Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Zwi­schen Mythos und Rea­lität: A Tunnel von Nino Orjo­ni­kidze and Vano Arsenishvili

Die neue EcoEast-Sek­tion des Fes­ti­vals für ost­eu­ro­päi­schen Film in Cottbus 2022 ver­sam­melte acht geor­gi­sche Filme von der Stumm­filmära bis in die Gegen­wart. Das High­light der Sek­tion: eine Doku­men­ta­tion über den Bau einer Teil­strecke der Neuen Sei­den­straße mitten durch ein kleines Dorf im Cha­rag­auli-Tal. Der Film über ein Bau­pro­jekt, das China mit West­eu­ropa ver­binden soll, geriet zu einer Parabel über die Kon­fron­ta­tion zweier Welten.

 

Es ist Nacht, nur die Lichter des alten Bahn­hofs sind zu sehen, ein Signal ertönt, und aus der Dun­kel­heit der geor­gi­schen Berge nähert sich ein leuch­tender Zug der Sta­tion von Moliti. Schon in den ersten Minuten lässt der Film von Nino Orjo­ni­kidze und Vano Arse­nish­vili die Zuschau­enden in eine beson­dere Welt ein­tau­chen, die am besten mit dem Begriff des magi­schen Rea­lismus bezeichnet werden kann. Die reale Geschichte eines kleinen geor­gi­schen Dorfes, dessen Exis­tenz durch den Bau der Neuen Sei­den­straße aus China nach Europa gefährdet ist, wird zu einer mär­chen­haften Parabel über Men­schen, die von einer unbe­kannten Macht bedroht werden. „Die Teufel kommen“, ist einer der ersten Sätze, die man im Film hört.

 

Die Gen­re­bezeich­nung „Doku­men­tar­film“ ist im Fall von A Tunnel (2019) irre­füh­rend, weil die Rea­lität im Film nicht doku­men­tiert, son­dern im Gegen­teil ver­fremdet wird, sodass sich das Bekannte ins Irreale trans­for­miert. Die tech­ni­schen Geräu­sche der Bau­ar­beiten und der Eisen­bahn gehen in ein bedroh­li­ches Brüllen über, das an den Atem eines schla­fenden Unge­heuers erin­nert. Wie ein Mär­chen­held reitet der Bahn­hofs­vor­steher auf dem Pferd, statt ein Auto zu nutzen, und über­lebt auf wun­der­same Weise den Kampf mit einem Bären. Auch die Zeit läuft in Moliti anders – die Zeiger der alten Bahn­hofsuhr müssen immer von Hand bewegt werden, um die genaue Uhr­zeit anzu­zeigen. Durch die Linse der Kamera scheint Moliti ein Grenz­punkt nicht nur zwi­schen Europa und Asien, Land­leben und Tech­no­logie, son­dern auch zwi­schen Mythos und Rea­lität zu sein.

 

Par­allel zu dieser abge­schie­denen Welt ent­wi­ckelt sich eine fast irreale Welt der viel­ver­spre­chenden poli­ti­schen Reden, großen Geschäfte und gigan­ti­schen Infra­struk­tur­pro­jekte, die den Dorfbewohner_innen nur durch das Fern­sehen bekannt ist, zu der sie aber keinen Zugang haben. Der Zusam­men­prall unter­schied­li­cher Welten, der zu einem totalen Ver­sagen der Kom­mu­ni­ka­tion führt, ist das zen­trale Thema des Films. Diese Kol­li­sion wird noch dadurch unter­stri­chen, dass die Ver­än­de­rungen zusammen mit dem chi­ne­si­schen Sei­den­stra­ßen­pro­jekt nach Moliti kommen: Der Inter­es­sens­kon­flikt zwi­schen Dorf und Welt­wirt­schaft wird durch den Unter­schied von Kul­turen und Spra­chen noch ver­schärft. Chi­ne­si­sche Arbeiter kom­mu­ni­zieren nicht mit geor­gi­schen Arbei­tern, der ein­zige Über­setzer über­setzt nicht kor­rekt, die chi­ne­si­sche Ver­wal­tung ist nicht bereit, mit strei­kenden Arbei­tern Kom­pro­misse ein­zu­gehen, und die Beamten wei­gern sich, den Dorfbewohner_innen den genauen Ver­lauf der Bau­ar­beiten mit­zu­teilen. Über­ra­schen­der­weise erweist sich ein Pro­jekt zur trans­kon­ti­nen­talen Kon­takt­auf­nahme über Han­dels­wege als totaler Kommunikationsbruch.

 

Hier treten Dif­fe­renzen zu Tage, die sich kaum noch über­brü­cken lassen. Denn um Unter­schiede dia­lo­gisch zu bewäl­tigen, muss, so hat es einmal der sowje­ti­sche Kul­tur­se­mio­tiker Jurij Lotman for­mu­liert, sowohl ein Inter­esse der beiden Seiten an der Kom­mu­ni­ka­tion bestehen, als auch die Fähig­keit, die unver­meid­li­chen semio­ti­schen Bar­rieren zu über­winden. Jeder Dialog setzt eine inhä­rente Dif­fe­renz zwi­schen Spra­chen voraus, aber mit einer abso­luten Dif­fe­renz ist er unmög­lich. Im Fall von Moliti liegt diese Dif­fe­renz nicht an dem Unter­schied zwi­schen Geor­gisch und Chi­ne­sisch, son­dern an dem unüber­wind­baren Unter­schied zwi­schen der Sprache des Land­le­bens im Ein­klang mit der Umwelt und der Sprache des Anthro­po­zäns, das die glo­bale Neu­ord­nung dieser Umwelt anstrebt. Für die Organisator_innen eines so ehr­gei­zigen Pro­jekts sind die Dorfbewohner_innen, wie die Natur selbst, keine Gesprächspartner_innen, son­dern ein feind­li­ches Hin­dernis, das bewäl­tigt oder viel­leicht mehr noch: über­wäl­tigt sein muss, um Fort­schritt und die daraus resul­tie­renden Gewinne zu erzielen. In einer Rea­lität, in der die Ent­wick­lung des Kapi­ta­lismus die Ent­wick­lung demo­kra­ti­scher Insti­tu­tionen, welche die Rechte der Bewohner_innen schützen könnten, über­holt, bleiben die Men­schen ungeschützt.

 

Auch wenn aber eine kleine, lokale Gemein­schaft keine Macht hat, sich gegen glo­bale Ein­griffe in ihr Leben zu wehren, so besitzt doch die Natur diese Macht. Im Gegen­satz zum Pro­test der Men­schen ist es unmög­lich, ihren Wider­stand zu igno­rieren, der sich in der gefähr­li­chen Bewe­gung der Erde aus­drückt. Der Berg, durch den ein Eisen­bahn­tunnel führt, beginnt sich zu bewegen, Risse öffnen sich an seiner Ober­fläche, und mit den Erd­massen gerät auch das ambi­tio­nierte Bau­pro­jekt ins Rut­schen. Drei Jahre nach dem Erscheinen des Films ist der Bau des chi­ne­si­schen Eisen­bahn­tun­nels in Moliti immer noch nicht abge­schlossen. Der Film ist für eine prä­zise Dar­stel­lung der Ver­flech­tung von sozialen und öko­lo­gi­schen Pro­blemen sehenswert.