Wur­zel­lo­sig­keit. In: Swartz, Richard (Hg.): Der andere nebenan. Eine Antho­logie aus dem Süd­osten Europas. Frank­furt a. M.: Fischer 2007. S. 25–46. (in kür­zerer Fas­sung und anderer deut­scher Über­set­zung auch ver­fügbar als mp3-Dokument)
– Nihil’s Dream. In: Index on Cen­sor­ship. Vol. 38. Nr. 3. 2009, pp. 153–167.)

Jugo­la­bo­ra­to­rija. Beograd: Biblio­teka XX vek 2009.